USA: Mörderische »Lebensschützer«
In den USA wurde erneut ein Frauenarzt ermordet, weil er Schwangerschaftsabbrüche durchführte. Die Grenze zwischen christlichen »LebensschützerInnen« und Neonazi-Terroristen verschwimmt zusehends. Am Freitag abend, den 23. Oktober 1998, erschoß ein Scharfschütze Dr. Barnett Slepian, kurz nachdem der Arzt von der Synagoge nach Hause gekommen war.
Slepian stand gerade an seinem Küchenfenster, während seine Frau und die kleinen Kinder sich in anderen Räumen des Hauses aufhielten, als der tödliche Schuß fiel. Er war dafür bekannt, daß er bei vielen Geburten im Raum Buffalo (im Nordwesten des US-Bundesstaats New York) half. Außerdem führte er Abtreibungen durch. Obwohl das FBI nach einem mutmaßlichen Täter fahndet, gab es bis zum AIB-Redaktionsschluß noch keine Festnahmen.
Dem FBI ist es bisher ebensowenig gelungen, Eric Robert Rudolph festzunehmen, der für den Bombenanschlag auf eine Frauenklinik in Alabama im Januar 1998 verantwortlich gemacht wird. Damals wurde ein Wachmann getötet und eine Krankenpflegerin schwer verletzt. Nach Eric Rudolph wird auch wegen eines Bombenattentats während der Olympischen Spiele in Atlanta 1996 gefahndet, bei dem ein Mensch getötet und über hundert verletzt wurden. Außerdem wird er für Anschläge auf eine Schwulen- und Lesbenbar und auf eine Frauenklinik gesucht. Im Oktober 1998 erhob die Justizministerin Anklage gegen ihn wegen mehreren Bombenanschlägen in Atlanta (Januar 1997 zwei Bomben in einer Abtreibungsklinik und im Februar 1997 zwei Bomben in einer Bar mit schwul-lesbischem Publikum).
Der Mord an Slepian und Rudolphs Flucht deuten auf eine gewalttätige Untergrundbewegung gegen Abtreibungskliniken und ihr Personal hin. Dieser Untergrund überschneidet sich immer mehr mit dem terroristischen Flügel der »weißen rassistischen Bewegung«, d.h. den Neonazis und den Bürgermilizen, die im Kampf für ihre »Arische Republik« Banken überfallen, Bomben in Behörden legen und Unschuldige ermorden. Die Leute, die in den USA ÄrztInnen erschiessen, gehören zu einer militanten Anti-Abtreibungsbewegung, deren Verbindungen auch nach Europa reichen.
US-Abtreibungsgesetzgebung
Bis 1973 gab es keine einheitliche Abtreibungspolitik in den USA; die SO Bundesstaaten hatten unterschiedliche Gesetze. Das »Roe gegen Wade«-Urteil des US-Verfassungsgerichts änderte die Gesetzgebung jedoch und garantierte das Recht auf Schwangerschaftsabbruch(»reproductive choice«). Darauf reagierten die VerteidigerInnen der »traditionellen Familienwerte«. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde das »Roe«-Urteil jedoch wieder eingeschränkt. Zunächst wurden die Abtreibungskosten von Sozialhilfeempfängerinnen nicht mehr übernommen. Dann bekamen öffentliche Krankenhäuser keine staatlichen Zuschüsse mehr, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche vornahmen. Dann durften Jugendliche (ohne Zustimmung der Eltern) nicht mehr abtreiben lassen etc. Trotzdem blieb das »Roe«-Urteil von 1973 im Kern erhalten.
Während die »lebensschützenden« Abgeordneten, LobbyistInnen und RechtsanwältInnen es nicht schafften, das Recht auf Abtreibung komplett abzuschaffen, wuchs eine kämpferische (rechte) Bewegung auf den Straßen. Diese Leute organisieren Massenproteste, belästigen ÄrztInnen und PflegerInnen (auch zu Hause) und ketten sich an Kliniktüren. So gelang es ihnen, Abtreibungskliniken tagelang zu schliessen - manchmal auch auf Dauer.
"Human Life International"
Die Anti-Abtreibungs-Bewegung in den USA besteht aus hunderten von lokalen und regionalen Gruppen und mehreren Dutzend landesweiten Organisationen - mit unterschiedlichen Strategien. Nach Angaben von "Planned Parenthood"1 ist das größte internationale Netzwerk die Organisation "Human Life International" (HLI) mit Ablegern in 56 Ländern. HLI hat mehrere tausend Menschen in Methoden trainiert, wie sie Abtreibungskliniken behindern können, und hat Millionen von Broschüren und Videobändern produziert. HLI wurde 1981 von dem katholischen Priester Paul Benno Marx (Father Marx) gegründet, der laut Medienberichten auch ein "Population Research Institute" (PRI) betreibt.
Sein Werdegang ist auch geprägt von Formen des Rassismus und des Antisemitismus. Marx machte u.a. Juden und Jüdinnen für Abtreibungen verantwortlich. So schrieb er 1991: »Derselbe Teil der jüdischen Community, der den Papst der Gefühllosigkeit gegenüber dem jüdischen Holocaust beschuldigt, toleriert nicht nur den größten Holocaust der Geschichte, den Krieg gegen ungeborene Kinder, sondern hat ihn sogar mehr oder weniger angeführt.«
Die Propaganda, daß die Abtreibung von Föten ein größerer »Holocaust« als der systematische Mord von Millionen von jüdischen Erwachsenen und Kindern gewesen sei, ist eine Grundlage der Anti-Abtreibungs-Proteste. Als ein »internationaler Berater« von HLI wird der Deutsche Siegfried Ernst, Gründer und Vorsitzender der "Europäischen Ärzteaktion" und langjähriger CDU-Stadtrat in Ulm, aufgeführt. Ernst war auch Vizepräsident der "World Federation of Doctors Who Respect Human Life" und Herausgeber der Zeitschrift "Medizin und Ideologie".
"Father Marx" behauptete, daß Siegfried Ernst der »größte Lebensschützer in Europa« sei. Ein deutsches Gerichte sah das anders. In einem Urteil gegen Ernst stellte der zuständige Richter fest: »Was er sagt ist derartig rassistisch diskriminierend, daß jeder unvoreingenommene Beoachter die Parallelen zur Ideologie des Dritten Reichs erkennen kann.«
Ernsts Kollege Wolfgang Borowsky, neben Alfred Häußler und Georg Götz, ein weiterer Mitbegründer der "Europäischen Ärzte-Aktion", galt als Anhänger des Komitee »Freiheit für Rudolf Hess«. Er bezeichnete den Kommunismus als »jüdische Erfindung«. Das HLI hat auch Anhänger, die die Morde an Dr. Slepian und anderen ÄrztInnen z.T. rechtfertigen. Ein HLI-Funktionär schrieb: »Entweder greifen Christen zu massenhafter Intervention - oder wir könnten gezwungen sein, auch tödliche Gewalt zu akzeptieren.« Der Übergang vom Massenprotest zum Mord ist in den USA inzwischen zu einer traurigen Realität geworden.
Mord und Totschlag
Von Anfang an hatte die Massenbewegung auch ein (inhaltliches) Element der Gewalt. Ihre Ideologie beruht auf der Aussage, daß ein Schwangerschaftsabbruch moralisch - und juristisch - dasselbe sei wie Mord. Wenn man einige »Leben« retten könne, indem man eine Klinik einen Tag lang blockiert, könne man dann nicht noch viel mehr »Leben« retten, wenn man die Klinik in die Luft jagt? Und könnte man nicht die meisten »Leben« retten, wenn man die ÄrztInnen und Pflegerinnen tötet?
Seit 1982 wurden mehr als 190 Kliniken mit Brandsätzen oder Bomben angegriffen. Die Schüsse auf Klinikpersonal begannen nach Informationen des Journalisten Will Offley 1991 in Missouri. Damals wurden zwei Menschen verletzt.
Die Morde begannen 1993, als Michael Frederick Griffin den Arzt David Gunn erschoß (auf dem Parkplatz einer Frauenklinik in Florida). Insgesamt wurden 1993 und 1994 fünf Menschen ermordet. Nach jedem Anschlag beteuerten »LebensschützerInnen« ihre Ablehnung solcher Gewalttaten. Es handelt sich um eine Art Distanzierungsritual, während andere Strömungen der Bewegung die Logik des Terrors unterstützen. Die Trennung zwischen dem christlichen Nationalismus, der Anti-Abtreibungs-Bewegung und dem weißen Nationalismus der selbsternannten »Arier« verwischt zusehends.
Auf der einen Seite begann eine rassistische Gruppe in Idaho neben Bombenanschlägen bei Banken und Zeitungsbüros auch in Frauenkliniken Bomben zu legen. Auf der anderen Seite rief der Pfarrer Matthew Trewhella, der Gründer der "Missionaries to the Preborn", dazu auf, sog. "Bürgermilizen" zu gründen. Dazwischen steht Lawrence D. Pratt (Larry Pratt) von der ultra-rechten Waffenbesitzerorganisation "Gun Owners of America". Er produziert Propagandamaterial gegen Homosexuelle und Abtreibungen. Im Oktober 1992 sprach Pratt auf einer »Arier«-Konferenz in Colorado, die als Gründungsort der extrem rechten Bürgermiliz-Bewegung gilt. 1996 leitete Pratt den Präsidentschaftswahlkampf des Republikaner-Rechtsaußen Pat Buchanan. (Vgl. AIB Nr. 33)
Der Schritt von den politischen Zielen der weißen, christlichen Nationalisten hin zur Ermordung von Juden und Jüdinnen ist möglicherweise noch kleiner, als befürchtet. Es ist gut möglich, daß Dr. Slepian als Opfer ausgesucht wurde, weil er Jude und ein Arzt war, der Abtreibungen durchführte. Von den fünf ÄrztInnen, die seit 1994 erschossen wurden, waren vier jüdisch. Wenige Tage nach seinem Tod tauchten Fahndungsposter von Slepian auf, auf denen das Wort »Jude« über sein Gesicht geschrieben worden war. Außerdem wurde Slepian auf einer Internet-Webseite unter der Überschrift »Nuremburg Fite«2 aufgeführt, die Privatadressen und andere persönliche Daten von AbtreibungsärztInnen auflistet.
(Der Artikel wurde uns vom USA-Korrespondenten der internationalen Antifa-Zeitschrift »Searchlight« zur Verfügung gestellt. Übersetzung und Überarbeitung durch die AIB Redaktion)