Europas Grenzpolitik: Migration verhindern um jeden Preis
Christian Jakob (Gastbeitrag)Als Ägyptens Militärmachthaber, der Foltergeneral Abdel Fattah al-Sisi (الفتاح سعيد حسين خليل السيسي) im November 2018 zu Besuch nach Berlin kam, stellte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sich bei der abschließenden Pressekonferenz neben ihn und sagte: „Wir haben darüber gesprochen, dass Ägypten seine Seegrenzen hervorragend sichert, sodass von Ägypten aus de facto keine Migration nach Europa stattfindet, obwohl sehr viele Flüchtlinge in Ägypten leben. Das ist uns große Anerkennung wert.” Und so wolle man Ägypten mit einem „nicht zweckgebundenen Finanzdarlehen in Höhe von 500 Millionen Euro” unterstützen.
Strategische und umfassende Partnerschaft mit der EU: Ägyptens Machthaber und Foltergeneral Al-Sisi.
Hunderte Millionen für den Flüchtlingsstop – dieser Maxime folgt die deutsche und europäische Nordafrika-Politik nun schon seit Jahren. Die Kriege und Fluchtbewegungen in Gaza und im Sudan haben Ägypten dabei ebenso ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wie der Umstand, dass 2024 auch ägyptische Staatsangehörige selbst die viertgrößte Gruppe bei den irregulären Einreisen in die EU über das zentrale Mittelmeer waren.
Im März 2024 reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Begleitung von sechs europäischen Staats- und Regierungschefs nach Kairo. Sie unterzeichneten eine Absichtserklärung über eine „strategische und umfassende Partnerschaft“. Darin ist vage die Rede von „migrationsbezogenen Programmen“, ganz ähnlich wie bei EU-Vereinbarungen mit anderen Transitländern. Das Besondere an dem Deal mit Ägypten aber war die enorme Summe, die die EU auf den Tisch legte. Bis 2027 soll Ägypten allein mehr erhalten, als jedes andere Land jemals als Anreiz im Rahmen eines einzigen Migrationsabkommens mit der EU bekam:
• 5 Milliarden Euro an vergünstigten Darlehen („makrofinanzielle Hilfe“)
• 1,8 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen
• 600 Millionen Euro „zusätzliche Zuschüsse“, darunter 200 Millionen Euro für die Migrationssteuerung
Ingesamt summiert sich dies auf 7,4 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Für den EU-Nothilfefonds für 28 afrikanische Staaten (EUTF), der ähnlichen Zwecken dient, hatte die EU über fünf Jahre insgesamt nur rund fünf Milliarden Euro hergegeben.
Es sei wichtig, zu verhindern, dass Russland und China noch mehr Einfluss in Ägypten gewinnen, sagte Manfred Weber (CSU), der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Fraktion, zu dem Abkommen. Russland baut derzeit Atomreaktoren in dem nordafrikanischen Land, und auch Peking versucht mit Investitionen in Milliardenhöhe seinen Einfluss zu stärken.
Im Dezember 2024 einigte sich das ägyptische Repräsentantenhaus dann auf ein neues Gesetz zur Regelung des Status von Geflüchteten im Land. Statt des UNHCR soll künftig ein direkt dem Premierminister unterstelltes Komitee alle Angelegenheiten allein regeln dürfen. 22 lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen lehnten das Gesetz in einer gemeinsamen Erklärung ab: Es sei „katastrophal und viele seiner Bestimmungen verstoßen gegen die Verfassung und internationale Verträge, die Ägypten bisher unterzeichnet hat“, sagte Nour Khalil von der Refugees Plattform in Ägypten der taz.
Anfang April 2025 veröffentlichte die EU-Kommission eine Liste mit sieben Ländern, die künftig als „sichere Herkunftsländer“ gelten sollen – darunter Ägypten. Die EU-Kommission selbst sprach bei der Gelegenheit mit Blick auf Länder wie Ägypten und Tunesien von „Herausforderungen“ bei der Wahrung der Grundrechte. Im April 2025 dann einigten sich Unterhändler des EU-Parlaments und der EU-Staaten auf die Auszahlung der Gelder für Kairo. Auflagen gibt es dabei für Ägypten keine. Forderungen der Grünen im EU-Parlament, die die Hilfe an Fortschritte bei den Menschenrechten und demokratischen Standards knüpfen wollten, wurden von Konservativen und Rechtsextremen überstimmt.
Noch katastrophaler als die Menschenrechtslage in Ägypten ist jene in Libyen. 2016 hatte die EU den sogenannten „Nothilfe Treuhandfonds für Afrika“ (EUTF) aufgelegt. Vor dem Eindruck der Flüchtlingsankünfte im Sommer 2015 sollte er erstmals im großen Stil Armutsbekämpfung, Migrationskontrolle und Sicherheits-Zusammenarbeit bündeln und dabei in Afrika die „Root Causes“, die Wurzeln irregulärer Migration, eindämmen.
Besonders kritisch ist, dass davon auch Libyen profitierte. Unvergessen ist, dass selbst deutsche Diplomaten die Zustände in den Flüchtlingslagern 2016 dort „KZ-ähnlich“ nannten. Gleichwohl flossen über 500 Millionen Euro – rund ein Zehntel der EUTF-Mittel – in das nordafrikanische Bürgerkriegsland. Menschenrechtsorganisation kritisieren das seit Jahren scharf, weil die in Libyen herrschenden Milizen schwerste Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen begehen. Auch der EU-Rechnungshof übte Ende 2024 Kritik an den EUTF-Projekten in Libyen: Er habe „eindeutige Hinweise“ darauf gefunden, dass eine Situationen eingetreten war, die zum Stopp der Projekte hätte führen müssen. Doch die Kommission lasse die Libyen-Projekte weiterlaufen, habe aber kein formelles Verfahren entwickelt, um dem Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, so der Rechnungshof. Es gebe „keine systematischen Nachweise darüber, dass entsprechende Vorwürfe ausreichend geprüft und bei der Entscheidung über die Fortführung oder Aussetzung der EU-Finanzierung berücksichtigt“ wurden.
Und so geht die Kooperation weiter: Im Januar wurde der libysche „General“ und „Polizeichef“ Najeem Osama Almasri nach einer Festnahme bei einem Fußballspiel in Turin nicht etwa dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag übergeben, der ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Kommandant des berüchtigten Folterlagers in Mitiga an der libyschen Küste sucht. Stattdessen flog die italienische Luftwaffe ihn in einem Falcon Jet zurück nach Tripolis, wo er seither unbehelligt seinen Geschäften weiter nachgehen kann. Die Regierung von Georgia Meloni setzt voll auf die Zusammenarbeit mit Libyen.
Kurz danach entdeckten Mitarbeiter der UN-Migrationsagentur IOM in dem Land zwei Massengräber mit mindestens 49 Leichen. Einige der Leichen hätten Schusswunden gehabt, so die IOM. Viel zu viele Migranten erlebten Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, sagte die Leiterin der IOM-Mission in Libyen, Nicoletta Giordano.
Anfang Mai 2025 trafen sich dann führende Vertreter des EU-Parlaments in Brüssel mit Vertretern der libyschen Regierung zu einem Dialog über die weitere Zusammenarbeit bei der Eindämmung der Migration.
Seit etwa 2022 hatten sich die Abreisen im zentralen Mittelmeer von Libyen nach Tunesien verlagert. Im Juli 2023 unterzeichneten die EU und Tunesien dann ein Abkommen, das Zahlungen von über 100 Millionen Euro vorsieht, um die tunesische Küstenwache und Grenzschutzbehörden zu stärken. Das Tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte schätzt, dass Tunesien daraufhin allein 2024 rund 80.000 Menschen auf See auf dem Weg nach Italien abgefangen und zurück nach Tunesien gebracht hat.
2024 wurden zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Migrantinnen und Migranten in der Wüste ausgesetzt wurden, ohne Wasser oder Nahrung. Einige berichteten, dass sie gezwungen wurden, ihren eigenen Urin zu trinken, um zu überleben.
Im Frühjahr 2025 gingen Polizei und Nationalgarde rund um die Hafenstadt Sfax gegen Camps und Lager von Geflüchteten vor. Die Aktion war Teil einer Mitte April gestarteten Kampagne gegen „illegale Migration“ aus Afrika nach Europa. An einem einzigen Wochenende wurden laut dem Innenministerium in privaten Olivenhainen Zelte von 7.000 aus Subsahara-Afrika kommenden Menschen mit Planierraupen und Baggern zerstört, wie die taz berichtete. Im Staatsfernsehen war zu sehen, wie die Siedlungen niedergebrannt wurden. „Sie haben uns nicht mal 24 Stunden Vorwarnung gegeben, sondern die Räumung am Abend vorher angekündigt und sind gleich am nächsten Tag im Morgengrauen gekommen“, berichtet Brahim K. aus Sierra Leone der Agentur EPD. Er sei um sein Leben gerannt, habe sich dann zwei Tage lang zu Fuß nach Sfax durchgeschlagen und im Durcheinander tagelang den Kontakt zu seiner Frau und dem jungen Sohn verloren.
Schon seit Februar 2023 hetzt der tunesische Präsident Kais Saied (قيس سعيد) gegen Migrant:innen aus dem subsaharischen Afrika. Er behauptete, es gebe einen „kriminellen Plan“, Tunesiens demografische Struktur durch illegale Migration zu verändern. In einer Rede sprach er von einer „Horde illegaler Migranten“, die angeblich Kriminalität und soziale Instabilität verursache. Eine Welle rassistischer Übergriffe auf Schwarze Migrant*innen und selbst auf afrikanisch-stämmige Tunesier*innen waren die Folge. Viele Betroffene verloren ihre Wohnungen, Jobs und wurden Opfer von Gewalt.
Anfang Juni 2025 dann beriet das Bundeskabinett in Berlin über einen Gesetzentwurf zur Einstufung von Staaten als sogenannte „sichere Herkunftsländer“ – unter anderem Tunesien.