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Wahlen in Frankreich (1993)

REFLEXES (Paris) (Gastbeitrag)
Einleitung

Die französischen Wahlen zur Nationalversammlung Ende März 1993 haben einige interessante Ergebnisse hervorgebracht. Zuerst ist zu erwähnen, daß die (extreme) Rechte keinen einzigen Sitz für sich gewinnen konnte.

Bild: Mike-tango, wikimedia.org, CC BY-SA 4.0

Gérard Longuet: Früher an extrem rechten Aktionen beteiligt, heute Industrie-Minister in Frankreich.

Die größte Überraschung war, daß die einzige Abgeordnete der „Front National“ (FN), Marie-France Stirbois, ihren Sitz in Dreux an die Gaullisten abgeben mußte, auch wenn ihr am Ende nur 105 Stimmen für ein Mandat gefehlt hatten. Zuvor galt es als sicher, daß sie gewinnen würde. Jean-Marie Le Pen gewann die erste Runde in Nizza mit Leichtigkeit, doch er verlor die zweite eine Woche später aufgrund von taktischen Wahlabsprachen, um ihn aus der Nationalversammlung heraus zu halten.

Der Umstand, daß Le Pen in der ersten Runde 27,49 Prozent und 42 Prozent der Stimmen in der zweiten Runde für sich verbuchen konnte, gibt einigen Anlaß zur Besorgnis, auch wenn er diesmal nicht gewählt worden ist. Ebenfalls in Nizza scheiterte Le Pens Vertrauter Jacques Peyrat beim entscheidenen zweiten Wahlgang äußerst knapp mit 48 Prozent, nachdem er in der ersten Runde schon 31 Prozent gewonnen hatte. Peyrat plant jetzt zur Wahl als Bürgermeister von Nizza anzutreten. Der FN-Vize Bruno Mégret stand in Vitrolles, einem Vorort von Marseille zur Wahl, wo er 49,5 Prozent im zweiten Wahlgang erhielt und den Sitz um Haaresbreite verlor. Auch der Familienclan Le Pens, der bei der KandidatInnenaufstellung bedacht worden war, zwei seiner Töchter, Marion Anne Perrine "Marine" Le Pen und Marie-Caroline Le Pen plus des Ehemannes der dritten Tochter Jean-Pierre Gendron, scheiterte in der zweiten Runde.

Mehr als 100 KandidatInnen der FN erreichten im ersten Wahlgang die erforderlichen 12,5 Prozent, die zur Teilnahme an der Ausscheidung berechtigen und waren in vielen Regionen die einzige Alternative in der Ausscheidung. Nur durch die Änderung des französischen Wahlgesetzes in ein Mehrheitswahlsystem blieb die FN ohne Vertreterin in der Nationalversammlung. Deshalb sind die Ergebnisse des ersten Wahlganges als der eigentliche Gradmesser für die Zustimmung in der Bevölkerung zu werten. Der Umstand, daß die FN nicht mehr in der Nationalversammlung präsent ist, gibt keinen Anlaß zur Beruhigung.

Die FN ist erstens immer noch auf lokaler, regionaler und der europaweiten Ebene gut vertreten. Und zweitens waren die Ergebnisse der FN in allgemeinen Wahlen die höchsten, die sie bisher erzielen konnte. Sie verbuchte dieses Jahr 12,5 Prozent der Stimmen (3.158.000 WählerInnen) für sich, gegenüber 9,7 Prozent im Jahr 1988. Drittens belegen Wahlanalysen, daß die FN vor allen für junge männliche Franzosen unter 25 Jahren attraktiv ist, für Kleingewerbetreibende, für die ArbeiterInnenklasse und jene, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen.

Die besten Resultate erzielte die FN in fünf Zentren Frankreichs: Der Île-de-France (Paris und Vorstädte), in der Provence-Alpes-Côte d'Azur (Marseille und Nizza), im Rhone-Tal (Lyon), in Languedoc-Roussillon (Perpignan und Montpellier) und in Elsaß-Lothringen im Osten. Insgesamt schnitt die FN in Städten besser ab als auf dem Lande.

Der Wahlsieg der Konservativen

Schlußendlich bedeutet der eindeutige Wahlsieg der Konservativen, die 80 Prozent der Sitze erwarben, daß in den nächsten zwei Jahren die Bedingungen für ImmigrantInnen und andere Minderheiten verschärft werden. Die Konservativen traten mit einer Wahlplattform an, die versprach illegale EinwanderInnen verschärft zu verfolgen, neue Gesetze zur Beschneidung der Einwanderungsbestimmungen, zur Erweiterung der Polizei- Befugnisse und neue Sicherheitsgesetze zu erlassen. In zwei Jahren Finden die Präsidentschaftswahlen statt und bis dahin muß sich der amtierende Präsident François Mitterrand auf eine äußerst unbequeme »Zusammenarbeit« gefasst machen.

In den letzten Wochen hat die politische Rechte eine scharf geführte Diskussion über das Thema entfacht was die französische Nationalität ausmache und ob sie auf französisches Blut gestützt werden könne. Die zerbrechliche Allianz zwischen der Gaullistischen RPR (Rassemblement pour la République) und dem »liberal-konservativen« Parteienbündnis UDF (Union pour la Démocratie Française), die das entscheidende Gewicht in der Machtverteilung darstellt, sorgt jedoch dafür das die FN an den Rand gedrängt wird. Die Mehrheit der RPR kann aus Angst vor einem Koalitionsbruch der UDF nicht zu weit nach rechts schwenken. Die UDF könnte sich mit der »Linken« verbünden und die Unfähigkeit der RPR, die Geschicke der Regierung zu lenken, offen vorführen. Würde sich die RPR zuweit Richtung politischer Mitte bewegen, dann nähme die Unterstützung für die FN weiter zu. Dies wird von der RPR auch nicht gewünscht wird, immerhin hatte sie geschworen Le Pen und seine Partei zu zerstören.

Obwohl die Rechte diesmal ohne Bündnisse mit der FN an die Macht gelangen konnte, gelang es ihr nicht sie komplett zu zerstören. In der zweiten Wahlrunde war noch ein weiteres interessantes Phänomen zu beobachten. Dort wo die FN in der ersten Runde gescheitert war, splitteten die WählerInnen ihre Stimmen zwischen der Rechten, der Sozialistischen Partei oder enthielten sich der Stimme. Auch verschiedene andere Parteien neben der FN stellten Kandidaten zur Wahl.

Das lächerlichste war der verzweifelte Versuch von Serge Élie Ayoub, alias „Baskin“, einer der penetrantesten Neonazi-Skinheads Frankreichs. Nach einer Entscheidung für seine Partei „Jeunesse Nationaliste Révolutionnaire“ (JNR) anzutreten, sammelte er heldenhafte 68 Stimmen (0,17 Prozent). Die „Alliance Populaire“, eine Splittergruppe der FN mit »revolutionärer Tendenz« um Jean-François Touzé, Roland Hélie und Arnaud Hautbois, bekam im Durchschnitt weniger als 1 Prozent der Stimmen, trotz einer großen Anzahl von Kandidaturen. Keine der Minderheiten-Gruppen der (extremen) Rechten schaffte es, über die erste Runde hinaus zu kommen.

Die antifaschistischen und antirassistischen Gruppen warten noch ab, wie sich die FN zu dem Ausgang der Wahlen verhalten wird, abgesehen von der Tatsache, daß Le Pen angesichts des Verlustes von Repräsentation im Parlament schier wild geworden war. Heute ist es noch ungewiß ob die FN ihre Politik ändern wird um damit ihre Wählbarkeit zu erhöhen.

Minister mit Neonazi-Vergangenheit

Zwei Minister des neuen französischen Kabinetts haben selbst eine neofaschistische Vergangenheit vorzuweisen. Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung Alain Madelin aus den Reihen der "Unabhängigen Republikaner" ("Républicains indépendants") unter der Führung Valéry Giscard war früher Mitglied der Organisation „Occident“ eine neofaschistische Aktivistengruppe der 1960iger Jahre. Die „Occident“ um Pierre Sidos war für ihre Gewalt und weiße Vorherrschaftsideologie bekannt. Madeleine soll im Januar 1967 nach einem Angriff von "Occident" auf linke StudentInnen an der Universität von Rouen verhaftet worden sein. Außerdem war Alain Madelin zusätzlich noch als Anhänger der anti-kommunistischen Denkfabrik „Institut d'histoire sociale“ (IHS) bekannt. Gérard Longuet ist heute Industrie-Minister und war ebenfalls Anhänger der „Occident“, wo er ebenfalls eine Vorgeschichte als gewaltätiger Aktivist haben soll. Auch er soll im Januar 1967 nach einem Angriff von "Occident" auf linke StudentInnen an der Universität von Rouen verhaftet worden sein. Ebenfalls unter den damals Verhafteten soll der heutige französische Politiker Patrick Devedjian gewesen sein. 

Madelin sitzt heute für die "Republikanischen Partei" im Kabinett. Die "Republikanischen Partei" von Madelin und Longuet nimmt innerhalb der "Union pour la Démocratie Française" (UDF) eine Schlüsselrolle ein.

Nach den Wahlen: Rassismus, Polizeimorde und Krawalle

Zehn Tage nach den Wahlen explodierten in Paris die schwersten Unruhen von ImmigrantInnen seit der Zeit der letzten französischen Rechts-Regierung 1986-87. Die Aufstände begann am 4. April 1993 im Ostfranzösischen Chambery als die Polizei einen 18-jährigen wegen Verdachts auf Autodiebstahl festnahm, der im Polizeigewahrsam erschossen wurde. Gleich zwei Tage später wurde ein 17- jähriger Jugendlicher aus Zaire mit dem Namen Makome, der wegen Ladendiebstahls festgenommen worden war, ebenfalls ermordet. Dieser Mord fand im 18. Distrikt im Norden von Paris statt, wo hauptsächlich ImmigrantInnen leben.

Der verhörende Polizist Inspecteur Compain setzte seine Pistole an die Schläfe des Jugendlichen und drückte ab. Später behauptete er, daß er den Jungen »nur erschrecken wollte«. Als die Meldung der „affaire Makomé M'Bowolé“ am nächsten Tag bekannt wurde, entwickelte sich vor der Polizeistation in der Makome ermordet worden war, eine Straßenschlacht. Am 8. April 1993 griffen die Aktionen auf Lilie, inklusive des Vorortes Tourcoing über, wo zuvor ein junger Algerier von einem betrunkenen Polizisten erschossen worden war. Insgesamt dauerten die Krawalle vier Tage bis zum Abend des 10. April 1993.

Eine geplante Demonstration wurde verboten, jedoch trotzdem mit einigen hundert Leuten auf den Straßen des 18. Bezirkes durchgeführt. Es gab 70 Festnahmen und sechs Verfahren wegen Waffenbesitzes und Landfriedensbruch. Die Todesschüsse kurz nach den Wahlen und die anschließenden Krawalle können als ein Vorgeschmack, auf das was noch von der neuen Rechts-Regierung zu erwarten ist, angesehen werden.

Kurz vor Makome's Tod fand in den Straßen des 18. Distriktes eine Großrazzia der Polizei statt, unter dem Vorwand gegen Rauschgiftdealer vorgehen zu wollen. Durch das rassistische Gesetz, daß jede/r eine Identitätskarte mit sich führen muß, verhaftete die Polizei jedoch hauptsächliche illegal lebende EinwanderInnen. Die Razzia wurde direkt vom Innenminister Charles Pasqua angeordnet, der dieses Amt schon von 1986-1987 inne hatte. Mit dem Unterschied, daß sich Pasqua diesmal von der Polizeigewalt distanziert hat, indem er betonte, daß die Polizei nur bewaffnet sei, um die BürgerInnen zu schützen, jedoch nicht um sie zu terrorisieren. Er ließ verschiedene Polizisten beurlauben, wovon gegen einen wegen Mordes ermittelt wird.

Neonazi-Skinhead-Treffen in Paris

Serge Élie Ayoub organisierte am 5. März 1993 in Paris ein Neonazi-Treffen, zusammen mit „Veneto Fronte Skinheads“ (VFS) aus Italien, „Blood & Honour“ aus England und der „Deutschen Aternative“ (BRD). Es erschienen rund 150 Neonazis aus verschiedenen Ländern, inklusive aus Kroatien. 70 wurden wegen verschiedener Anschuldigungen, meistens wegen Trunkenheit oder Personalienfeststellungen, festgenommen und drei von ihnen wegen des Tragens von Nunchakus festgesetzt. Das Treffen war von der Polizei verboten worden, doch Ayoub schaffte es, einen Ausweichort außerhalb Paris zu organisieren und dort trafen sich dann 140 Boneheads am Freitagabend. Als Redner traten zwei belgische Neonazis in Erscheinung: Der Geschichtsrevisionist Olivier Mathieu (1989 veröffentlichte er eine Biographie von Abel Bonnard, in der er das „Dritte Reich“ als den "größten Sprung Europas und die menschliche Seele im 20. Jahrhundert" bezeichnete) und Hervé Van Laethem von der belgischen Boneheadgruppe „L'Assault“. Während des Treffens wurde »Sieg-Heil-« und »Rostock Non-Stop«-gerufen.