Wurzen - schlimmer geht's nimmer?
Bereits im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) Nr. 31 berichteten wir über den Ort Wurzen bei Leipzig (Sachsen), der sich immer mehr zu einem gefestigten, überregionalen Zentrum der Neoazis entwickelt(e). Seit Oktober 1995 dient nun ein festungsartig ausgebautes Haus nebst Grundstück in der Käthe-Kolwitz-Straße als Treffpunkt der Neonazis in Wurzen. Das Haus gehört dem Rentner Walter Büttner aus Gochsheim bei Schweinfurth. In der Antwort einer Kleinen Anfrage eines SPD-Abgeordneten an den Landtag vom 1. Mai 1996 heißt es: »Insbesondere Skinheads und sonstige militante Rechtsextremisten nutzen dieses Gelände für Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Dabei treffen sich in der Regel 20 bis 40 Personen. Bei größeren Veranstaltungen kommen bis zu 300 Personen auch aus anderen Bereichen Sachsens zusammen.«
Bekannt war die Nutzung des Hauses als Neonazitreffpunkt schon einige Zeit. Für die Stadtverwaltung fingen die Probleme jedoch erst an, als »Das Haus« in den Medien bekannt wurde. Am 2. April 1996 berichtete erstmals die Wurzener Ausgabe der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Als ein ZDF-Kamerateam einen Beitrag über rechte Gewalt in Wurzen drehte, wurde es anschließend in einer Seitenstraße von Neonazis bedroht. Eine Redakteurin sagte aus, daß in dem Haus massenhaft NPD-Material gelagert worden sei. Daß die in Sachsen verbotene Reichskriegsflagge zeitweise auf dem Haus wehte ist offenbar kein Problem in der Stadt.
In einer Erklärung vom stellvertretenden Bürgermeister Jürgen Schmidt macht dieser deutlich, wo das Übel seinen Ausgang nimmt: In den Medien. Und um seine Verschwörungstheorien zu untermauern die Frage: »Wer hat die Filmleute aus dem ZDF in Mainz nach Wurzen geschickt?». Antwort: Antifa und PDS.
Organisiert ist ein großer Teil der Neonazis in der NPD. Nach Angaben des Innenministeriums von Sachsen besteht der Kern der Szene aus etwa 30 Personen. »Er ist stark politisiert, organisiert und teilweise militant. Dieser Personenkreis verfügt auch über Verbindungen zu ehemaligen Mitgliedern inzwischen verbotener neonationalsozialistischer Organisationen sowie zu bekannten Führungspersonen der neonationalsozialistischen Szene. Kontakte werden zu Rechtsextremisten im Großraum Leipzig und in andere Länder unterhalten.«, so die Antwort auf eine Kleine Anfrage des PDS-Abgeordneten Uwe Adamczyk vom 4. September letzten Jahres. Der aktivste Kern um Marcus Müller bezeichnet sich selbst als »Aktion Neue Rechte Muldentalkreis«. Marcus Müller gilt als NPD-Mitglied und hat gute Kontakte zu dem erst kürzlich zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD gewählten Leipziger Jürgen Schön.1 Der Berliner Neonazis Christian Wendt bezeichnete ihm in einem Beitrag der "BBZ-Redaktion" im neonazistischen Thule-Netz als "Leiter der Wurzener Jung-Nationalen".2
Gute Kontakte bestehen auch zum sogenannten »Leipziger Kreis« , einem regelmäßigen Stammtisch unter dem Motto »Ein Herz für Deutschland« von VertreterInnen rechter Gruppen. So wundert es nicht, daß Wurzener Neonazis den Schutz bei NPD-Veranstaltungen übernehmen, die in Leipzig stattfinden.3 Auch in Wurzen wird die Szene von der NPD dominiert. Im Rahmen der bundesweiten NPD/JN Aktionstage um den 1. Mai 1996 wurden in Wurzen Flugblätter der NPD/JN an Haushalte verteilt. Auch beim JN Bundeskongreß, der am 25./26. Mai 1996 in Leipzig stattfand, nahmen Neonazis aus Wurzen teil.
Während die Stadtverwaltung die Situation in Wurzen verharmlost, terrorisieren die Neonazis das gesamte Umland. Im Februar dieses Jahres mußten die Jugendclubs in den Gemeinden Röcknitz und Altenbach geschlossen werden, nachdem es wiederholt Angriffe auf die Clubs gab. Der Terror eskaliert(e) soweit, daß hier nur die traurigen »Höhepunkte« aufgezählt werden können.
Am 17. März 1996 überfielen mehrere Neonazis einen 53jährigen Obdachlosen und mißhandelten ihn schwer. Das Opfer wurde bereits vorher mehrfach erpreßt. Die Neonazis bewarfen den halbblinden Mann mit Steinen und anderen Gegenständen. Der 17jährige Thomas M. zielte mit einer Luftdruckpistole aus nicht einmal einem Meter Entfernung auf sein Gesicht und schoß sein noch gesundes linkes Auge aus. Der Mann ist für immer blind.
In der Nacht vom 4. zum 5. April 1996 gab es einen versuchten Brandanschlag auf die Wohnung eines Wurzener Antifas. Ein von Neonazis abgefeuerter "Pyro" (Leuchtspur-Signalmunition) durchschlug die erste Fensterscheibe blieb aber vor der zweiten liegen. Angesichts der starken Rauchentwicklung und dem flammenartig grellen Licht gingen die Wurzener davon aus, daß ihre Wohnung in Flammen steht. Kurz darauf kam es zu Auseinandersetzungen am Neonazihaus in der Käthe-Kollwitz-Straße. Die Neonazis schlugen einen der Antifas bewußtlos und schleppten ihn auf den Hof des Anwesens. Dort schlugen und traten sie weiter auf ihn ein. Das Leben des Schwerverletzten konnte nur gerettet werden, weil ein Neonazi ihn zur nahegelegenen Tankstelle schleppte und dort liegen ließ. Aufgrund dieses Vorfalls fand zwei Tage später eine Antifa-Spontandemo in Wurzen statt, bei der es auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, und zwei Personen festgenommen wurden. Während der Demo hielten sich laut zuverlässiger Quellen ca. 300 Neonazis in dem Haus auf.
Zum »Hitlergeburtstag« am 20. April 1996 feierten in Gerichshain bei Wurzen ca. 200 Neonazis eine Party im dortigen Jugendclub bzw. im und um das alte Feuerwehrhaus an der Bundesstraße B6. Den ganzen Tag war zu beobachten, wie sich Gruppen von bis zu 40 Personen in Richtung Gerichshain bewegten. »Die marschierten in Reih und Glied, sangen Lieder«, berichteten Zeugen gegenüber der LVZ. Die Polizei, die schon den ganzen Tag in Gerichshain verstärkt vor Ort war, schritt nicht ein. Peter G. aus Gerichshain soll diese Veranstaltung angemeldet haben. Er erklärte dem Bürgermeister an diesem Tag »die Geburtstagsfeier eines Kumpels« durchführen zu wollen. Nachdem sich einige Anwohner wegen Ruhestörung beschwerten, fand eine Woche später ein Treffen mit dem Bürgermeister des Ortes statt. Doch die Vertreter der Gemeinde haben kein Problem damit, daß in ihrem Ort Neonazifeiern stattfinden, sondern damit, daß so eine Massenansammlung nun mal nicht ohne Lärm abgeht und die Gaststätte nebenan Geschäftseinbußen hatte, weil sich ihre Gäste belästigt fühlten. Die Konsequenz aus diesem Vorfall: da die Lage des Jugendclubs mitten im Ort schlecht gewählt ist, denkt der Bürgermeister über einen besseren Ort für die Jugendlichen nach.
Am Himmelfahrtstag-Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1996 überfielen ca. 15 bis 20 betrunkene Neonazis die »Bennewitzer Familientage« auf dem Sportplatz in Bennewitz und schlugen drei Personen brutal zusammen. Der Trainer einer hessischen Fußballmannschaft, die dort zu Gast war, mußte mit Kieferbruch und Verdacht auf Halswirbel- und Rippenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Zeugen sagten aus: »Wir zeigten den Polizisten die Täter, aber die sagten nur, daß, das für eine Festnahme nicht ausreiche«.4 Auch daß die Neonazi-Skinheads in Anwesenheit der Beamten Nazi-Parolen wie »Hißt die rote Fahne mit dem Hakenkreuz« oder »Wir scheißen auf die Freiheit des Judenstaats« gröhlten, habe die Polizei nicht zum Eingreifen bewegt. Gegenüber SZ kommentierte Bürgermeister Anton Pausch die Vorfälle: »...es gebe doch wohl auch in Bayern bei jedem Volksfest eine Rauferei«.
Am 6. Juni 1996 fand eine Razzia der »Soko Rex« in Wurzen, Bennewitz und anderen kleineren Orten der Umgebung statt und es wurden elf Tatverdächtige wegen dieses Überfalls festgenommen. Bei Hausdurchsuchungen wurden Waffen und neonazistisches Propagandamaterial beschlagnahmt. Nach Presseberichten ermittelt das LKA auch gegen die Polizisten die damals vor Ort waren.
Nachdem mehrere Medien über die Situation in Wurzen berichteten, sah irgendwann auch Bürgermeister Anton Pausch Handlungsbedarf in Sachen besetzes Neonazizentrum. Allerdings ging es um etwas anderes: der Besitzer müßte den Alkohol-Verkauf auf seinem Grundstück beantragen. Ansonsten käme er seiner Ordnungspflicht nicht nach. Da der Eigentümer des Grundstücks dieser Bitte offensichtlich nicht nachkam, führte das Bauaufsichtsamt eine Ortsbegehung durch. Nach dieser Besichtigung kam es zu einer Hausdurchsuchung am 10. Mai 1996, bei der Anzeige wegen Verstoß gegen das Waffengesetz erstattet wurde. Die Polizei fand auf dem Dach des Hauses mehrere Molotow-Cocktails. Allerdings war die Durchsuchung den Neonazis lange vorher bekannt. Auf diese Weise ist zu erklären, daß dort keine weiteren NPD-Materialien gefunden wurden. Nach Berichten der »Sächsischen Zeitung« vom 8. Juni 1996 ermittelt die Polizei aus diesem Grund in ihren eigenen Reihen. Offiziell ist das Haus mittlerweile gesperrt. Nur die Neonazis halten sich nicht daran.
- 1Siehe AIB Nr. 35: Bundesparteitag der NPD
- 2Christian Wendt/BBZ Redaktion: "Nationaler Jugendklub dicht", 23.08.1996.
- 3Bei einer geplanten Veranstaltung von Peter Kurt Weiss (Ex-FPÖ, „Bürgerschutz Österreich“) im Leipziger Chaussehaus stellen Neonazis aus Wurzen die Security. Nichtsdestotrotz muß die Veranstaltung aufgrund antifaschistischer Proteste ausfallen.
- 4LVZ vom 20. Mai 1996