Skip to main content

Die Neonazi-Szene in Brandenburg/Havel

Einleitung

Brandenburg an der Havel - eine beschauliche Stadt mit ca. 50.000 EinwohnerInnen, historischem Stadtkern und Plattenbaughettos am Stadtrand. Schlagzeilen macht die Neonaziszene in Brandenburg selten, doch der Schein von Verschlafenheit und Ruhe trügt.

Ein Bericht über Patrick Cuhrts in der Zeitung "hinter den kulissen".

Der Schein von Ruhe trügt...

Vor 1989 waren die meisten der heutigen Neonazis in Brandenburg unorganisierte „Heavies“ oder „Hools“. (Angeblich) bereits im November 1989 fand in Brandenburg die Gründungsversammlung der, inzwischen als Nachfolgeorganisation der NF immer öfter auftauchenden, »Direkten Aktion/Mitteldeutschland (JF)« statt. Zum Vorsitzenden wurde Ernst von Amhoff gewählt, sein Stellvertreter wurde Klaus-Dieter Lück, Toralf Degenhardt erhielt den Posten des Schatzmeisters. Während die »Direkte Aktion« in Brandenburg in den folgenden Jahren erst einmal nicht an die Öffentlichkeit trat, bildeten sich, wie in vielen anderen Städten der Ex-DDR auch, ab 1990 die ersten festeren Gruppen von rechten Straßenskins in Brandenburg. Zur gleichen Zeit wurden in Brandenburg Ortsgruppen der REPs und der DVU gegründet, deren Mitglieder sich hauptsächlich aus der Altersgruppe der 20 bis 30-jährigen rekrutierten und regelmäßig öffentlich auftraten, u.a. durch Infostände, Flugblattverteilen etc.

Akzeptierende Gewaltarbeit ?

Ende 1991 / Anfang 1992 beschloss dann die Stadt Brandenburg, die wachsende Zahl von rechten Jugendlichen und organisierten Neonazis könne ja nicht so einfach sich selbst und der Straße überlassen bleiben. Die Stadt stellte in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt den Neonazi-Skinheads ein - wenn auch renovierungsbedürftiges - Jugendzentrum mitsamt Sozialarbeiter zur Verfügung. Die Idee des Jugendamtes war gewesen, die rechte Szene über das Jugendzentrum und den Sozialarbeiter unter Kontrolle zu halten  ("Akzeptierende Sozalarbeit"). Die Praxis sah wie so oft entschieden anders aus:

 Zum einen soll der städtische Sozialarbeiter, Jan H., schon DDR-Zeiten aktiver Neonazi gewesen sein. Offenbar verwechselte er Sozialarbeit mit der Möglichkeit, aktive Unterstützung und Organisierungshilfe für die Neonaziszene in Brandenburg zu leisten: Er organisierte 1991 und 1992 laut Berichten lokaler Antifas u.a. zusammen mit einem Brandenburger "Zuhälter-Typen" große Neonazi-Konzerte. Ein Konzert fand etwa mit 400 Besuchern im Jugendclub „Philip-Müller“ statt.

Laut Berichten aus rechten Skinhead-Fanzines ist der Ort ein beliebter Veranstaltungsort. Im Juni 1990 spielten in Brandenburg "Radikahl", "Werwolf", "No Remorse" und "Dirlwanger" vor 300 Neonazis. Am 9. März 1991 war auf der Brandenburger Freilichtbühne ein Neonazi-Konzert organisiert worden. Am 30. Mai 1992 folgte auf der Freilichtbühne auf dem Marienberg ein weiteres Konzert mit "Radikahl" (Nürnberg), "Bomber" (Meerane), "No Remorse" (England), "Division S" (Schweden), "Dirlewanger" (Schweden) und "Skullhead" (England) zu dem rund 1400 Neonazis kamen. Ein geplantes Open-Air Konzert im Sommer 1993 in Pritzerbe bei Brandenburg u.a. mit „Störkraft“ sowie englischen und italienischen Bands wurde vom Land Brandenburg kurzfristig verboten.

Auch sonst war der Sozialarbeiter sehr um die Freizeitgestaltung »seiner« Sozialarbeitsobjekte besorgt - wie sonst lässt es sich erklären, dass er bei "Wehrsportübungen" in Brandenburg-Kirchmöser und bei einem Überfall auf Punks gesehen worden sein soll oder dass bei einer Hausdurchsuchung 1992 bei ihm rechtes Propagandamaterial gefunden wurde? Außerdem bot das rechte Jugendzentrum »Am Wiesenweg« den Kadern der Brandenburger Neonaziszene - u.a. Patrick Cuhrts aus Ketzin, Michael B., Marcel Schilf (dänischer Staatsbürger mit deutscher Großmutter), Michael Scho. und Andre Schm. - das ideale Rekrutierungsumfeld1 .

Wachsende Neonazi-Szene

Die Szene wurde ziemlich schnell größer - mit einem harten Kern von circa 30 Neonazis und einem Umfeld von ca. 60 Neonaziskins aus Brandenburg und Umgebung. Brandenburger Neonazi-Skinheads waren allerdings nicht nur in der Stadt selber aktiv, sondern hatten und haben enge Kontakte zu organisierten Neonazis in Potsdam, Rathenow, Belzig, Premnitz und Tangermünde. Zum Teil entstanden diese Kontakte in Knästen wie in der JVA Luckau, gemeinsame "Wehrsportübungen" auf ehemaligen NVA- und GUS-Kasernengeländen oder durch gemeinsame »Geschäftsinteressen«, d.h. Prostitution, Autoschiebereien, Drogen- und Waffenhandel. Mit "Thorshammer" gibt es auch eine lokale Neonazi-Band aus dem "Blood&Honour"-Spektrum.

Wachsende Gewalt

Im Herbst 1992 eskalierte der rechte Terror in Brandenburg - Wohnungen von bekannten AntifaschistInnen wurden verwüstet, linke Jugendliche auf der Straße zusammengeschlagen, KKK-Aufkleber tauchten auf.2

Doch auch die antifaschistische Gegenwehr begann sich zu organisieren, z.B. durch einen antifaschistischen Angriff auf das Jugendzentrum „Am Wiesenweg“ am 20. November 1992. Im Anschluss an den Angriff fuhren dann mindestens drei der Kader - Patrick Cuhrts (19), Michael B. (21) und Alexander M. - durch die Stadt, um alle, die auch nur links angehaucht aussahen, »plattzumachen«. Die restlichen 60 Neonazis zogen vor die linke Disinfected-Disco, ihre Angriffspläne scheiterten allerdings ziemlich kläglich. Cuhrts, Michael B. und Alexander M. hatten in der Zwischenzeit ein Opfer gefunden, dem Cuhrts ein Messer in den Rücken stach, während Michael B. und Alexander M. die Begleiterin des Mannes bedrohten. Es war reiner Zufall, daß der Mann diesen Angriff überlebte.

Vier Tage später zogen Cuhrts und Michael B. offenbar schon wieder los - diesmal auf der Suche nach Jacken und Geld. Einen Monat später wurde gegen Cuhrts Haftbefehl wegen des Messerstichs erlassen, Michael B. wurde zwar mitangeklagt, blieb aber draußen (seine Mutter Marion B. ist eine bekannte Rechtsanwältin in Brandenburg). Alexander M. sowie circa zehn andere Neonazis erhielten Vorladungen von der Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Neonaziszene begann, aufgrund von Aussagen, gegenseitigen Belastungen etc., Spaltungstendenzen und Verfallserscheinungen zu zeigen, zumal im Dezember 1992 einige das Jugendzentrum „Am Wiesenweg“ mit einem Brandsatzes geschlossen wurde. Jan H. kündigte seinen Sozialarbeiterjob und versucht sich jetzt als Imbißverkäufer und Betreiber eines Klamottenladens.

Knastkameraden

Dass Neonazis durch den Knast keineswegs in reumütige Sozialfälle verwandelt werden, zeigte sich auch bei Cuhrts. Zum Einen wurde er während seiner U-Haft von der neonazistischen HNG ("Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." ) betreut; zum Anderen organisierte er zusammen mit anderen Neonazis im März 1993 den Knastaufstand in der JVA Luckau mit und schien sich auch ansonsten nicht gerade zu langweilen - immerhin werden mindestens acht weitere Gefangene in der JVA Luckau von der HNG betreut. Die HNG sorgte schließlich auch dafür, daß der rechte Berliner Anwalt Carsten Pagel als Anwalt für Cuhrts engagiert wurde. Cuhrts bedankte sich per Brief an die HNG-Chefin Ursula Müller, in dem er gleichzeitig stolz auf seine Mitgliedschaft bei der "Nationalistischen Front" (NF) und die Unterstützung durch seinen »national gesinnten« Vater Fritz Cuhrts verwies. Darüber hinaus versuchte Cuhrts auch noch, sich aus dem Knast dem Verfassungsschutz als Informant anzudienen - offensichtlich mit Wissen seiner »Kameraden«.

Milde Strafen

Der Prozeß gegen Cuhrts und Michel B. wegen versuchten Totschlags, der dann schlussendlich im August/September 1993 vor dem Potsdamer Landgericht stattfand, entwickelte sich innerhalb weniger Prozesstage zur Farce. Die HauptdarstellerInnen: Ein stummer Staatsanwalt, eine Richterin, die auch dann nicht von einer »rechten Gesinnung« der Angeklagten überzeugt schien, als Michael B. mit einem »No Remorse« T-Shirt auf der Anklagebank Platz nahm und Cuhrts Brief an die HNG vorgelesen wurde; Anwalt Pagel, dessen Entlastungszeugen sich ungestört in Widersprüche verstricken durften: Die Strategie von Pagel war es Cuhrts und Michael B. zu entlasten und den dritten Neonazi der Nacht - den vom "Wehrsport" bekannten - Alexander M. - zu belasten. So war dann das Urteil auch keine Überraschung mehr: Jeweils sechs Monate auf Bewährung, denn einen eindeutigen Tatnachweis hätte es nicht gegeben.

Für Cuhrts ist es schon die zweite Bewährungsstrafe, da er im April 1991 einen vietnamesischen Vertragsarbeiter in der Straßenbahn zusammengeschlagen hatte. Cuhrts wurde direkt nach Prozessende aus der U-Haft entlassen.

Kein Ende in Sicht

Mittlerweile führen Cuhrts und Michael B. ihren Neonazialltag ungestört weiter. Beide wurden in den letzten vier Monaten festgenommen: Michael B., nachdem er mit einem Baseballschläger vor einer Disco randalierte; Cuhrts, als er zusammen mit Andre Schm. auf dem Weg zu einer Antifa-Demonstration in Brandenburg am 13. November war.

Offenbar nutzt insbesondere Cuhrts seine neugewonnene Freiheit, um Nachwuchs auszubilden und die zerstreuten Neonazikleingrüppchen wieder zusammenzubringen: Cuhrts Freund Andre Schm., der im April 1993 zusammen mit Michael Scho. und u.a. Brandenburger Neonazis wegen schwerer Körperverletzung und Landfriedensbruch vor Gericht stand, ist inzwischen zum FMJ-Kader aufgestiegen und erhält öfters Besuch aus Luckenwalde und Belzig, aber auch aus westdeutschen Städten.

Patrick Cuhrts selbst gilt mittlerweile als ein deutscher Vertreter der internationalen Neonazi-Skinhead-Gruppierung "Hammerskins". In Brandenburg an der Havel soll er gemeinsam mit Guido H., Marco Z., Torsten P., Sven G. und René F. („Tarzan“) eine Art lokale "Hammerskin Division" aufgemacht haben.3

In den letzten Monaten wurden mehrfach bei bekannten AntifaschistInnen und Linken FMJ- und NSDAP/AO Aufkleber an den Haustüren geklebt, Namen von AntifaschistInnen werden an die bundesweiten Anti-Antifa-Strukturen weitergegeben. In den umliegenden Kleinstädten und Dörfern überfallen Neonazis aus Brandenburg und Rathenow die Landdiscos.

Auch für den Vater von Cuhrts hat sich der Trubel offenbar gelohnt: Er ist mittlerweile in Ketzin Kandidat der Liste der "Deutschen Liga" (DLVH) für die Kommunalwahlen am 5. Dezember 19934 .

Die AntifaschistInnen in Brandenburg sind jedoch keineswegs in den Winterschlaf abgetaucht: 300 Menschen beteiligten sich am 13 . November 1993 an einer antifaschistischen Demonstration gegen »Faschismus und Nationalismus« durch Brandenburg zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht.

  • 1Nachtrag: Die Gründung eines NPD-Ortbereichs Nauen (Brandenburg) fand nach Parteiangaben »in Anwesenheit des stellvertretenden Vorsitzenden der Brandenburger NPD, Patrick Cuhrts« statt. (Zündstoff # 1, 2003). Marcel Schilf zählt zu den Betreibern der dänischen Neonazi-Firmen NS-Records/NS88 Versand.
  • 2Anfang Mai 1993 sind junge Neonazis gewaltsam gegen ein Filmteam des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) vorgegangen, das in einer Gaststätte in Kirchmöser eine Geburtstagsfeier filmen wollte. Einem Redakteur wurde ein Stein auf den Kopf geschlagen, sie mussten die Dreharbeiten abbrechen, die Filmkamera wurde zu Boden geworfen. Die Neonazi-Skinheads Henning K., Roland Sch. und Michael Scho. kommen aus Kirchmöser.
  • 3Nachtrag: Im Buch "Drahtzieher im braunen Netz" heisst es zu den Hammerskins: "Für die Brandenburger Sektion fungiert das Postfach der Berliner Nationalen als Bestelladresse (...) Ihr Vorsitzender Frank Schwerdt besorgt persönlich die Weitergabe der Post an Patrick Cuhrts."
  • 4Nachtrag: Fritz Cuhrts war von 1993 bis 1996 im Vorstand der „HNG e.V.“.