Russische Neonazis in der Offensive
Bei Oryol, einer russischen Stadt 360 km südlich von Moskau, gelang der Roten Armee 1943 einer der entscheidenden Siege gegen die faschistische deutsche Wehrmacht. Heute sind die Erinnerungen an diese Schlacht und die Verbrechen der deutschen Besatzungsarmee allerdings höchstens noch Anlaß für ein paar Gedenkreden und alljährliche Veranstaltungen. Den öffentlichen Diskurs bestimmen längst lokale rechte Strukturen.
Der Prozeß gegen die RNE in Oryol
Ein momentan in Oryol stattfindender Prozeß gegen eine Gruppe von Aktivisten der "Русское национальное единство", Partei der "Russische Nationale Einheit" (RNE), hat das ganze Ausmaß
der Unterstützung für extreme Nationalisten in der Stadt gezeigt.
Die RNE ist eine paramilitärische, nationalistische Organisation, deren Netzwerk sich über ganz Rußland erstreckt. RNE-Mitglieder tragen schwarze Uniformen und rote Armbinden mit einem stilisierten, dreifingrigen Hakenkreuz. Sie werden in Anlehnung an den RNE-Vorsitzenden Aleksandr Barkaschow (Алекса́ндр Баркашо́в) auch als »Barkashovtsy« bezeichnet.
Einer der Hauptangeklagten in dem Prozeß vor dem Regionalgericht Oryol ist der Vorsitzende der örtlichen RNE-Sektion, Igor Semyonov. Die Anklage stützt sich auf mehrere Vorwürfe: Im Dezember 1993 verteilte Semyonov ein Flugblatt, in dem die RNE den in Oryol lebenden Juden mit »Blutvergießen« drohte, wenn sie nicht die Chanukkafeiern absagen würden.1 Der zweite Anklagepunkt stützt sich darauf, daß er bei einer RNE-Versammlung dazu aufgerufen hatte, »ernsthaften Terror gegen Juden zu organisieren«. Er hatte dort Juden und MigrantInnen aus dem Kaukasus als »Feinde der menschlichen Rasse« bezeichnet. Darüber hinaus zitiert die Anklageschrift aus unzähligen Reden und Aufsätzen von Semyonov, die eine Mischung aus nationaler Überlegenheit und Terror gegen Minderheiten beinhalten.
Bei einer Hausdurchsuchung in seiner Wohnung fand die Polizei eine Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern von Juden und Jüdinnen aus Oryal. Laut Anklageschrift wurden diese Daten nach Moskau in die Parteizentrale weitergeleitet, wo sie in einem Computer gesammelt werden sollten, bis die "barkashovtsy" die Macht übernehmen. Semyonow organisierte darüber hinaus »Angriffsgruppen« und hatte geplant, Waffendepots in den Wäldern rund um Oryol einzurichten.
Neonazistische Auftrags-Killer
Gemeinsam mit Semyonov sind noch drei weitere RNE-Mitglieder angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hat erklärt, daß ein gewisser "Dumnov" Semyonovs Unterstützung dazu benutzt hat, um eine Verwandte umzubringen, um ihre Wohnung zu erhalten. Die von Semyonov empfohlenen Killer
waren gleichzeitig Mitglieder in einer der RNE »Angriffsgruppen«. Sie brachten die Frau zusammen mit ihrem kleinen Sohn im Oktober 1994 um. Der kaltblütige Mord schockierte die Bevölkerung der Stadt. Den Ermittlungsbehörden gelang es, die Mörder zu finden und die Beteiligung von Dumnov und Semyonov nachzuweisen, der im Januar 1996 verhaftet wurde. Das Mordverfahren wurde dann mit dem Verfahren wegen Nazipropaganda zusammengebracht.
Die Reaktion der Öffentlichkeit
Sehr schnell wurde deutlich, daß Semyonov in der Stadt wesentlich populärer ist, als man annehmen sollte. Die lokale Tageszeitung "Орловская правда" Orlovskaya Pravda" verteidigte ihn öffentlich. Die Zeitung, die eng mit der Regionalverwaltung verflochten ist und ohne den Segen der örtlichen Behörden keine Stellung bezieht, nannte Semyonov einen »sehr ehrlichen Mann mit Prinzipien« und stellte dann die rhetorische Frage: «Kann ein Russe, dem im heutigen Rußland die Beleidigung von Juden vorgeworfen wird, seine Unschuld überhaupt unter Beweis stellen?«
Politische Unterstützung
Auch die kommunistisch-bolschewistische VKPB-Partei (Vsesoyuznaya kommunisticheskaya partiya bolshevikov / Всесоюзная Коммунистическая партия большевиков) von Nina Alexandrovna Andrejewa (Нина Александровна Андреева) veröffentlichte einen offenen Brief zur Unterstützung von Semyonov, in dem sie erklären, daß sie Semyonov »aus vielen Jahren gemeinsamer politischen Aktivitäten« kennen.
Es ist davon auszugehen, daß sich dieser Kommentar auf Semyonovs ehemaligen Job bei dem lokalen Fernsehsender »Nakanune« (Накануне) bezieht. Dort war er zwar offiziell als Kameramann angestellt. Tatsächlich nutzte er seinen Job aber hauptsächlich, um seine politischen Kommentare im Fernsehen zu senden. Es gibt Berichte, daß die örtliche VKPB-Sektion scharf protestierte, als Semyonov dann endlich von seinem Job beim Fernsehsender gefeuert wurde. Die Tatsache, daß die Kommunisten in Oryol Semyonov als ihren Sprecher ansahen, ist nur ein weiterer Beweis für die engen ideologischen und politischen Verbindungen zwischen der extremen Rechten und den "Kommunisten" in Rußland.
Im allgemeinen wird die VKPB als radikaler und weniger nationalistisch als die KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation / Коммунистическая партия Российской Федерации) von Gennadi Andrejewitsch Sjuganow (Геннадий Андреевич Зюганов) eingeschätzt. Diese gilt als eher zur Mitte orientiert und stellt die stärkste Fraktion in der Duma. Im übrigen stellte sich aber auch ein KPRF-Abgeordneter der Regionalduma mit antisemitischen Sprüchen hinter die RNE.
Religiöse Unterstützung
Auch der örtliche Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche drückte als Zeuge vor Gericht öffentlich seine Unterstützung für Semyonov aus. Das ist allerdings kaum verwunderlich. Hochrangige Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche wie der verstorbene Metropolit von Petersburg sind für antisemitische Äußerungen bekannt. Paisy, der orthodoxe Bischof von Oryol, duldete die Gründung der sogenannten "Orthodoxen Jugend Union", die von dem bekannten RNE-Aktivisten Dimitry Lyutykh geleitet wird. Die Initiative zum Aufbau dieser Gruppe ging allerdings von der Regionalverwaltung aus.
Unterstützung der Regional-Regierung?
Semyonovs größte Trumpfkarte ist die Unterstützung, über die er innerhalb der regionalen Administration verfügt. Der Gouverneur der Region, Yegor Semyonovich Stroyev (Его́р Семёнович Стро́ев), ist gleichzeitig Vorsitzender des russischen Föderationsrates, dem Oberhaus des russischen Parlaments, und daher eine hochrangige Figur in den russischen Machtstrukturen. Das ehemalige Mitglied der Kommunistischen Partei Stroyev liebt es, sich als unabhängigen Administrator darzustellen, der in erster Linie an wirtschaftlichen Fragen und nicht an Politik interessiert ist. Sein Triumph bei den Gouverneurswahlen im Oktober 1997, wo er 95% der Stimmen gewann, wurde in den westlichen Medien als ein »Sieg der Vernunft über Parteiinteressen« bezeichnet. Aber Stroyevs Antwort auf die Frage eines Journalisten der in Moskau ansässigen Menschenrechtszeitung "Express-Khronika" nach seiner Meinung über das faschistische Revival in Oryol, zeigt seine Unterstützung für die RNE: »Ich glaube, daß das russische Volk das gleiche Recht auf eine nationale Kultur hat wie alle anderen Völker.«
Die RNE hatte sich 1993 an Stroyevs Wahlkampagne beteiligt. Später schrieb Semyonov dann, daß es der RNE gelungen sei, die Anerkennung der regionalen Administration zu erhalten, »die uns den Rücken freihält und es uns erlaubt, unsere Arbeit durchzuführen, ohne Angst vor Festnahmen haben zu müssen«.
Später arbeitete der RNE-Kader Semyonov für das Regionalkomitee der Russischen Jugendföderation, die in Oryol ein Instrument der Regionalverwaltung ist. Für seine Arbeit mit Jugendlichen erhielt Semyonov sogar eine Auszeichnung. Stoyev war bestens über den Charakter von Semyonovs Aktivitäten informiert: Semyonov unterzeichnete seine Briefe - auch an den Gouverneur - immer mit einem Hakenkreuz.
Und vor Gericht erklärte er stolz:« Ich habe unsere visuellen Propagandamaterialien immer zur Kontrolle zum FSB gebracht und es gab nie Kritik.« Das heißt, die »Experten« vom KGB-Nachfolger FSB waren immer über den gewalttätigen Antisemitismus der RNE-Poster und Flugblätter informiert und gaben ihren Segen dazu.
Gleichzeitig lehnten die Vorsitzenden des Regionalparlaments von Oryol die Einführung eines Gesetzes gegen die Verwendung von Nazisymbolen ab.2 Ihre Erklärung war einfach: »Es gibt keine faschistischen Organisationen in der Region.« In einer Stadt, in der RNE-Poster mit Hakenkreuzen an jeder zweiten Mauer kleben, spricht eine derartige Reaktion für nichts anderes als bewußte Blindheit, hinter der sich eine offene Sympathie für die Ideen der RNE verbirgt.
Gute Chancen vor Gericht?
Nachdem die langwierigen Ermittlungen abgeschlossen waren und der Prozeß begann, wurde sehr schnell deutlich, daß die Sympathien der Jury beim Angeklagten liegen. Dazu kommt, daß der vorsitzende Richter Zeugen der Anklage oft sehr unhöflich unterbricht, während Semyonov im Gerichtssaal ungehindert seinen rassistischen Theorien verbreiten kann. Obwohl die Staatsanwaltschaft eine Vielzahl von Beweisen gesammelt hat, ist das Ergebnis des Prozesses gegen Semyonov alles andere als vorhersehbar. Die Sache wird noch komplizierter dadurch, daß viele Zeuginnen sich geweigert haben, Aussagen, die sie während der Ermittlungen gemacht haben, vor Gericht - und Zuschauerrängen voller Semyonov-Sympathisanten - zu wiederholen.
Die Zukunft sieht düster aus
Die Situation in Oryol ist für russische Verhältnisse keineswegs einmalig. Es gibt nur zwei Regionen, die versucht haben, RNE-Aktivitäten zu verhindern. In Moskau scheiterte die RNE an den Registrierungsvorschriften, und in der Region von Swerdlowsk im Ural wurde sie durch ein Gerichtsurteil verboten. Andererseits wird die RNE in vielen Gegenden am Rande der Großstädte Moskau und Petersburg immer stärker. "Barkashovtsy" sind besonders in Krasnodar im Süden Rußlands einflußreich, wo der Gouverneur offen auf Seiten der Nationalisten steht. Die RNE verfügt östlich von Moskau in Vladimir über ein gut entwickeltes Netz von Sportclubs, um Kinder und Jugendliche in ihre Organisation zu locken. Gemeinsam mit der Bahnpolizei patroullieren sie in Vorortzügen auf einer Reihe von Strecken, darunter auch die diejenigen, die direkt nach Moskau führen.
Während westliche JournalisIinnen und PolitikerInnen damit fortfahren, die russische Regierung als Garanten für Demokratie anzusehen, können sich die Neofaschisten in Rußland einer wachsenden Zustimmung durch die Behörden und bei der allgemeinen Öffentlichkeit erfreuen.