Leipzig: "Akzeptierende Sozialarbeit" mit Neonazis in der Praxis
In Leipzig-Grünau, eins der größten Neubaugebiete in der ehemaligen DDR mit etwa 100.000 BewohnerInnen, existiert seit etwas mehr als vier Jahren das sogenannte Kirschberghaus, ein Kinder- und Jugendtreff. Ein Teil der Arbeit des Kirschberghauses ist der Ansatz der »akzeptierenden Jugendarbeit« mit rechten Jugendlichen. Durch Toleranz und Akzeptanz der Sozialarbeiter gegenüber den rechten Jugendlichen soll diesen vorgelebt werden, daß Konflikte auch anders zu lösen seien als mit Gewalt. Die Arbeit soll dort ansetzen, »wo die Jugendlichen Probleme haben, nicht da, wo sie welche machen« (Vgl. AIB Nr. 44). Diese Sichtweise vermittelt, daß Rechtsextremismus unter Jugendlichen ein Symptom für deren soziale Probleme sei. Seien diese erst gelöst, verschwände auch der Rechtsextremismus. Dieser, vor allem in den neuen Bundesländern praktizierte Ansatz geht völlig am Problem des Rechtsextremismus vorbei, da es sich nicht um ein »Jugendproblem« handelt, sondern eine breite gesellschaftliche Basis hat. Durch Bereitstellen von Jugendclubs und Räumen werden oftmals die Strukturen der rechten Szene gestützt und gefestigt.
Die obige Beschreibung trifft auch auf das Kirschberghaus zu. Angefangen hat die Arbeit des Kirschberghauses mit einer kleinen Gruppe rechter Jugendlicher, die aus ihrem ehemaligen Treffpunkt herausgeflogen waren. Im Laufe der letzten vier Jahren hat sich der Jugendclub mit einem Stammpublikum von etwa 100 überwiegend rechten Jugendlichen zu einer Art überregionalen Treffpunkt der Neonazi-Szene entwickelt, in dem laut Berichten aus der Szene auch schon bundesdeutsche Neonazi-Kader zu Besuch waren. So soll Steffen Hupka anläßlich von Aktionen zum "Kirchentag 1997 Leipzig" zu Besuch gewesen sein. Auch Jugendliche in anderen Jugendtreffs in dem Stadtteil werden durch die Aktivitäten der Neonazis aus dem Kirschberghaus angezogen. Seit etwa zwei Jahren hat die NPD hier ein festes Klientel, das durch NPD-Kameradschaftsabende und -Propagandamaterialien geschult wird. Im Haus befinden sich mehrere Proberäume, die laut Besucher-Aussagen auch von rechten Bands wie "Odessa" und "Reichssturm" genutzt werden sollen.
Die SozialarbeiterInnen scheint es nicht zu stören, daß diese Gruppen in die bundesweite RechtsRock-Szene fest eingebunden sind. Bei Neonazigroßereignissen wie in Passau, Dresden oder Leipzig und regionalen Aktionen findet man einen großen Teil der rechten Szene aus Leipzig-Grünau wieder. Einer der Aktivsten aus dem Umfeld des Kirschberghaus ist das NPD-Mitglied Daniel O. (»Ossi«). Mit mehreren Neonazis unterstützte er z.B. einige Wochen lang den Wahlkampf der NPD in Mecklenburg.1 Auch im Vorfeld der NPD-Demonstration am 1.Mai 1998 in Leipzig tauchte er bei Veranstaltungen mit Stadtpolitikern auf.
Neonaziaktionen und Angriffe - AntifaschistInnen reagieren
Im Frühjahr 1998 fand ein Neonazi-Aufmarsch von etwa 120 Nazis unter dem Motto »Keine Macht den Zecken« in Grünau statt, der maßgeblich von den rechten Aktivisten des Kirschberghauses organisiert worden war. Zum sogenannten "Rudolf Heß"-Aktionstag im August 1998 zogen etwa 70 Neonazis durch den Stadtteil. Dieser Aufmarsch wurde ebenfalls von der Grünauer Neonazi-Szene in Zusammenarbeit mit Wurzener Neonazis organisiert. Zur Neonazi-Szene im Muldentalkreis (Wurzen, Grimma, Torgau) bestehen enge Kontakte, immer wieder sehen BeobachterInnen Neonazis aus dieser Region im Kirschberghaus ein- und ausgehen.
Seit Anfang Herbst 1998 häuften sich dann Übergriffe auf linke Jugendliche und Asylbewerberinnen in Leipzig-Grünau. Ein Jugendlicher wurde am 23. September 1998 von Kirschberghausbesuchern angegriffen. Eine iranische Familie wurde zweimal Opfer der Neonazis. Nachdem ein Freund der Familie von rechten Jugendlichen zusammengeschlagen worden war, wurde knapp zwei Wochen später, am 7.0ktober 1998, der 14jährige Sohn in der Schule von rechten Mitschülern zusammengeschlagen. Am 28. Oktober wurde ein Jugendlicher in einer Straßenbahn in Grünau von zwei Neonazis überfallen. Alle Täter konnten nach schleppenden Ermittlungen festgenommen werden.
AntifaschistInnen, die auf diese Aktivitäten rund um das Kirschberghaus durch eine Klebe- und Flugblattaktion am 18. Oktober 1998 aufmerksam machen wollten, wurden aus dem Kirschberghaus von etwa 15 Neonazis mit Steinen und Leuchtspurgeschosse angegriffen. Am 1. November 1998, bei einer weiteren Protestaktion gegen das Kirschberghaus von rund 120 AntifaschistInnen, zeigte sich deutlich, wie sehr sich die drei dort angestellten SozialarbeiterInnen mit ihrem Klientel identifizieren: Die in dem Haus verschanzten Neonazis provozierten mit Hitlergrüßen, und die anwesenden Sozialarbeiter rieten den AntifaschistInnen zu: »Verschwindet hier, ihr Provokateure« und »Ihr habt hier nichts verloren, das ist nicht euer Terrain«. Wenige Tage später wurden Schüler am Grünauer Max-Klinger-Gymnasium von bekannten Neonazis bedroht, und es wurden Sprühereien wie »NSDAP Grünau« hinterlassen.
(Keine) Reaktionen von Polizei und Stadt
Daß die Situation in Grünau - gerade um das Kirschberghaus - angespannt ist, räumt auch die Polizei ein. Laut den Leipziger Beamten ist Grünau ein Schwerpunkt rechter Aktivitäten. Ansonsten verweist die Polizei Kritikerinnen an das Jugendamt der Stadt. Dort stellt man sich jedoch trotz massivster Kritik, auch von AnwohnerInnen, hinter das Projekt und sieht keine Veranlassung, das Konzept zu überprüfen. Im Gegenteil: Jugendamtsleiter Wischniewski hofft, daß der Treff seine Arbeit fortsetzt und kritisiert den Protest gegen das Kirschberghaus: »Die zwei Aufmärsche2 haben die pädagogische Arbeit von einem Jahr kaputtgemacht.«3 "Pädagogische Arbeit" der Stadt Leipzig ist es auch, die Aktivitäten der rechten Jugendlichen zu verharmlosen und zu decken. So wurde eine Fotoausstellung, die vor kurzem zu sehen war und bei der sich Jugendliche im Kirschberghaus u.a. mit Hitlergruß per Selbstauslöser fotografierten, von der Stadt unterstützt. Trotz aller Kritik und Proteste: Im Kirschberghaus geht es weiter wie gehabt, und das Jugendamt und die Stadt Leipzig stellen sich nach wie vor taub.