Es gibt keine bedingungslose Solidarität
Weil in Palästina und Israel die kriegerischen Auseinandersetzungen eskalieren, spitzen sich die Konflikte zwischen den »Pro-Israel«- und »Pro Palästina«-Lagern in der deutschen Linken weiter zu. Risse und Brüche ziehen sich durch politische Zusammenhänge, Gruppen, Wohngemeinschaften und Freundschaften. Vielerorts hat die Auseinandersetzung ein Niveau erreicht, das allenfalls als schauerhaft und jenseits jeglicher bis dato scheinbar noch verbindlicher Umgangsnormen innerhalb einer außerparlamentarischen, unabhängigen Linken bezeichnet werden kann.
Das zeigte sich auf diversen Demonstrationen, wo Selbstkritik an den Rand gedrängt oder ganz von den Veranstaltungen ausgeschlossen wurde. Der Wille, eine gegnerische Position auch unter Anwendung körperlicher Gewalt zu unterdrücken, wurde inzwischen mehrfach in die Tat umgesetzt. Wenn von beiden Seiten - wie in den letzten Monaten vielfach geschehen - zu »bedingungsloser Solidarität« aufgerufen wird und sich Identitäten geborgt werden, sollte die antifaschistische deutsche Linke in der Suche nach eigenen Positionen eine kritische Distanz zu solchen Standpunkten bewahren.
Es kann und soll in diesem Artikel nicht der Versuch gemacht werden, den Nahost-Konfilkt zu »erklären« oder gar mit »Lösungsvorschlägen« aufzuwarten. Viele AntifaschistInnen sehen sich jedoch momentan zwischen zwei aufgebrachten Lagern in einem fast nur noch militärisch ausgetragenen Konflikt. Eine differenzierte Position, die sich vor Kritik an beiden Parteien nicht scheut, hat keine Konjunktur. Und in einer Diskussion, die nur von wenigen bestimmt wird, sehen sich immer mehr AntifaschistInnen mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine eigene Position mit emanzipativen Inhalten zu erarbeiten, die unter keinen Umständen Antisemitismus, Ethnisierung und rassistischen Zuschreibungen Vorschub leisten soll.
Ein gewichtiger Grund für das derzeitige Schweigen vieler unabhängiger AntifaschistInnen ist beispielsweise, dass AntifaschistInnen in einer Zeit, in der Antisemiten aller Couleur Israel kritisieren, mit einer linken Kritik an der Politik der israelischen Regierung Antisemitismus nicht neue Nahrung geben wollen. Wir halten es angesichts dieser Situation für angebracht, von und für eine antifaschistische deutsche Linke, die sich eine internationalistische Perspektive erhalten will, ein paar Eckpunkte zu setzen, die Solidarität überhaupt erst ermöglichen. Wir wenden uns daher nicht an »die Israelis« oder »die Palästinenser«, sondern an die Linken in Deutschland, die sich hier engagieren. Wir gehen dabei davon aus, dass es richtig ist, eine eigene Position zu entwickeln, die jedoch die widersprüchliche Geschichte und Gegenwart der deutschen Linken und Deutschlands in Bezug auf Antisemitismus und den Staat Israel einbeziehen muss.
Eine tatsächliche, internationale Solidarität mit der marginalisierten Linken in Palästina und Israel muss sich an deren Politik vor Ort orientieren. Gerade deshalb ist die Frage, ob wir »Für Sharon« oder »Für Arafat« sind, falsch. Wenn sich die deutsche Linke in diese Logik zwingen lässt, hat sie schon verloren. Sie muss sich stattdessen aufmerksam auf die linken und fortschrittlichen Kräfte in Israel und Palästina beziehen, diese kennen lernen und den offenen und kritischen Dialog suchen. Einzelne Schritte auf diesem Weg, die schon gegangen wurden, können wir nur begrüßen. Folgende Thesen halten wir für die Basis unserer Arbeit und den Ausgangspunkt eigener Interventionen innerhalb linker Solidarität:
• Wir bejahen das Existenzrecht Israels und eines unabhängigen palästinensischen Staates. Es ist momentan keine andere territoriale Grundlage im Nahen Osten denkbar, die eine dauerhafte politische Lösung ermöglichen könnte. Ebenso scheint diese undenkbar ohne eine gerechte Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen und eine Stärkung zivilgesellschaftlicher, säkularer und demokratischer Strukturen im gesamten Nahen Osten.
• Das Existenzrecht beider Staaten anzuerkennen bedeutet nicht, dass wir uns für die Politik irgendeiner politischen Führung in Haftung nehmen lassen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch heute sind in beiden Lagern die Stimmen am lautesten, die jede Kritik an der israelischen bzw. palästinensischen Politik zurückweisen. Wir erkennen heute auf beiden Seiten eine Vormachtstellung der aggressiven politischen Positionen, die zu einer zunehmenden Militarisierung beider Gesellschaften führen. Israel ist ohne die Siedlungen in Palästina nicht in seiner Existenz bedroht, und die Existenz eines unabhängigen palästinensischen Staates hängt nicht von einem faktischen Rückkehrrecht ab.
• Wir lehnen jegliche Aktion oder gar Zusammenarbeit mit der extremen Rechten, den religiösen Fanatikern und den Kriegsparteien in Israel und Palästina ab. Es gibt keine Gemeinsamkeiten mit antiemanzipatorischen Kräften und auch keinen Burgfrieden oder gar zeitlich befristete Koalitionen. Das mag für viele in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden und Palästinenserinnen und Palästinenser anders aussehen. Eine bundesdeutsche Solidaritätsbewegung befindet sich jedoch nicht im Krieg.
• Angriffe gegen Jüdinnen und Juden oder deren religiöse Einrichtungen, wie sie seit Beginn der »Al Aksa-Intifada« in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern stattfinden, sind keine legitime Form der Kritik an Israel oder gar Widerstand gegen die Politik der israelischen Regierung, sondern als Antizionismus getarnter Antisemitismus. Wer die jüdische Gemeinschaft, egal in welchem Land der Erde, haftbar macht für die Politik der israelischen Regierung handelt nach einem völkisch-antisemitischen Konstrukt.
• Wir weisen als AntifaschistInnen in Deutschland die momentan kursierenden Diffamierungen des jeweiligen politischen Gegners als »Faschisten«, »Nazis«, »Hitler« und ähnliches scharf zurück. Diese Parolen stammen u.a. von der palästinensischen und irsraelischen extremen Rechten, die beide einen religiösen Fanatismus predigen. Sie sind sachlich falsch und entbehren jeglicher ernsthaften politischen Analyse. Diffamierungen dürfen - gerade in diesem Konflikt - nicht zum Repertoire linker Politik gehören.
• Das gleiche gilt für die Versuche, die Politik Israels als einen »Vernichtungskrieg« oder gar »Holocaust« an der palästinensischen Bevölkerung darzustellen. Im Unterschied zu anderen Diffamierungen wird hiermit in Deutschland - ob gezielt oder ungewollt - das Gefühl bedient, »die Juden« endlich bei einem Verbrechen erwischt zu haben, das die eigene Schuld relativiert. Das heißt nicht, dass die israelische Armee keine Kriegsverbrechen begeht; wenn deutsche Politiker wie Jürgen Möllemann (FDP) aber diese Argumentation benutzen, hat das wenig bis gar nichts mit der Situation im Nahen Osten, aber sehr viel mit bundesdeutscher Parteipolitik und dem bewussten Bedienen einer antisemitischen Haltung von rund 30 Prozent der deutschen Bevölkerung zu tun, die nach immer neuen Anlässen sucht, um ihre Antisemitismus zu legitimieren.
• Genauso wenig akzeptieren wir Versuche, mit dem Hinweis auf den Holocaust jegliche Kritik an Israels Politik wegzuwischen. Nicht zuletzt der Antisemitismus - und mit ihm der eliminatorische Antisemitismus - legitimiert den jüdischen Staat. Nicht mehr und nicht weniger. Er legitimiert jedoch nicht jede politische Vorgehensweise, weder Verbrechen an noch Diskriminierung von PalästinenserInnen. Eine der am weitesten verbreiteten antisemitischen Stereotypen ist die Bemerkung, wie »dieses Volk«, das doch »selber so viel gelitten hat«, »anderen Völkern so etwas antun« könne. Dies ist eine völlig a-historische Argumentation. Hier zeigt sich aber exemplarisch die Denkweise vieler Deutscher. Es gibt keine realistische Erfahrung für eine solche historische Entwicklung »eines Volkes« wie die explizit von »den Juden« erwartete; Geschichte funktioniert eben nicht wie die Erziehung im Vorschulkindergarten. Wenn ausgerechnet Deutsche derart argumentieren, wird es vollends absurd. Denn schließlich hat Deutschland nur zwei Jahrzehnte, nachdem es den Ersten Weltkrieg anzettelte, einen zweiten Weltkrieg begonnen. Die deutsche Bevölkerung hat sich beinahe ausnahmslos am Holocaust beteiligt, von ihm profitiert und ihn geduldet.
• Unter dem Deckmantel der Solidarität mit Palästina hat es in den vergangenen Wochen und Monaten in Deutschland bei einigen Anlässen wie beispielsweise bei einer »Friedensdemonstration« in Greifswald eine Duldung von extremen Rechten und Neonazis gegeben. Andernorts, wie in Berlin, konnten kleine Gruppen von Neonazis ungestört an Palästina-Solidaritätsdemos teilnehmen. Wir erwarten sowohl von deutschen als auch von palästinensischen Linken, dass gegen jegliche Duldung von extrem rechten Positionen und gegen jegliche Zusammenarbeit mit Neonazis und Vertretern der extremen Rechten entschlossen und unmissverständlich vorgegangen wird. Wir wissen, dass der eliminatorische Antisemitismus, der sich in unterschiedlichsten Facetten präsentiert - von NPD-Slogans gegen »Amerika / die Ostküste« über die Leugnung der Shoa bis hin zur direkter Befürwortung des Holocaust - Kernbestandteil der extrem rechten und neonazistischen Ideologie ist. Die Solidaritätsbekundungen der extremen Rechten mit dem »palästinensischen Befreiungskampf« haben de facto nur ein Ziel: Die physische Vernichtung aller Juden und Jüdinnen, angefangen bei den Israelis.
• Ein Primat bundesdeutscher Außenpolitik seit 1945 war die Anerkennung des Staates Israel, verbunden mit einer teilweisen »Entschädigung« für Opfer des Nationalsozialismus. Unabhängig davon, wieviel Kritik wir an der lückenhaften und verzögerten Entschädigung der vergessenen Opfergruppen haben, ist diese Anerkennung Israels völkerrechtlich immerhin die Anerkennung einer historischen Schuld, zumindestens gegenüber den in Israel lebenden Juden und Jüdinnen. Dass sich diese Existenzrechtsanerkennung in der bundesdeutschen Außenpolitik weder in der BRD noch in der DDR überhaupt nicht in der innenpolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung wiederspiegelte und wiederspiegelt, wissen wir als AntifaschistInnen. Als Linke in Deutschland - und damit im Land der TäterInnen - ist es unsere Verantwortung, diese Auseinandersetzung mit Nachdruck weiterhin zu führen. Dies ist angesichts der »Entsorgungs«- und Schlussstrichmentalität in weiten Teilen der Bevölkerung und in allen politischen Parteien heute notwendiger denn je.
• Immer wieder sehen wir uns in der Debatte mit einem sogenannten »Antizionismus« konfrontiert, der derzeit dafür herhalten soll, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Als AntifaschistInnen klare Positionen gegen Antizionismus zu beziehen, heisst nicht unbedingt pro-zionistisch zu sein oder gar die Siedlungen in der Westbank oder im Gaza-Streifen zu befürworten. Wir lehnen Antizionismus ab, weil er zum einen negiert, dass auch Zionismus lediglich die ideologische Basis zur Gründung eines Nationalstaates darstellte, darüber hinaus die linken Strömungen im Zionismus völlig außer Acht lässt und ihn alleine auf die reaktionäre »Erez Israel«-Position reduziert. Und weil Antizionismus faktisch von einem völkischen Konstrukt ausgeht. Aus einer klassischen regionalen Staats- und Machtpolitik wird hier eine spezielle »jüdische Verschwörung« und ein ganz besonders »perfider Imperialismus« gemacht. Dies ist keine neue Erscheinung. In den Staaten des Warschauer Pakts diente Antizionismus als Schleier für eine völkische, antisemitische Politik. Unter dem Deckmantel des Antizionismus und mit dessen Einführung als Staatsdoktrin wurden in den 50er Jahren in Polen, der Sowjetunion, der DDR und anderen Warschauer Pakt-Staaten WiderstandskämpferInnen, KommunistInnen und viele andere Juden und Jüdinnen inhaftiert, aus ihren Jobs und Ämtern »gesäubert« und oftmals in ihrer Existenz bedroht. Aber auch als Position in der deutschen Linken ist Antizionismus keine neue Erscheinung, sondern zieht sich durch die Politik der außerparlamentarischen Linken der 70er und 80er Jahre in der BRD. Einige linke AktivistInnen haben ihren Antizionismus von damals revidiert und haben, wie beispielsweise einige Revolutionäre Zellen, öffentlich Selbstkritik geäußert.
• Die Notwendigkeit, das Existenzrecht Israels zu sichern, schließt nicht aus, die Politik israelischer Regierungen solidarisch zu kritisieren. Für eine deutsche Linke müsste es dabei eigentlich selbstverständlich sein, dass eine derartige Kritik so differenziert und genau begründet wird, dass sie Antisemitismus keinen Vorschub leisten kann (und darf). Ebenso sollte die notwendige Kritik an der palästinensischen Autonomiebehörde auf anti-arabische und rassistische Stereotypen verzichten.
Festzuhalten bleibt, dass es für deutsche Linke keine Solidarität mit politischen Lagern in Deutschland, Israel oder Palästina geben kann, die sich einer »Blut und Boden« Ideologie verschrieben haben und mit ihrer Politik ausschließlich völkische, ethnische und rassistische Zuschreibungen fördern. Demgegenüber gilt unsere Solidarität denjenigen in Israel und Palästina, die beispielsweise durch binationale oder zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen an der Utopie festhalten, dass ein Zusammenleben in einer gleichberechtigten Gesellschaft möglich sein kann.