Lebenslänglich für Antifaschisten
Am 18. Mai 1992 endete in Hamburg ein mehrmonatiger Prozeß gegen zwei ehemalige DDR-Rentner. Sie waren angeklagt, 1947, in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager, den Staabsoffizier und Wehrmachtsrichter Erich Kallmerten umgebracht zu haben. Beide Angeklagten gehörten zu jener Zeit dem „Antifa-Kommitee“ des Lagers an. Karl Kielhorn wurde freigesprochen, Gerhard Bögelein, 45 Jahre nach den Ereignissen, zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Urteilsverkündung wurde auf Beschluß des Gerichts in einen Saal verlegt, der mit Panzerglas und Mikrofonanlage ausgestattet ist. Zusätzlich eine knappe Hundertschaft Bereitschaftspolizisten sollten mögliche Unmutsäußerungen der zahlreichen ProzeßbeobachterInnen verhindern.
»Verblüffend war, mit welcher Sicherheit die Kammer über Vorgänge urteilte, für die es zwar keine Zeugen gab, die aber fast ein halbes Jahrhundert zurückliegen. In der Schilderung der dürftigen Indizienkette fehlte die Beantwortung naheliegender Fragen, etwa wann und wo beispielsweise die Planung der Tat erfolgte. Die Kammer wusste auch nicht, wer der Initiator war. Und woher das Tatwerkzeug, ein Messer kam, blieb nicht nur den drei Berufs- und zwei Laienrichtern "unklar". Doch den Tatablauf konnten die Richter präzise schildern, obwohl es "unmittelbare Tatzeugen nicht gibt". Eine fehlende Untersuchung der Leiche ersetzten die Juristen durch Phantasie: „Kallmerten bekam mindestens drei wuchtige Schläge auf den Hinterkopf“.«1
Das Urteil zeigt anschaulich ein Stück deutscher Geschichte und die unheilvolle Rolle, die die Justiz darin spielt.
Das Wüten der deutschen Wehrmacht im Baltikum
Kehren wir deshalb in die Zeit zurück, in der die Tat - von der bundesdeutschen Justiz als Verbrechen verfolgt - verübt wurde. Sowohl die beiden Angeklagten als auch ihr angebliches Opfer gehörten der Kurlandarmee an. Nur die einen als einfache Soldaten mit antifaschistischer Einstellung, der andere (das »Opfer«) als Stabsoffizier und Richter der Wehrmacht. Die Kurlandarmee - sie bestand aus 80.000 bis 100.000 Soldaten - war zuständig für das Baltikum. Sie zeichnete sich aus durch ihre besondere Härte und Brutalität, durch ihre Perfektion bei der Vernichtung von PartisanInnen und Zivilbevölkerung. Den deutschen Einmarsch in die lettische Hauptstadt Vilna im Juli 1941 haben von 60.000 Juden 59.000 nicht überlebt. Opfer der deutschen Wehrmachtsjustiz wurden nicht nur einheimische ZivilistInnen (Juden, Letten, Litauer) und PartisanInnen, sondern gegen Ende des Krieges zunehmend auch deutsche Soldaten, die aus persönlichen, moralischen oder politischen Gründen versuchten sich dem Einsatz zu entziehen. Wurden sie gefasst, so war ihnen das Todesurteil sicher. Der Wehrmachtsrichter Kallmerten war an führender Position dieser Todesmaschinerie tätig.
»Er verurteilte in seiner Zeit als Feldgerichtsrat, später Oberstabsrichter, also von seiner Berufung am 17. März 1943 bis zur Kapitulation der deutschen Truppen am 8. Mai 1945, eine wohl dreistellige Zahl von Menschen zum Tode. (…) Während die westlichen Alliierten während des gesamten Krieges etwa 300 Todesurteile vollstreckten, kamen in der Todesmaschinerie der deutschen Kriegsjustiz alleine 20.000 deutsche Soldaten um.« 1
Die beiden angeklagten Antifaschisten in der Kurlandarmee
Einer, dem dieses Schicksal bestimmt schien, war der angeklagte und verurteilte Bögelein. 1944 lief er zu den sowjetischen Truppen über. Er wird in die Rote Armee aufgenommen und in deutscher Uniform als Kundschafter hinter die Front geschickt. Von der Wehrmacht gefasst und zum Tode verurteilt kann er fliehen und erneut zur Roten Armee überwechseln. Der zweite Angklagte, Karl Kielhorn, wird am 4. Juni 1940 verhaftet. Er hatte sich in einer Diskussion kritisch zum Krieg, zu seinen Gründen und seiner möglichen Dauer geäußert. In Hamburg sitzt er in Untersuchungshaft, 100 Meter entfernt von dem Saal, in dem 52 Jahre später erneut ein Prozess gegen ihn eröffnet werden wird. Karl Kielhorn wird zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, später zur Bewährung eingezogen und an die Ostfront geschickt. So verschlägt ihn das Schicksal in die Kurlandarmee.
Das Leben im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Klaipeda
Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 geraten große Teile der Kurlandarmee ("Heeresgruppe Kurland") in Kriegsgefangenschaft. 4.000 Soldaten und Offiziere werden in dem Lager Nr. 57 in Klaipeda untergebracht, darunter auch Gerhard Bögelein, Karl Kielhorn und Erich Kallmerten. Während die Sowjetische Armee die Bewachung und Sicherung des Lagers übernimmt, bleibt die innere Ordnung den deutschen Kriegsgefangenen überlassen. Zu diesem Zweck wird die alte Hierarchie, die Weisungsbefugnis der Offiziersränge beibehalten. So führen auch in Klaipeda die Herren der deutschen Wehrmacht weiter das Kommando. Sie brauchen z.B. nicht zu arbeiten und erhalten bessere Verpflegung.
»...In der ersten Zeit standen sie unter der Leitung deutscher Offiziere bei gleichzeitiger sowjetischer Bewachung ... Das war in fast allen Lagern so, aus meiner Kenntnis in 95%. Das waren wahrscheinlich praktische Gesichtspunkte der Sowjets. Ja, natürlich. Wem hat denn die Masse der Soldaten gehorcht? Ihren ehemaligen Spießen, Kommandeuren und Hauptleuten. Es gab noch Befehlsstrukturen und Knechtseligkeit. Das hat sich in der ersten Zeit darin wiedergespiegelt, daß die Offiziere auch dort das Sagen hatten. Der erste Lagerkommandant war Oberst Adam, der hatte sich seine Leute ausgesucht, Majore, Hauptleute und noch einen Oberst, die die verschiedenen Kommandos geführt haben. Dies bezieht sich auf die Zeit des Aufbaus des Lagers und des Übergangs, um draußen zu arbeiten. Das alles mußte schnell gehen, denn wir kamen im August und das Lager mußte winterfest für 4.000 Kriegsgefangene werden. ... Es gibt die Genfer Konvention, die ist auch von der Sowjetunion akzeptiert, dort ist der Sonderstatus für Kriegsgefangene Offiziere festgeschrieben.« 2
Die Antifa im Lager Klaipeda
Wie im besetzten Deutschland, so entstehen auch unter den deutschen Kriegsgefangenen rasch die ersten selbstständigen Ansätze einer antifaschistischen Organisierung. Es finden sich ehemalige KPD-Mitglieder, Sozialdemokraten und junge Soldaten, denen der Zusammenbruch erstmals die Augen geöffnet hat, zusammen.
»... Die erste antifaschistische Arbeit entzündete sich nicht an dem Gegensatz zu den Offizieren. Viel wichtiger war, daß sich in dem Lager auch Menschen trafen, die die ganze Härte des Faschismus am eigenen Leibe gespürt hatten, nicht nur als Soldaten, die waren alle mehr oder weniger Kanonenfutter. Da gab es den ehemaligen Reichstagsabgeordneten Willi Agatz (Mitglied der KPD), der durch das Bewährungsbataillon in Kriegsgefangenschaft kam. Er kam nach kurzer Zeit im Lager zurück nach Deutschland, übernahm dort Funktionen in der Gewerkschaft Bergbau und war Landtagsabgeordneter. Er ist leider frühzeitig gestorben, da er schon ziemlich ausgezehrt und krank war. Dieser Mann hat eine Gruppe von Antifaschisten um sich gesammelt, die aus den unterschiedlichsten Gründen zu Antifaschisten geworden sind. Die haben sich dann verständigt, wie man dort als Deutsche, gegenüber der Schuld, die Hitler-Deutschland auf sich geladen hat, etwas unternehmen könnte. Die Kriegsgefangenen sollten aus ihrer Lethargie aufwachen und beginnen, nachzudenken. Aber es ging auch darum, der Wiederaufbauarbeit in der Sowjetunion, also speziell in Klaipeda, den moralischen und den ideologischen Halt zu geben. Es ging darum aufzuzeigen, was jeder Soldat mehr oder weniger selbst erlebt hatte, welche Verbrechen das Hitlerregime auf sich geladen hat. Was ist während des Krieges überhaupt alles passiert? Welche Städte und Dörfer sind dem Erdboden gleichgemacht worden? Welches Elend haben wir gesehen? Diese Tausende, Hunderttausende, Millionen von Toten kann man doch nicht so einfach vergessen, man kann auch nicht sagen, das ist vom Himmel gefallen, denn Hitler hat angegriffen. Daß wir in Kriegsgefangenschaft saßen, war nichts anderes als ein Ausdruck für die Überlegenheit der Sowjetmacht über den Hitlerfaschismus. So muß man das ja erst mal werten. (…) Die Gruppe war sehr klein. Der Wissensstand war anfangs sehr gering. Wir mußten erst einmal selbst lernen. Das war auch mein Weg. ... Die Antifa im Lager war keine Partei mit fester Fügung, sondern eher eine Bewegung. Wenn die Antifa aufrief, den Sportplatz im Lager zu planieren, dann kamen welche und waren anschließend froh und stolz, daß wir einen herrlichen Fußballplatz gehabt haben. ... Wir haben mal eine Ausstellung der Wiedergutmachung vorbereitet. ... Jeder der konnte, hat etwas produziert, über 2.000 bis 3.000 einzelne Artikel. Dann wurden die sowjetischen Freunde mit ihren Familien eingeladen und wir haben ihnen die Sachen geschenkt. Die waren ganz gerührt. Die Antifa war eine gewählte Leitung, die haben wir von der ersten größeren Versammlung bestätigen lassen. Der erste Leiter der Antifa war Willi Agatz, dann der Genosse Martin Heyne, dann Karl Hörn und dann Karl Kielhorn.« 2
Die Auseinandersetzungen mit den Offizieren
Die Antifa beschränkt sich nicht auf kulturelle und politische Schulung und Aktivitäten. Eines ihrer praktischen Ziele ist die Ablösung der alten Lagerleitung und ihre Übernahme durch die Antifa, sowie die Beseitigung der Offiziersprivilegien. Lassen wir noch einmal Karl Kielhorn zu Wort kommen:
»Wir hatten zwei größere Auseinandersetzungen mit den Offizieren. Die erste war in der zweiten Hälfte des Jahres 1946. Damals wollten wir, daß sie arbeiten wie alle Kriegsgefangenen und daß sie die Kommandos aus der Hand geben. Bei der zweiten Aktion, Pfingsten 1947, ging es um die Frage: Können wir noch gestatten, daß sie ihre Offiziers Privilegien behalten und uns weiter provozieren. ... Über 1.000 Kriegsgefangene sind am Appellplatz angetreten, Karl Horn, der seinerzeitige Antifa-Leiter, hat eine Rede gehalten, auch mit der nötigen Leidenschaftlichkeit. Er sagte, wir sind stark genug geworden, um selbst unsere Arbeit in die Hand zu nehmen.... Wir haben also gesagt: jetzt lösen wir die Leitung ab. Dann wurde festgestellt, ob die Anwesenden einverstanden waren. Es gab Zustimmung. ... Die Offiziere waren zwar entmachtet, aber der größte Teil stolzierte nach wie vor mit Ledermänteln, mit Breecheshosen und Schaftstiefeln durchs Lager, voll in ihrer Haarpracht. Wir anderen sahen doch wirklich aus wie die geschorenen Karnickel – mit Recht, weil die Gefahr von Infektionen bestand. ... Ein Trupp von 20 Antifaschisten ist an einem der Pfingsttage in die Offiziersbaracke gegangen. Viele vom Lagert haben draußen ein Gasse gebildet und dann mußten sie durch diese Gasse runter in den Badekeller gehen. Wir haben gesagt, aus hygienischen Gründen müssen ihnen die Haare geschnitten werden. ... Es gab von Seiten der Mannschaftsgrade in diesem Zusammenhang keine Sympathie für die Offiziere. Die waren überzeugt, daß das eine korrekte Geschichte war. Viele Offiziere haben uns mit ihrer Überheblichkeit zu sehr provoziert, die sie unabhängig von ihren Privilegien an den Tag legten. … Dort (in der Offiziersbaracke, die Red.) wurde das Tagebuch vom ehemaligen Oberstabsrichter Kallmerten gefunden, in dem er 176 Todesurteile, für die er verantwortlich war, verzeichnet hatte.... Als bekannt wurde, was in den Tagebüchern stand, war der Zorn riesengroß. Karl Horn hat auf der Bestarbeiterversammlung seitenweise aus dem Tagebuch vorgelesen. … Den ganzen Zynismus, der da drinsteckte. Dort war in den einzelnen Tageseintragungen aufgelistet, wie viele er zum Tode verurteilt hatte. Wie viele Letten, wie viele Litauer... und zwischendurch war er mit dem General zur Hasenjagd, dann hat er Fasan gegessen, dann hat er die Lilo getroffen, mit der war es dann sehr nett und so weiter. In ähnlichem Stil hat er auch seine Briefe nach Hause geschrieben. Daß der General sich gesonnt hat und an Führers Geburtstag jeder Offizier eine Flasche Wein bekommen hat und zwischendurch stand: heute früh mußte ich leider einen zum Tode verurteilen.« 2
Am 4. Juli 1947 wird der Wehrmachtsrichter Erich Kallmerten von Mitgliedern der Antifa zu seinen Tagebüchern verhört. Nachdem er ein schriftliches Geständnis abgelegt hat (es lag dem Gericht in Hamburg vor), wird er durch Schläge auf den Hinterkopf umgebracht. Am folgenden Tag, während eines Appells, verurteilt der zuständige Kommandant der Roten Armee die Selbstjustiz. Er weist darauf hin, daß die sowjetische Gerichtsbarkeit für die Ahndung von Kriegsverbrechen zuständig sei. Für den Tod Kallmertens werden Gerhard Bögelein und Klaus Weniger von einem sowjetischen Kriegsgericht zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt.
»Aber in Anbetracht dessen, daß Bögelein und Weniger ... nicht aus Eigennutz, sondern aus Haß gegen den Faschismus und gegen Kallmerten persönlich (wegen seiner Greueltaten während seiner Amtszeit als Divisionsrichter der Deutschen Wehrmacht) getötet hatten, ist die Strafe zur Bewährung auszusetzen.« erklärte das damalige sowjetische Gericht in seiner Urteilsbegründung.
Damit hätte die Geschichte des Blutrichters Kallmerten ihr endgültiges Ende finden können, gäbe es nicht die bundesdeutsche Justiz mit ihren reaktionären Traditionen und politischen Zielsetzungen.
Die Mühlen der bundesdeutschen Justiz
1951 wird der Fall Kallmerten von einem deutschen Gericht erneut aufgegriffen, jedoch nicht zur Aufarbeitung der NS-Justiz. Die Opfer und Leidtragenden der ehemaligen Nazi-Richter werden zu Objekten der Ermittlungen und der Anklage, sie werden mit Hilfe des Falles Kallmerten zu Kriminellen und Mördern gestempelt. 1952 wird nach langen und intensiven Vorermittlungen der Prozeß gegen einen „Mittäter“ Heinz Berkemann eröffnet. Berkemann, der sich in seinen Aussagen vor Gericht als »deutscher Patriot« verkauft, wird freigesprochen. Doch während der Vorermittlungen und beim Prozeß werden zwei in der DDR lebende Antifaschisten (Bögelein und Kielhorn) belastet und denunziert. Gegen sie wird 1951 Haftbefehl erlassen.
Das Verfahren fällt in die Zeit des Kalten Krieges und zunehmender antikommunistischer Hetze in der BRD. Politischen Initiativen und Organisationen, die die Restaurierung kapitalistischer Verhältnisse, die Westintegration und Wiederaufrüstung bekämpfen, werden auch juristisch verfolgt. Die Sowjetunion, die die Hauptlast bei der Zerschlagung des Nationalsozialismus zu tragen hatte, ist längst zum Hauptfeind des Westens und der BRD geworden. Die DDR und Teile Polens sind nach den Auffassungen bundesdeutscher Politiker rechtlich eigentlich Bestandteile der BRD. »Dreigeteilt, niemals« lautete der offizielle Slogan aller Bundesparteien, mit Ausnahme der KPD, die 1956 verboten wird. Diesen politischen Zielsetzungen ordnet sich auch die bundesdeutsche Justiz bereitwillig unter:
»Wenn somit der Mord an dem Stabsrichter auch nicht gesühnt werden konnte, da die Haupttäter (FN: Gemeint sind Bögelein und Kielhorn, die Red.) sich jenseits der Grenze der Bundesrepublik Deutschland befinden, so hat die Strafgerichtsverhandlung doch wenigstens ein Ergebnis gezeitigt: Durch die Aufdeckung der Hintergründe ist ein System gebrandmarkt, das durch Unduldsamkeit, skrupellose Hetze, durch Verleumdung und durch Terror dieses ruchlose Verbrechen vorbereitet und ermöglicht hat.« 3
Die Nazi-Vergangenheit der BRD-Justiz
1951/52 saßen in der BRD viele der ehemaligen Juristen des »braunen Reiches« bereits wieder auf ihren angestammten Plätzen, als Staatsanwälte und Richter. Einer von ihnen war Landgerichtsdirektor Kurt Steckel, der 1951/52 den Vorsitz im Fall Kallmerten führte. Seine Biographie mag stellvertretend stehen für viele „Blut-Richter,“ die nach 1948 in der bundesdeutschen Justiz ihre Karriere fortsetzen konnten.
Steckel, Jahrgang 1901, schließt sich 1919 als Freiwilliger der »Schwarzen Reichswehr« an, die nach der militärischen Niederlage des deutschen Imperialismus 1918 die aufflammende sozialistische Revolution bekämpft. Später wird er Mitglied eines Freikorps. Die Freikorps werden bis 1923 gegen Arbeiteraufstände eingesetzt. 10.000 ArbeiterInnen, die Führer des Spartakusbundes und der KPD, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, fallen in diesen Jahren dem Wüten von Reichswehr, Schwarzer Reichswehr und Freikorps zum Opfer.
Nach einem Bericht der Zeitschrift „Der Spiegel“ wurde Steckel später Mitglied der NSDAP und beim "Volksgerichtshof" tätig. Als Jurist kann Steckel während der Nazi-Herrschaft die Waffen ablegen und sein politisches Handwerk vom Sessel eines Staatsanwaltes weiter betreiben. Er wird Chefankläger in Kaliningrad (dem damaligen Königsberg) und noch im März 1945 an den »Volksgerichtshof« nach Potsdam berufen. Bereits 1947 bewirbt sich Steckel in Hamburg erfolgreich zum Richter auf Lebenszeit. 1963 äußerte er als Landgerichtsdirektor und Prozeß-Vorsitzender laut „Der Spiegel“ ganz offen: "Damals (1946) waren ja auch die meisten guten Kriminalbeamten rausgeschmissen durch die Entnazifizierung." Der „Spiegel“ stellte dazu fest: »Man hätte ihm auf die Spur kommen können. Denn am 17. Oktober 1947 hatte er an das Oberlandesgericht geschrieben im Zuge seiner Mühe, Landgerichtsrat und Richter auf Lebenszeit zu werden. "Bis zum 23. März 1945 habe ich bei der Reichsanwaltschaft in Potsdam Dienst getan..." Es ging um die Berechnung des Dienstalters.«4
Die Ermittlungen des Landgerichtsrats Steckel
Bei den Ermittlungen und beim Prozeß zum Tode Kallmertens 1951/52 treffen die politischen Interessen der Herrschenden, denen Steckel zeitlebens zu Diensten stand, zusammen mit den persönlichen Ambitionen des Hamburger Landgerichtsrates. Das gesellschaftliche Klima, die politischen Zielsetzungen der bundesdeutschen Parteien bilden das Umfeld, auf dem Steckel weiterwirken kann. Entsprechend fallen die Ermittlungen aus.
»Dabei hatte sein Tun Anfang der fünfziger Jahre fast manische Züge angenommen. Die teilweise mehrmalige Vernehmung von bald 275 Zeugen quer durch die Republik sprengt jeden Rahmen eines normalen Straf-, auch eines Mordverfahrens. Das läßt sich kaum anders als mit Rachegelüsten erklären. Steckels offensichtliches Gefühl einer Verbundenheit mit dem Berufskollegen war nicht zufällig. Denn auch Steckel war als Sonderrichter in Königsberg und bei der Rechtsanwaltschaft am Volksgerichtshof tief in die mörderische Justiz des NS-Staates verstrickt.«1
Alte Kameradschaftsbünde der deutschen Wehrmacht, Offizierskollegen von Kallmerten werden von Steckel ausfindig gemacht, um im Prozeß gegen Berkemann, Bögelein und Kielhorn auszusagen. Karl Kielhorn in seinem Interview mit dem ak: »Ich will da mal ein paar Namen und Urteile nennen, von Leuten, die von der sowjetischen Gerichtsbarkeit verurteilt wurden und später als Zeugen gegen Bögelein und mich auftraten: Dr. Andersen, der war Oberleutnant, hat wegen Partisanenbekämpfung 25 Jahre gekriegt. Dr. Dresel, Josef, Oberst, war der anfängliche Leiter vom Eisenbahnlager in Klaipeda, 25 Jahre. Allein 24 wegen Kriegsverbrechen Verurteilte
unter den Prozess-Zeugen. Da waren auch welche mit Todesurteil dabei, die dann begnadigt worden sind. ...Man hätte ihn5
nachdem sein Tagebuch aufgefunden worden ist, aufgrund seines Geständnisses ordnungsgemäß festgenommen, ins Gefängnis gesteckt und ihm den Prozeß gemacht. Er hätte mit Sicherheit ein Todesurteil bekommen.«2
AntifaschistInnen, die als Zeugen von Steckel 1951/52 vernommen werden, fühlen sich in die Vergangenheit zurückversetzt. »Bin ich denn hier bei Freisler?", empörte sich einer. Und 1992 sagt Dr. Kohmann über die Vernehmung durch Steckel: »Als ich dem gesagt habe, ich sei immer noch Antifaschist, war der unzufrieden mit mir.«
Bundesdeutsche Justiz 1992
40 Jahre später kann das Hamburger Landgericht vollenden, was seinem ehemaligen Mitglied, Landgerichtsrat Kurt Steckel, versagt blieb. Mit der Einverleibung der DDR ist das letzte Hindernis gefallen. Nach der Vereinigung werden Gerhard Bögelein und Karl Kielhorn verhaftet. »Ich konnte später nie in den Westen fahren, ich mußte damit rechnen zur Fahndung ausgeschrieben zu sein. Dann, nach der Annexion der DDR, war alles offen, da mußte ich damit rechnen, daß man auf mich zukommt. ...Und dann kamen sie wirklich hier an und brachten den Schutzhaftbefehl von 1952 mit.«2
Gerhard Bögelein sitzt seitdem in Untersuchungshaft, Karl Kielhorn wird auf Kaution freigelassen. Ende 1991 wird der Prozeß eröffnet, obwohl es keine neuen Zeugen und Erkenntnisse gibt. Im Gegenteil, die Zeitspanne von 45 Jahren muß die Prozeßführung noch schwieriger gestalten. Das aber kann den ermittelnden Oberstaatsanwalt Harald Duhn nicht bremsen. Er war Referendar bei Landgerichtsrat Steckel. In seiner Anklageschrift vom 8. Mai 1991 schreibt er, daß es in Klaipeda »eine "antifaschistische", d.h. kommunistische Agitations- und Aktionsorganisation« gab. »Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß unter den Urteilen des Kallmerten auch nationalsozialistisch ausgerichtete Terrorurteile ... gewesen sind, gibt es nicht. Vielmehr sind entsprechende Behauptungen eine Wiedergabe der im Lager von der Antifa gegen Kallmerten betriebenen Hetzkampagne.«
Fast nur in Nuancen der Wortwahl unterscheidet sie sich in Stil und Duktus von seinem Lehrherren, dem Freiwilligen der Schwarzen Reichswehr, dem Nazi-Richter und späteren Landgerichtsrat Steckel. Bei der geschichtlichen Wahrheit bleibt sie ungenau, wenn es gilt die Anklage mit der notwendigen Begründung zu versehen.
Einer der Verteidiger, Johann Schwerin, stellt die Behauptungen der Staatsanwaltschaft richtig. In seinem Plädoyer zitiert er aus den Geheimen Lageberichten der Königsberger Justiz. Aus diesen Dokumenten geht hervor, daß von Königsberger Sondergerichten so viele Todesurteile verkündet wurden, daß ihre Zahl »prozentual mit der Todesurteilsrate der Berliner Sondergerichte konkurriert".« Es ist aber nicht nur die personelle Kontinuität, die dem Prozeß 1992 den Stempel aufdrückt. Auch der Vorsitzende Richter Dr. Diethelm Erdmann und seine beisitzenden Richter Detlev Grigoleit und Britta Schlage schließen sich der Anklageschrift des Staatsanwaltes mit ihrem Urteil an. Karl Kielhorn wird freigesprochen, Gerhard Bögelein zu lebenslanger Haft verurteilt.
Eine Gesellschaft, die zur Verteidigung ihrer Ordnung und ihrer Interessen einer derartigen Justiz bedarf, kann sich mit den Ursachen des Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt und mit ihrer Vergangenheit nicht überzeugend gebrochen haben. Aber das wird uns 1992 ja nicht nur in deutschen Gerichtssälen vor Augen geführt, sondern in Bundestagsdebatten, in Zeitungen, in den Talk-Shows des Fernsehens und auf der Straße. Auch in aktuellen Prozessen werden von der Justiz die organisatorischen Zusammenhänge und politischen Motivationen rechter Gewalttäter verharmlost oder geleugnet, während man die Gegenwehr ausländischer Jugendlicher und antifaschistischer Initiativen zur großen Gefahr aufbauscht.