Tradition und Traditionsbruch in der Wehrpolitik
Diesmal konnte die Verteidigungslinie gehalten werden. Im Gegensatz zum letzten Mal konnte die Gefahr, die da aus dem Osten auf uns zukam, mit nur geringem Geländeverlust eingedämmt werden. Was da drohte, von Polen herüberzufluten, es wurde erfolgreich zurückgeworfen. Nein, die Heimatvertriebenen des '45er Jahres, die Opfer der Flutkatastrophe im Hungerwinter '46 - sic mußten kein zweites Mal ihre Heime verlassen. Der neue Treck - im Sommer 1997 blieb aus.
Unsere LeserInnen erinnern sich noch gut an die Schlagzeilen der »Jahrhundertflut« an der Oder - in jener Region, wo beim illegalen Grenzübertritt ständig Menschen ertrinken; wo eine Bevölkerung die Republik zu Tränen rührte, die so oft Flüchtlinge denunziert. Flüchtlinge aus Bangladesh zum Beispiel, wo alle paar Jahre in den Flutkatastrophen Hunderttausende nicht ihre Häuser und Gärten verlieren, sondern ihr Leben.
In den Stunden vor der Evakuierung glich Ratzdorf, Frontstadt an Oder und Neiße, einem Heerlager. Während diverse freiwillige Helfer an den Dämmen arbeiteten, nutzte die Bundeswehr die Gunst der Stunde, um ihren eindrucksvollen Wagenpark sinnlos, aber medienwirksam durch den Osten der Mark zu fahren. Wer hätte gedacht, daß ihr Ruf ein halbes Jahr später so angeknackst ist, obwohl doch die Medien wirklich lange bereit waren, Rühes Version der Einzeltäter prinzipiell zu akzeptieren.
Der Verteidigungseinsatz an der Oder zeigt eines deutlich: Die Bundeswehr hat gewisse Traditionen... . Als die Streitkräfte in den 50er Jahren wieder aufgebaut wurden, bediente sich die Bundesrepublik der militärischen Elite des »Dritten Reiches« - keineswegs nur altpreußische Reichswehrmänner, denn in der Wehrmacht hatte in sechs Jahren der Hochrüstung und sechs Jahren der Kriegsverluste durchaus auch in den Stäben ein Generationswechsel stattgefunden. Es mag sein, daß man eine Armee nicht aus dem Nichts aufbauen kann, aber die personelle Kontinuität war nicht alles bei der Bundeswehr.
Auch die Traditionen, die man innerhalb der Streitkräfte pflegte, schlossen die Taten der Wehrmacht ein. Landung der Fallschirmjäger auf Kreta..., Panzergeneral Guderian und seine kühnen Attacken..., Rommel in Afrika, Rommel in den Ardennen... . Und der Widerstand vom 20. Juli, den gab es ja schließlich auch noch!
Unter der Hand mögen demokratische Politiker seinerzeit gesagt haben, das Problem der alten Wehrmachtsgeneräle werde sich schon bald biologisch lösen. Aber Ende der 70er Jahre, für die man von einem gewissen Generationswechsel ausgehen kann, warf die Affäre um den NS-Fliegerhelden und NPD-Funktionär Hans-Ulrich Rudel , der mehrfach von hochrangigen Luftwaffenoffizieren eingeladen worden war, ein grelles Licht auf die Traditionspflege zumindest bestimmter Verbände der Bundeswehr.
Symbol der Westbindung
Ja, es gibt diese Traditionen, und sie sind geeignet, einiges an den gegenwärtigen Skandalen zu erhellen. Ein aktuelles Beispiel ist das Bundestreffen der Wehrmachts-"Ritterkreuzträger" im Oktober 1997. Es fand im Bundeswehrstandort Hammelburg statt, wo ein Teil der »Skandalvideos« entstanden ist. Ein kurzer Artikel beschreibt die Veranstaltung. Und doch verstellt der Blick auf Traditionspflege den tieferen Einblick in die Vorgänge der 90er. Denn das Auffällige ist ja der Bruch in der wehr- und außenpolitischen Kontinuität. Wir werden auf Traditionslinien noch einmal zurückkommen, vorerst aber Bruch und Wände] zu betrachten haben. Als die Bundeswehr in den 50ern aufgebaut wurde, bemühte man sich durchaus, gewisse Traditionen zu unterbrechen. Betont wurde häufig die neue Uniform - ein Argument, das uns ZivilistInnen recht albern vorkommt, aber in der Logik der militärischen Disziplin seine Bedeutung hat. Wichtiger war der Versuch, durch das Konzept der «Inneren Führung" und eine ausgedehnte politische Bildungsarbeit im Sinne der bürgerlich-demokratischen Verfassung eine "Armee in der demokratischen Gesellschaft" zu schaffen, deren Angehörige »Staatsbürger in Uniform« sein sollten. Vergleicht man die Bundeswehr mit der Militärdiktatur Ludendorffs im I. Weltkrieg, dem politischen Einfluß der Wehrmacht im Nationalsozialismus (an welcher lange Zeit nichts vorbei ging), vor allem aber dem republikfeindlichen und geradezu hochverräterischen Engagement der Reichswehr in der Weimarer Zeit, so muß man zugeben: Die Bonner hatten ihre Truppen relativ gut im Griff. Was die Armee tat, das war überwiegend politisch kontrolliert durch das Verteidigungsministerium, und die Hardthöhe selbst blieb stets eingebunden in die große außenpolitische Linie der Regierungen und ihre vierzigjährige Kontinuität der Westbindung.
Die Bundeswehr hatte von vornherein eine bestimmte, lange Zeit ungebrochene Funktion: Element der großen Front des imperialistischen Westens gegen die realsozialistischen Staaten bzw. die Kräfte der Dekolonialisation zu sein. Sie konnte sich gut auf die Rolle der »Verteidigung« konzentrieren: Schnelle Eingreiftruppen, wie man sie heute bildet, waren solange überflüssig, wie die prinzipielle Übereinstimmung mit den Westmächten nicht in Frage stand. Wenn US-amerikanische, britische oder französische, später dann türkische, israelische, guatemaltekische oder südafrikanische Truppen die eigenen Interessen genauso gut vertraten, konnte die Bundesrepublik bequem auf Interventionen verzichten.
Für die schmutzige Tätigkeit des »lower intensity warfare" und entsprechende Ausbildung reichte die kleine GSG 9 des Bundesgrenzschutzes völlig aus.
Der »deutsche Wehrbeitrag« war in den frühen 50ern sogar als Kontingent einer «Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« geplant, später war die Bundeswehr an die globale Strategie der NATO gebunden. Sie war geradezu das Symbol der Westbindung. Aber der alte Feind ist fort, die Gräben zwischen den alten Freunden brechen auf. Seit einigen Jahren bemüht sich die Bundesrepublik um eine eigenständige Außenpolitik. Sie ist Führungsmacht in Europa. Für die Bundeswehr bedeutet dies unter anderem: Die Truppe kämpft wieder. Eine kämpfende oder sich auf unmittelbare Kampfaufträge vorbereitende Truppe entwickelt aber eine ganz andere »Moral«, ein ganz anderes Bewußtsein. Den aktuellen Zustand der Bundeswehr, die mehr und mehr das Bild einer Wehrsportgruppe abgibt, beschreibt unser Artikel »Einzelfall Bundeswehr«.
Die Hardthöhe macht Außenpolitik
Für das Verteidigungsministerium sind die Konsequenzen noch größer. Volker Rühe, selbst ungedient, versucht sich als alternativer Außenpolitiker, durchaus im Sinne der Union, gegen die Außenpolitik Kinkels zu profilieren. Die Hardthöhe macht mehr und mehr nicht Wehrpolitik nach den Maßgaben außenpolitischer Leitlinien, sondern Außenpolitik mit den Mitteln, die dem eigenen Hause zur Verfügung stehen. Aus diesem Grunde können Stabsoffiziere der Bundeswehr überhaupt ein Interesse am Thema der »Regermanisierung« der Region Kaliningrad entwickeln. Wie es zu Manfred Roeders Vortrag vor der Führungsakademie kommen konnte, arbeitet ein Artikel über »den alten Neonazi und das dringende Bundesinteresse« auf. Auswärtiges Amt und Verteidigungsministerium sind aber allenfalls Konkurrenten, die Richtung der Außenpolitik ist durchaus ähnlich. Als dritte Instanz betreibt noch das Innenministerium Außenpolitik, insofern es die Lobby bestimmter Vertriebenen-Verbände, nicht zuletzt der Ostpreußen, ist.
In Ostpreußen wirken alle drei zusammen. Das Innenministerium finanziert die Arbeit der Vertriebenen-Funktionäre. Das Außenministerium bestätigt ein »dringendes Bundesinteresse« an der logistischen Unterstützung Roeders. Es ist schlechterdings Quatsch, zu behaupten, dies wäre ein Patzer im Rahmen einer Routineanfrage, hervorgerufen durch das Fehlen eines VS-Berichtes im zuständigen Büro. So leicht ist es denn doch nicht, ein dringendes Bundesinteresse bescheinigt zu bekommen. Der Begriff ist ernstzunehmen, der Bund definiert den Neuaufbau einer deutschen Minderheit durchaus als dringendes Bundesinteresse. Im Zusammenspiel der Behörden hat die Bundeswehr bereits früher Material geliefert, z.B. 1992. Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium und Mentor der Aktion war seinerzeit der CDU-Politiker Ottfried Hennig, Vorsitzender der "Landsmannschaft Ostpreussen". Das Interesse an der Region Kaliningrad nennt sich »geostrategisch«. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus und seit dem Aufstieg Deutschlands zur europäischen Führungsmacht denken Militärs und Ministerialbürokratie wieder in derartigen Kategorien.
Kaliningrad ist von der Sowjetunion zum Truppenstützpunkt gemacht worden. Heute ist es eine territoriale Exklave, und die sind in der Geschichte in der Regel kurzlebig. Entweder das Mutterland schafft eine stabile Verbindung - und früher oder später wird Rußland dies versuchen müssen, sich dabei allerdings immer mit mindestens zwei Staaten anlegen - oder eine andere Macht dringt in das »Vakuum« ein. Starke Kräfte in Deutschland wollen gerne diese Macht bilden. Einen Ausschnitt aus diesen Bestrebungen beleuchtet der Artikel über die »Arbeitsgemeinschaft Nord-Ostpreußen«. Wie läßt sich aber ein deutsches Interesse völkerrechtlich begründen?
Tradition »verdeckter« Außenpolitik
Damit sind wir dann leider doch wieder bei Traditionen, aber bei solchen, die älter sind als die Bundesrepublik. Denn die Funktionalisierung deutscher Minderheiten für die imperialistische Außenpolitik hat eine lange Tradition, ihr Mißbrauch als »Fünfte Kolonne« und ihre militärische Ausbildung zur Destabilisierung gehört zu den schwärzesten Kapiteln in der Vorgeschichte des II. Weltkrieges. Eine Minderheit, deren »Schutz« man dann im Zweifel als Argument für politisches Interesse in bestimmten Regionen benutzen kann, eine solche Minderheit virtuell zu schaffen, wie dies heute in Ostpreußen geschieht, ist schon eine besondere Dreistigkeit.
Auch in der Vergangenheit spielte die Armee ihre Rolle in der verdeckten deutschen Außenpolitik und in der Funkionalisierung der Minderheiten. Die deutschen Truppen wurden ja, nachdem das Reich um 1914 zum »Griff nach der Weltmacht« ansetzte, in Europa immer argwöhnisch beobachtet. Geheimunternehmen wurden zum festen Bestandteil deutscher Wehr-Tradition. Schon 1923 waren es irreguläre, politisch-ideologisch rechtsextreme militärische Verbände, die aus den "Freikorps" heraus den »Heimatschutz« während der Oberschlesienkämpfe bildeten. Die ganze Weimarer Zeit durchzieht der Gedanke, trotz Beschränkung der Armee die Bevölkerung »wehrfähig« zu machen. In den Grenzgebieten nannte sich das dann »Grenzschutz«. In der Tradition der irregulären Verbände bildete die SS 1937 das Sudetendeutsche Freikorps zur aktiven Destabilisierung der Tschecheslowakei aus.
Ein eindringliches Beispiel für die Zusammenarbeit rechtsextremer Verbände und des Militärs ist genau in der Region angesiedelt, um die sich der aktuelle Skandal dreht. Bereits gegen Ende der Weimarer Republik begann die Reichswehr mit dem Aufbau eines Grenzschutzes in Ostpreußen, der nach 1933 abgeschlossen wurde. Wichtigster Partner war neben dem "Stahlhelm" die "Ostpreußische SA". Über paramilitärische Trainings in der Region ist derzeit noch nichts bekannt; Roeder, verurteilter Terrorist und immer wieder zu Gewalttaten bereit, zuletzt auffallenderweise gegen die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht«, wäre dafür vielleicht sogar zu interessieren.
Allerdings darf er als Person nicht überbewertet werden. Sein plötzliches Prestige, gemessen an seiner Position im rechtsextremen und revanchistischen Lager, beschreiben wir als »Späten Triumph eines Egozentrikers«. Gewisse Traditionen in der bundesdeutschen Wehr- und Außenpolitik brechen derzeit ab - ältere Traditionen erhalten dadurch gefährliche Brisanz. Hakenkreuze und Hitlerverehrung in den Mannschaften sind daher keine Zufälle, sondern Symptom veränderter politischer Bedingungen.