Fiktion der Menschlichkeit
Nora Neumann (Gastbeitrag)Die EU-Innenminister*innen einigten sich kürzlich auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte den Deal „historisch“ und feiert eine „neue, solidarische Migrationspolitik“.
Rassismus und Appeasement in der EU-Politik
Solidarisch ist an diesem Deal lediglich der Verteilungsschlüssel für Geflüchtete in Europa, der diese anteilig auf alle Mitgliedsstaaten verteilen soll, um „Ersteinreiseländer“ zu entlasten. Wollen EU-Länder keine Geflüchteten aufnehmen, sollen sie 20.000 Euro pro Kopf zahlen. Damit hat das Leben Geflüchteter in Europa jetzt offiziell einen Preis. Doch selbst das geht Ländern wie Ungarn, Malta, Polen, Bulgarien und der Slowakei nicht weit genug. Sie weigern sich, Geflüchtete aufzunehmen oder Ausgleichszahlungen zu leisten.
Der „historische“ Deal scheint vorerst nur ein PR-Manöver zu sein, mit dem rechte Kräfte in Europa besänftigt werden sollen und mit dem Frau Faeser sich zu schmücken versucht. Ein Einschwenken der bisher kritischen Länder sowie eine Einigung mit dem EU-Parlament, welche für den Beschluss der Asylrechtsreform nötig ist, sind unwahrscheinlich. Die Einigung, auf die sich der Rat der Europäischen Union verständigt hat, würde umgesetzt ein erneuter massiver Einschnitt in die Rechte Geflüchteter und Verhöhnung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sein.
Außenlager, sichere Drittstaaten, Fiktion der Nichteinreise
Der Rat einigte sich darauf, Geflüchtete „ohne Bleibeperspektive“ zukünftig in Lagern an den EU-Außengrenzen einzusperren und zu screenen, um ein beschleunigtes Asylverfahren zu durchlaufen. Innerhalb von zwölf Wochen soll im sogenannten Grenzverfahren über Asylanträge entschieden werden, die Höchstdauer soll sechs Monate nicht überschreiten. Wer abgelehnt wird, muss zurück in sein Herkunftsland oder einen sicheren Drittstaat.
Geringe Bleibeperspektive haben laut der Einigung Menschen aus Ländern, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent haben. Dazu zählen etwa die Türkei, Tunesien, Indien, Albanien oder Serbien.
Würden alle Regeln der Einigung beachtet, würde nur ein Bruchteil aller Geflüchteter das beschleunigte Verfahren durchlaufen müssen. Dies setzt allerdings voraus, dass die EU-Staaten die Bleibeperspektive tatsächlich prüfen und die neuen Lager nicht als allgemeines Auffangbecken missbrauchen.
Die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens soll den jeweiligen Mitgliedsstaaten unterliegen. Wie gut das bereits jetzt funktioniert, sieht man am Weggucken der EU bei Pushbacks, unterlassener Hilfeleistung und Mord an den EU-Außengrenzen und auf der Balkanroute.
Absichtlich schwammig wurde auch die Regelung bezüglich sicherer Drittstaaten gefasst. Abgelehnte Asylsuchende sollen in Staaten abgeschoben werden, zu dem sie „eine Verbindung“ haben, etwa wenn sie dort eine Zeit lang gelebt haben oder über einen „sicheren Drittstaat“ wie Albanien oder Tunesien an die EU-Grenze geflohen sind. Was genau diese Verbindung aber bedeutet, obliegt den Mitgliedsstaaten und lädt zu Willkür und Missbrauch ein. Reicht die Durchreise? Was genau bedeutet „eine Zeit lang“ dort zu leben?
Um die schnelle Abschiebung möglichst vieler Menschen zu ermöglichen, soll auch die Liste der sicheren Drittstaaten ausgebaut werden. Damit soll eine Flucht nach Europa, ohne durch einen sicheren Drittstaat zu kommen, unmöglich gemacht werden. Laut der neuen Definition müssen sichere Drittstaaten die GFK nicht mehr unterzeichnet haben – lediglich müsse die Situation vor Ort in etwa den Standards der GFK entsprechen. Sollten Teile des Landes nicht sicher sein, kann es trotzdem als sicherer Drittstaat gelten, ausgenommen der unsicheren Gebiete.
Die tatsächliche Bereitschaft dieser Drittstaaten, Abgeschobene aufzunehmen, scheint fraglich, da selbst das Dublin-Verfahren meist nur Verwaltungsaufwand und Kosten generiert, aber die Abschiebung von Geflüchteten in das Ersteinreiseland in der EU selten funktioniert.
„Team Europe“, wie es Ursula von der Leyen nannte, traf sich deshalb betont gut gelaunt mit dem tunesischen Autokraten Kais Saied, dessen Sicherheitskräfte Geflüchtete misshandeln und verschleppen, um eine knappe Milliarde Euro für eine engere Zusammenarbeit zu bieten. Gemessen am EU-Preis für Geflüchtete, wären das etwa 50 000 Menschen, die die EU an Tunesien verkauft. Ähnliche Deals mit Marokko und Algerien werden folgen, um die sogenannten Maghreb-Staaten mit ihren autokratischen Herrschern endlich als sichere Drittländer deklarieren zu können.
Ein wesentlicher Punkt der Asylreform ist ein legalistisches Konstrukt: Für Geflüchtete in den Grenzlagern soll, wie in Transitzonen an Flughäfen, das Prinzip der „Fiktion der Nichteinreise“ greifen. Es wird so getan, als hätten Geflüchtete nicht europäischen Boden betreten – selbst, wenn sie es in einem Mitgliedsstaat geschafft haben. Innerhalb der EU ist dann der Einreisestaat für das Asylverfahren zuständig. An den Außengrenzen werden Asylsuchende ohne Prüfung der Asylgründe zurückgewiesen. Damit werden Pushbacks offiziell legalisiert, das Asylrecht quasi abgeschafft und die GFK mit Füßen getreten.
Krisenverordnung
Eine geplante „Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung“ wurde vorerst im Rat überstimmt. Diese Krisenverordnung hätte die Haftdauer für Geflüchtete, auch Kinder, verlängert, sowie die Asylrechte Geflüchteter weiter massiv aufgeweicht. Dagegen gestimmt haben Polen, Ungarn, Österreich und Tschechien, denen die geplanten Ausnahmevorschriften nicht weit genug gingen.
Die Verordnung sah vor, dass bei „Instrumentalisierung“ Geflüchteter, wie kürzlich an der Grenze von Belarus und Polen, betroffene Mitgliedsstaaten alle Asylsuchende in Lager bringen und das neue Grenzverfahren anwenden dürfen sollen. Auch sollen die Unterbringungsstandards während der „Krise“ nicht gelten, nur absolut minimale Bedürfnisse sollen erfüllt werden müssen. Im Falle einer Krise oder höherer Gewalt soll die Registrierung von Asylsuchenden bis zu vier Wochen dauern dürfen – ein offenes Tor für Pushbacks, da Geflüchtete keinen Nachweis über einen Asylantrag bekommen. Im September steht die Krisenverordnung wahrscheinlich erneut auf der Tagesordnung.
Hochmut kommt vor dem Fall
Mit ihrer Zustimmung zur Änderung des GEAS hat Faeser das Gegenteil davon vertreten, was im Koalitionsvertrag ausgehandelt wurde. Sie hat sich darüber hinaus mit keiner von ihr vorgeschlagenen Erleichterung für Geflüchtete durchsetzen können. Um eine Einigung zu erreichen, war sie bereit, einen reinen Transitaufenthalt in einem Drittstaat als Voraussetzung für eine Abschiebung in Kauf zu nehmen. Auch die von ihr vorgeschlagenen Ausnahmen vom Grenzverfahren für Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personen sind vom Tisch.
Dennoch bejubelt Faeser die „historische Einigung“ und faselt irgendetwas von Solidarität. Im Wahlkampfmodus versuchte sie zwei Monate nach ihrem vermeintlichen Asylreformerfolg den EU-Asyldeal noch in den Schatten zu stellen mit einem „Diskussionsentwurf zur Verbesserung der Rückführung“. Unter anderem möchte Faeser Behörden erlauben, auch Zimmer anderer Bewohner*innen einer Sammelunterkunft zu betreten. Der Ausreisegewahrsam soll auf maximal 28 statt zehn Tage erhöht werden. Doch der Paukenschlag ist, dass künftig Menschen ihren Aufenthaltstitel verlieren sollen und somit abgeschoben werden können, die einer kriminellen Vereinigung angehören oder angehört haben – auch ohne strafrechtliche Verurteilung. Damit zielt sie auf Mitglieder sogenannter „Clans“ ab, die sie schon länger abschieben möchte, obwohl die meisten bereits seit Geburt oder durch Einbürgerung deutsche Staatsbürger sind.
Rechte Politik hilft nur den Rechten
In Thüringen stimmen CDU und FDP erstmals gemeinsam mit der AfD ab. An den Grenzen sollen nun Lager geschaffen werden, die das Elendslager Moria als Vorbild haben. Mit immer härteren Maßnahmen versuchen Politiker*innen in der EU den erstarkenden Rechten und Rechtsextremen den Rang abzulaufen und übersehen dabei völlig, dass sie mit rechter Politik nur den Rechten helfen.
Während die Regierungen in der EU und Deutschland den Rassisten den Hof machen, ertrinken seit Anfang des Jahres bis zum 16. August 2023 2.096 Menschen auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer. 71 Prozent der Menschen, deren Asylgründe vom BAMF geprüft werden, erhalten Schutz in Deutschland, wo über die Hälfte von knapp 250.000 Menschen mit Duldung seit über fünf Jahren in Deutschland leben. Dennoch wird über „Abschieberückstau“ und „Fluchtanreize“ gesprochen.
Es braucht kein Appeasement für Rassisten, keine Deals mit Autokraten. Es braucht eine funktionierende Seenotrettung; eine geregelte, die GFK würdigende Einwanderungspolitik und den Willen, Menschen nicht stumpf an der Grenze abschrecken zu wollen, sondern Geflüchtete endlich Fuß fassen zu lassen in den Ländern, in die sie fliehen und in denen sie seit Jahren leben. Es braucht Integration statt Lagerhaft; Seenotrettung statt Pushbacks; Politik für Menschen und nicht gegen sie.