Russland: Die Jugendarbeit der RNE
Journalistin aus Влади́мир (Russland)Im Oktober 1993 hatte die deutsche Neonazi-Partei FAP in Bonn eine Demonstration gegen die Verbote neonazistischer Parteien angekündigt. Hier sollten neben FAP-Chef Friedhelm Busse und dem Neonazi-Kader Michael Petri auch Alexander Barkaschow aus Russland als Hauptredner auftreten. Die Veranstaltung wurde von der Stadt Bonn untersagt. Die deutsche Neonazi-Gruppe "Nationale Offensive" war durch persönliche Kontakte mit der russischen Neonazi-Gruppe "Русское Национальное Единство" / "Russische Nationale Einheit" (RNE) von Alexander Barkaschow vernetzt. Im Dezember 1993 demonstrierten sie im Zuge einer "Solidaritätswoche" füreinander. 1997 soll der deutsche Neonazi-Kader Thomas Wulff zum RNE-Funktionär Konstantin Soltnikov nach Kaleningrad gereist sein, um eine Zusammenarbeit zu besprechen. Der folgende Brief wurde dem "Antifaschistischen Infoblatt" (AIB) von einer Journalistin aus der russischen Stadt Влади́мир (Wladimir) zugeschickt. Sie beschreibt darin die Ausbreitung der RNE in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen der Stadt und deren Folgen.
Immer, wenn ich neue Berichte von den antifaschistischen Organisationen aus den anderen Regionen Rußlands lese oder höre, kommt es mir vor, als wenn unsere Stadt Wladimir ein völlig außergewöhnlicher Ort sei. Bei uns existiert ganz legal eine nationalistische Organisation, die sich Русское Национальное Единство / "Russische Nationale Einheit" (RNE) nennt und schon Kinder ab sechs Jahren in ihre Reihen aufnimmt. Der überwiegende Teil der Jugendabteilung der RNE setzt sich allerdings aus zehn- bis vierzehnjährigen Jugendlichen zusammen.
Dabei handelt es sich keinesfalls um Einzelfälle; die Jugendlichen treten der faschistischen Organisation scharenweise bei. Zuerst locken die Barkaschovzen1 die Kinder in ihre Organisation. Dann verlangen sie von deren Eltern eine unterschriebene Bestätigung, daß diese keine Einwände gegen den Beitritt der Kinder zur RNE haben. Wenn die Bestätigung nicht beschafft werden kann, wird sie gefälscht. Manchmal ahnen die Eltern auch gar nicht, daß ihre Kinder Mitglieder der RNE sind oder sich an deren Aktivitäten beteiligen. Ungefähr ein Zehntel aller betroffenen Eltern wissen davon und sind entsetzt. Viele Eltern sind jedoch froh darüber. Sie sind der Ansicht, daß es besser sei, wenn die Kinder unter Aufsicht sind und Sport treiben, anstatt sich auf der Straße herumzutreiben.
Die Rekrutierungsmethoden sind einfach. Wenn die Barkaschovzen das Training im städtischen Fußballstadion anleiten, halten sich dort nicht organisierte Jugendliche auf. »Onkelchen, ist Ihr Kurs kostenlos?« - »Ja, kostenlos.« - »Nehmen Sie bitte auch uns auf«. Alle anderen Sportkurse in der Stadt sind in der Regel gebührenpflichtig. Und die Eltern haben - wie überall in Rußland - kein Geld. Die RNE organisiert ungefähr seit 1992 ihre eigenen Sportkurse, heute wird der Großteil aller Sportkurse in der Stadt von den Barkaschovzen kontrolliert. Außerdem spielen viele Kinder gerne Krieg und sind von der militärischen Organisationsstruktur der RNE fasziniert. Dabei spielt auch das Erscheinungsbild eine wichtige Rolle: Schwarzes Hemd mit einer Armbinde, Hose, Armeestiefel, Barett, Abzeichen - und das alles mit Hakenkreuz und Doppelblitz versehen. Der Mitgliedsausweis der RNE mit einem persönlichen Foto löst Begeisterung unter den übrigen Jugendlichen aus - auch wenn die RNE- Vorgesetzten bitten, den Ausweis nicht jeder beliebigen Person außerhalb der Organisation zu zeigen.
Aber den Erwachsenen der Stadt ist ohnehin alles egal; niemand regt sich darüber auf, daß Kinder in Naziuniform in der Stadt herumlaufen. Mit ähnlicher Gleichgültigkeit wird den Flugblättern der RNE begegnet, die überall in der Stadt hängen. Im übrigen wird auch das Flugblattverteilen den Jugendlichen überlassen.
Der Vorsitzende des RNE-Ortsverbandes in Wladimir ist der seit vier Jahren arbeitslose ehemalige Polizist, Wladimir Wladimirowitsch Malischev, Mitglied im russischen Rat der Organisation. Er wurde nach zehn Dienst Jahren aus der Polizei mit der formalen Begründung entlassen, daß er nicht zum Dienst erschienen sei. Heute legt Malischev jeden Tag die rund 120 Kilometer zwischen seinem Wohnort Гусь-Хруста́льный (Gus-Chrustalny) und Wladimir per Bahn oder Bus zurück, um zu »unterrichten«. Er lehrt Kampfkünste wie Schießen und eine militärische Ausbildung. Manchmal werden den »Kämpfern für die Befreiung des russischen Volkes« auch von gleichgesinnten Sportdirektoren die schulischen Turnhallen zur Verfügung gestellt. Nach dem Sportunterricht gehen sie alle ins »Stab« genannte RNE-Hauptquartier, wo Lektionen zur politischen Bildung erteilt werden. Man lernt dort die Biografie und Schriften des russischen Naziführers Barkaschov, »Mein Kampf«, die »wahre« Geschichte Rußlands kennen und schaut sich Lehrfilme zu den Themen an.
Die Kinder vergöttern Malischev und betrachten ihn als älteren Bruder. Jeden Tag kommen neue Mitglieder zur RNE. Die Arbeit läuft nach dem Schneeballprinzip: Jedes neue Mitglied muß mindestens noch einen Interessenten mitbringen. In der Regel sind das Schüler derselben Klasse oder Schule. Alle Schulen der Stadt sind davon betroffen. Malischev hat sein »Netz« über viele Städte im Regierungsbezirk von Wladimir geworfen. In den Orten Су́здаль (Susdal), Вязники (Wjasniki), Му́ром (Murom), Ковро́в (Kowrow) und Gus-Chrustalny gibt es Ortsverbände der RNE.
Nach der Etablierung eines neuen Ortsverbandes sucht sich Malischev zuerst den fähigsten unter den Jugendlichen - meistens einen 15 bis 17jährigen Jungen - heraus, lernt ihn an und überläßt ihm schließlich die Arbeit, wenn er dann selber in die nächste Stadt weiterzieht. Wenn die Zeit der Einberufung zur Armee kommt, helfen die älteren RNE-Mitglieder dem Jungen, in eine Militäreinheit aufgenommen zu werden, in der es RNE-Anhänger unter den Offizieren gibt. Nach dem Dienstantritt lassen sie den Jungen nicht aus den Augen, beobachten seinen Dienstverlauf, schicken Briefe und besuchen ihn. Wenn er aus der Armee entlassen wird, hilft man ihm bei der Arbeitssuche. Oft werden die jungen Mitglieder der RNE bei der Polizei eingestellt. Die Nationalisten helfen außerdem den Kindern, sich an den Militärschulen einzuschreiben.
Angesichts des Parteiprogramms ist es nicht verwunderlich, daß die Barkaschovzen den Machtstrukturen und deren Institutionen ihre besondere Aufmerksamkeit schenken, was auch auf Entgegenkommen von deren Seite stößt. Die RNE-Zeitung "Ruskij Porjadok" ("Russische Ordnung") ist die beliebteste Zeitung unter den Militärs und Polizisten in Wladimir. Sie wird kostenlos verteilt, und die Menschen nehmen und lesen sie gern.
Woher nimmt der RNE-Ortsverband in Wladimir das Geld, um seine Aktivitäten zu finanzieren, die es Malischev ermöglichen, einen Saal für den »Stab« zu mieten, die Uniformen für die Mitglieder der Bewegung zu kaufen, quer durch das ganze Gebiet zu fahren und der Hauptstadt Besuche abzustatten? Für die Herkunft gibt es bisher keine stichfesten Beweise.
Malischevs Vorgänger an der Spitze des RNE-Ortsverbandes in Wladimir war Michail Borowkow, dem es gelang, eine starke militärische Organisation aufzubauen. Er war mit dem Direktor des Wladimirer Fischwerks befreundet, der ihn eine ganze bewaffnete Einheit von sogenannten »Wächtern« organisieren ließ, die bis zu zweihundert Mann stark war. Alle Verantwortlichen in der Stadt wußten Bescheid. Auf dem Gelände des Werks spazierten junge Männer mit Hakenkreuzen herum, trainierten und hielten Unterricht in »politischer Bildung« ab. Als Wachschützer durften sie ganz legal Waffen tragen. Im übrigen war es der Direktor des Fischwerks, der zusammen mit dem Direktor des Werks für Baumaterialien Malischevs Fahrt nach Moskau im Jahr 1993 organisiert hatte, die Malischev seinen Posten bei der Polizei kostete.2 Neben mehreren erwachsenen Killern, die Александр Владимирович Руцкой (Alexander Wladimirowitsch Ruzkoi) und Руслан Имранович Хасбулатов (Ruslan Imranowitsch Chasbulatow)3 beim Putsch gegen Jelzin helfen sollten, saßen in Malischevs Auto auch mehrere Minderjährige.
Schon davor war versucht worden, Malischev wegen der Verbreitung von Pornographie zu verurteilen, was jedoch am Korpsgeist innerhalb der Polizei scheiterte. Michail Borowkow verschwand danach spurlos: In der Stadt kursiert das Gerücht, dies hänge vor allem mit Streitigkeiten innerhalb des kriminellen Milieus zusammen.
Zur Zeit stehen die Kommunisten an der Spitze der Bezirksregierung von Wladimir. Wir haben einen kommunistischen Gouverneur, einen kommunistischen Vorsitzenden der gesetzgebenden Versammlung die sich wiederum - mit wenigen Ausnahmen - aus kommunistischen Abgeordneten zusammensetzt. Die Macht reagiert in keiner Weise auf die Präsenz der RNE. Während der Wahlkampagne 1997 wurde der jetzige kommunistische Gouverneur von der RNE unterstützt. Heute sitzen zwei Barkaschovzen ganz offiziell im politischen konsultativen Rat beim Regierungschef des Bezirks. Offenbar sind auch einige Beamte der Verwaltungsbehörde Mitglieder der RNE und der "Russischen Nationalen Bewegung" (die sich von der RNE trennte, nachdem Borowkow verschwand). In der gesetzgebenden Versammlung sitzt auch der Abgeordnete Gromov, der auf seine Zugehörigkeit zur national-bolschewistischen Partei ("Национал-большевистская партия") Limonovs4 sehr stolz ist. Ein anderer, ehemaliger Abgeordneter namens Ewgenij Iluschkin gab im lokalen Fernsehen eine Erklärung ab, »daß der Journalist Lerner kein Recht dazu habe, ihn in der Presse zu zitieren, denn er sei ein Russe und Lerner ein Jude«. Iljuschkin ließ seine Äußerungen auf Video aufnehmen und nutzte sie als Wahlpropaganda, als er für das Bürgermeisteramt kandidierte. Im letzen Jahr kandidierte er noch einmal und wurde dabei von der "Коммунистическая партия Российской Федерации" (КПРФ)/"Kommunistischen Partei der Russischen Föderation" (KPRF) und der RNE unterstützt.
Bisher hat es keinerlei Untersuchungen in den lokalen Medien über die Entwicklungen in der Stadt gegeben. Junge Männer mit Hakenkreuzen spazieren bei uns in der Stadt herum, alle Häuserwände sind mit den faschistischen Flugblättern beklebt (...) Und anstelle von kritischer Berichterstattung machen einige Journalisten Interviews mit den Mitgliedern der nationalistischen Organisationen und stellen sie fast als Helden dar. Der ehemalige Stellvertreter Borokows, Ilya Denisov, hat einmal in aller Öffentlichkeit erklärt, er könne die Stadt innerhalb von drei Tagen von allen »Schwarzen« - damit sind die Angehörigen kaukasischer Völker gemeint - reinigen. Außerdem erklärte er, daß alle Juden nach Sachalin deportiert werden sollten. Niemand ist wegen dieser Äußerung gegen ihn vorgegangen.
Seit zwei Jahren werden die jüdischen Gräber auf dem Wladimirer Friedhof von jungen Menschen geschändet. Deren Namen sind bekannt, aber die eingeleiteten Gerichtsverfahren wurden in aller Stille eingestellt. Auch die Autoren der antisemitischen Parolen, die an die Häuserwände gesprüht wurden, sind gefunden worden: Jugendliche, die von den Erwachsenen dazu angestiftet und mit Sprühdosen und Texten versorgt wurden.
Den Kindern der RNE wird erzählt, daß das Hakenkreuz vollkommen normal sei, daß an allem Übel »die Juden« schuld seien usw. Es ist enorm schwierig, Jugendliche aus der Organisation herauszuholen, insbesondere bei Kindern aus zerrütteten Elternhäusern. Hier hilft auch die Jugendinspektion der Polizei nicht. Für sie ist es viel wichtiger, daß Kinder, wenn sie unter den Einfluß von Malischev und der RNE geraten, nicht mehr trinken, rauchen und »ordnungswidrig« handeln - sie sehen ja sogar anders aus. Nach einiger Zeit werden sie aus der Kartei der Jugendpolizei entfernt.
Allerdings betrachten sowohl die Polizeiinspektoren als auch aufmerksame Eltern mit Sorge die Gnadenlosigkeit, Aggressivität und Unduldsamkeit der jungen Mitglieder. Phrasen wie »man bereitet uns für den Kampf gegen Juden vor« müssen mißtrauisch machen. Dennoch sind in absehbarer Zeit keine realen Schritte von Seiten der offiziellen Macht im Kampf gegen die Rechtsextremisten zu erwarten. In fünf bis zehn Jahren werden diese Kinder erwachsen sein, erlernen einen Beruf und dann wird es vielleicht so aussehen, daß wir gezwungen sein werden, den Staat um Schutz zu bitten: Dann werden wir auf ein Hakenkreuzabzeichen an der Krawatte eines Anwalts, Richters oder Polizisten stoßen, der uns gegenüber sitzt. Und dann werden wir den Kampf verloren haben.
- 1nach dem RNE-Führer Aleksandr Barkaschow. Auch Alexander Barkaschow oder Alexander Barkashov geschrieben
- 2Die Autorin spielt hier auf den versuchten Putsch von ultranationalistischen Gruppen gegen den russischen Präsidenten Boris Jelzin an, bei dem das Weiße Haus von paramilitärischen Einheiten belagert wurde. Malischev hatte die Kinder offensichtlich zur Unterstützung der Putschisten nach Moskau gekarrt. Während des Putsches kämpfte die RNE auf Seiten des militärischen Widerstandes gegen Boris Jelzin.
- 3Zwei am Putsch beteiligte nationalistische Politiker
- 4Hinter dem Namen Эдуард Лимонов (Eduard Limonov) soll Эдуард Вениаминович Савенко (Eduard Veniaminovich Savenko) stehen.