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Diskussion zum 9. November Gedenken

"Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V.", "Autonome Antifa (M)" Florian Schmaltz
Einleitung

AntifaschistInnen in Göttingen haben anläßlich des vielleicht wichtigsten revolutionären Datums in Deutschland, der Novemberrevolution 1918, unterschiedliche Aktionen und ein bundesweit verklebtes Plakat organisiert. Hierzu bringen wir eine Presseerklärung aus Göttingen. In einem uns zugekommenen Beitrag werden Plakat und Presseerklärung kritisiert. Wie kein anderes Datum, steht der 9. November für die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert: 1918 Novemberrevolution, 1923 Hitlerputsch, 1938 antijüdische Pogrome, 1989 Fall der Mauer. In den zwei Beiträgen werden unterschiedliche Sicht- und Umgehensweisen in Bezug auf den 9. November deutlich. Wir sehen Stoff für eine inhaltliche Diskussion.

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-810 / Autor unbekannt / CC-BY-SA 3.0

Revolutionäre Soldaten mit der Roten Fahne am 9. November 1918 vor dem Brandenburger Tor in Berlin.

Pressemitteilung zur Antifaschistischen Aktionswoche und der Demonstration am 9. November 1993 in Göttingen

Von: "Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V." und "Autonome Antifa (M)"

Die Demonstration am Abend des 9. November 1993 in Göttingen - zum Gedenken an den Jahrestag der deutschen Novemberrevolution von 1918 und den Opfern der antijüdischen Pogrome der Faschisten um den 9. November 1938 - stellte mit 400 Teilnehmern und Teilnehmerinnen einen Höhepunkt der antifaschistischen Wochen dar.

Vom 24. Oktober bis 14. November 1993 liefen im Zusammenhang mit diesen Wochen in Göttingen eine Vielzahl von Veranstaltungen. U.a. kamen Zeitzeugen wie Emil Carlebach, ehemaliger Häftling des KZ Buchenwald und Mitglied des illegalen Lagerkomitees und Kurt Baumgarte, aktiver Kämpfer im kommunistischen Jugendverband KjVD und ebenfalls 10 Jahre von den Nazis in Zuchthäuser und KZ verschleppt, zu Wort.

Einen Mittelpunkt der antifaschistischen Wochen bildete die Ausstellung »Revolutionäre Aufstände und antifaschistische Organisationen in der Weimarer Republik« (...) In den zwei Wochen, die die Ausstellung zu sehen war, haben einige hundert Besucher und Besucherinnen sich über die politische Entwicklungen in der Zeit der Weimarer Republik informieren können. (...) Uns ging es darum, die politischen Zusammenhänge zwischen den Daten des 9. November 1918, 1923 und 1938 aufzuzeigen. Im Mittelpunkt stand dabei der 9. November 1918, das Datum der deutschen Novemberrevolution, mit der der 1. Weltkrieg beendet, die Monarchie beseitigt und politischer und sozialer Fortschritt in der Gesellschaft eingeleitet wurde. Der Kampf der revolutionären Bewegung im deutschen Reich, die weitaus mehr wollte, als die parlamentarische Demokratie, nämlich mittels Rätesystem die kapitalistische Herrschaftsordnung abschaffen, wurde in einem blutigen Bürgerkrieg unter der politischen Verantwortung der Sozialdemokratie niedergekämpft. Doch die militärische und politische Niederlage der revolutionären Bewegung reichte den rechten und bürgerlichen Kreisen nicht aus. Die Tilgung der revolutionären Erhebung aus den Köpfen und der Geschichte war ihr Ziel.

Kein Wunder also, daß der Hitlerputsch 1923 in München zum 9. November inszeniert wurde. Der von den Rechten als »Schanddatum« bezeichnete 9. November 1918 sollte durch den faschistischen Putsch historisch überflügelt und die Taten, der von den Faschisten als »Novemberverbrecher« titulierten Revolutionäre und Revolutionärinnen, aus dem Bewußtsein der Bevölkerung verschwinden. Die Nazis unternahmen alles, um nach 1933 dieses Vorhaben umzusetzen. Der 9. November wurde ein NS-Feiertag, an dem den Toten des Hitlerputsches in einer pompösen Inszenierung im ganzen Reich gedacht wurde.

So fügten sich auch Jahre später die antijüdischen Pogrome um den 9. November 1938 in dieses Vorhaben ein. Die im ganzen Reich wegen des 9. November in Bereitschaft stehenden SA- und SS-Stürme brauchten nur noch die Befehle zu erhalten, um systematisch gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung vorzugehen. Seither steht der 9. November als Datum für eines der schlimmsten Verbrechen, das durch das deutsche Volk begangen wurde.

Obwohl sich mit dem 9. November 1918 soviel anderes verbindet, als mit den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung 1938, denken wir, daß wir beiden Daten gedenken können und müssen. Sie gegeneinander zu halten, das eine neben dem anderen nicht gelten lassen zu wollen, hieße das Geschäft einer unredlichen Geschichtsschreibung zu betreiben. Wenn auch die revolutionäre Bewegung 1918 nicht siegte, sollte nicht vergessen werden, wieviele progressive Impulse trotzdem in der Gesellschart zu wirken begannen. Das allgemeine und geheime Wahlrecht, das Wahlrecht für Frauen, der 8-Stunden-Tag, um nur einige wenige Punkte zu nennen, die uns heute wie selbstverständlich erscheinen, verdanken wir der Revolution von 1918.

Plakative Revolutionsromantik

Von: Florian Schmaltz (Beirat des Auschwitz-Komitees in der BRD)

»Der Blick zurück ist nie nur ein Blick zurück. Er ist immer motiviert aus einem Interesse am Heute. Er ist immer, ob ausgesprochen oder nicht, ein vergleichender. Sei es aus Gründen der Kritik an Gegenwärtigem, sei es aus Gründen der Rechtfertigung.« Dieses Zitat von Ingrid Strobl findet sich auf einem kürzlich von der »Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation« (im folgenden BO) herausgegebenen Plakat zum 9. November 1993. Wohl zur Rechtfertigung der eigenen Praxis müssen die Sätze von Ingrid Strobl dafür herhalten, daß sich plakativ auf den 9. November bezogen wird. Nicht etwa erinnernd auf den 9. November 1938, sondern zentral auf den 9. November von 1918, auf die Novemberrevolution. Wie kann es angehen, daß eine antifaschistische Organisation ein Plakat zum 9. November 1993 herausgibt und sogar unter Verweis auf die »gern verdrängte Erinnerung« an die Stelle des Gedenkens an den antisemitischen Novemberpogrom von 1938 eine plakative Revolutionsromantik setzt? Dies erfordert eine genauere Betrachtung.

Der Blick zurück

Der Haupttext unter der Überschrift »9. November 1918 - 9. November 1993, 75. Jahrestag der Novemberrevolution und der Räterepublik« lautet: »Bis 1989 stand der 9. November im Nachkriegsdeutschland im Zeichen der Erinnerung an die gern verdrängte 'Reichspogromnacht'. Seit dem Mauerfall darf an diesem Datum in Deutschland wieder gefeiert werden. Der 9. November hat aber auch eine revolutionäre Geschichte: 9. November 1918: Sturz der Monarchie, Karl Liebknecht ruft in Berlin die 'Sozialistische Republik' aus. Bereits zwei Tage zuvor in München: Im Anschluß an eine Friedenskundgebung ruft Kurt Eisner die Republik aus. Kasernen werden gestürmt, der bayrische König flieht, Wahl eines Arbeiter- und Soldatenrates. Am 9. November 1923 wird in München der Hitlerputsch niedergeschlagen

Bereits im Einleitungssatz ist einiges verkehrt. Die Einschätzung der BO, der 9. November habe vor 1989 »im Zeichen der Erinnerung an die gern verdrängte 'Reichspogromnacht'« gestanden täuscht Bedingungen vor, wie sie niemals existiert haben. Gedenken an die jüdischen Opfer der Pogromnacht von 1938 war, gesamtgesellschaftlich gesehen, nicht weit verbreitet. Es gab anläßlich bestimmter Jahrestage, wie beispielsweise dem 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988, verstärkte Anstrengungen antifaschistischer Kräfte an diesem Tag zu gedenken. Unter den überlebenden Jüdinnen und Juden, unter den NS-Verfolgten und den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, einer kleinen Minderheit gemessen an der gesamten Bevölkerung, gab und gibt es ein Bewußtsein über die Bedeutung des 9. November 1938. Sie waren es, die in der Bundesrepublik Jahr für Jahr an den Pogrom vom 9. November 1938 und die Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 erinnerten. Das ist aber nicht zu verwechseln mit einem in der Bevölkerung verankerten kollektiven Gedenken, das es möglich macht davon zu sprechen, daß der 9. November »im Zeichen der Erinnerung« stand bis 1989.

Unklar bleibt auch, was die BO'lerInnen mit dem unpräzisen Begriff »Nachkriegsdeutschland« meinen. Wenn die BRD und die DDR gemeint sind, bleibt anzumerken, daß sich in beiden Staaten unterschiedliche Formen des staatlichen Gedenkens herausgebildet hatten.

Verdrängung und Ersetzung

Im Kontext der Aktivitäten der "Autonomen Antifa M" und dem "Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V." zum 9. November 1993 wurde nicht nur das Plakat veröffentlicht, sondern auch eine Presserklärung. In der Presserklärung erläutert die "Autonome Antifa M", warum ihrer Meinung nach am 9. November sowohl der Opfer der Pogromnacht von 1938 wie der Novemberrevolution gedacht werden müsse. Nicht beiden »Daten«, zu gedenken, »das eine neben dem anderen nicht gelten lassen zu wollen, hieße das Geschäft einer unredlichen Geschichtsschreibung betreiben.« Da es Ziel der Nazis und rechter bürgerlicher Kreise war, die »Tilgung der revolutionären Erhebung aus den Köpfen und der Geschichte« zu betreiben, sei die Erinnerung an 1918 wichtig.

Im Fluchtpunkt dieser Argumentation steht der 9. November 1938 als ein Ereignis, quasi als Höhepunkt in einer Entwicklung, die dem Vergessen der Novemberrevolution diente: »So fügten sich auch jähre später die antijüdischen Pogrome um den 9. November 1938 in dieses Vorhaben ein.« Die Pogromnacht wird in letzter Instanz so als antisozialistisch und nicht in erster Linie als antisemitisch motiviert zurechtinterpretiert. Das ist in der Tat »unredliche Geschichtsschreibung«, wenn dieses Wort aus dem Vokabular oberlehrerhafter Belehrung benutzt werden soll.

Der Ausgrenzungsprozeß, angefangen von dem Boykott jüdischer Geschäfte 1933 bis zu den »Nürnberger Gesetzen«, gerät so aus dem Blick. Das die Bedeutung des Antisemitismus vor 1938 im Nationalsozialismus aus dem Blick gerät, paßt allerdings zu einem Plakat, daß anläßlich des 9. November nicht einmal Antisemitismus heute thematisiert. Auf dem Plakat ist nur an einer Stelle die Rede von der Pogromnacht von 1938. Paradoxer Weise wird von der »gern verdrängte(n) 'Reichspogromnacht'« gesprochen, um einer Ankündigung gleich, sie im Folgenden vollkommen verschwinden zu lassen.

Wer die Opfer waren, wer die Täterinnen und Täter, die den Pogrom organisierten, wird mit keinem Wort benannt. Eine erstaunliche Leistung. Der staatlich organisierte Massenpogrom, der sich gegen alle Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland richtete, wird nicht mehr thematisiert. Kein Satz dazu, daß die Synagogen verwüstet und niedergebrannt, die Wohnungen und Geschäfte von jüdischen Menschen zerstört und geplündert wurden. Kein Wort darüber, daß 20.000 Jüdinnen und Juden allein am 9. und 10. November verhaftet und viele gefoltert und gelyncht wurden. Das alles verschwindet, indem es nicht mehr benannt wird. An die Stelle der Erinnerung an den Pogrom von 1938, der einen entscheidenden Schritt darstellte im Übergang von dem gesellschaftlichen und staatlichen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozeß von Jüdinnen und Juden, hin zur Shoah, ihrer europaweiten industriellen Vernichtung in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern, wird der Blick zurück auf die gescheiterte Novemberrevolution von 1918 gesetzt, die es vermochte die demokratische, nicht aber die sozialistische Republik zu erkämpfen. Diese Verdrängungsleistung ermöglicht es scheinbar den positiven Bezug auf die »eigene« Geschichte wiederherzustellen. In Zeiten der epochalen Niederlage der revolutionären Bewegungen wird der Mangel an eigener Stärke überdeckt, indem unkritisch der Bezug zur Novemberrevolution hergestellt wird.

Es darf gefeiert werden?

Das war aber erst der Anfang. Der Plakattext geht noch weiter: »Seit dem Mauerfall darf an diesem Datum in Deutschland wieder gefeiert werden.« Wie ist das gemeint? Darf nun gefeiert werden oder nicht? Die Irritation entsteht dadurch, daß die ironisierende Formulierung nahelegt, die AutorInnen meinen, es dürfe wirklich gefeiert werden. Natürlich nicht die Maueröffnung, sondern die revolutionäre Bewegung von 1918. Die Novemberrevolution endete aber bekanntlich in einer Niederlage, die nicht allein aus dem brutalen konterrevolutionären Terror ihrer Gegenkräfte erklärt werden kann. Die 1918 erkämpfte demokratische Republik endete im Notverfassungsstaat Brünings und macht es von daher notwendig die Niederlage der Arbeiterbewegung von 1933 mitzureflektieren. Die Niederlage des antifaschistischen Widerstandes der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus in der Weimarer Republik macht es notwendig die Fehler der Faschismusanalysen und die politischen Fehler der antifaschistischen Bewegung von damals zu analysieren.

Es geht nicht an, das Problem der Kollaborationsbereitschaft und der teilweisen Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften auszublenden und begeistert auf Erkämpftes, wie den 8 Stundentag und das Frauenwahlrecht zu blicken. Ohne den Versuch einer kritischen Aufarbeitung dieser Niederlagen bleibt der Bezug auf 1918 abstrakt und wird zur billigen Revolutionsromatik. Billige Revolutionsromantik hilft allerdings keinen Schritt weiter bei der aktuellen Frage, wie antifaschistische Politik verhindern kann, daß noch mehr Arbeiterinnen und Arbeiter faschistische Parteien wählen und rassistische und antisemitische Ersatzhandlungen und Ersatzidentitäten an Stelle von internationalistischen antikapitalistischen Widerstand treten.

Historisches Wissen über die Geschichte der antifaschistischen und der revolutionären Bewegung ist dringend notwendig, um aus den Niederlagen der Bewegungen zu lernen. Dringend notwendig ist auch die Aneignung von Wissen über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Das Wissen allein reicht aber nicht aus. Es bleibt nutzlos, wenn es nicht mit der Bemühung zusammenkommt mit Menschen der heute wieder Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzten Gruppen eine Beziehung aufzubauen. Wer sich um ein solche Beziehung beispielsweise zu den jüdischen Überlebenden des Nationalsozialismus bemüht, weiß was ihnen der 9. November bedeutet. Wer das weiß, weiß auch um ihre Angst, daß am 9. November eines Tages allem Möglichen gedacht wird, nicht mehr aber an den Terror des Novemberpogroms von 1938.

Gedenken heißt nicht nur am 9. November dem Pogrom von 1938 zu gedenken, sondern heißt die Verbundenheit mit den Opfern des nationalsozialistischen Terrors zum unverzichtbaren Bestandteil unserer antifaschistischen Kultur im Alltag zu machen.