Neonazidemonstration in Kiel gestoppt
»Hier marschiert der nationale Widerstand«, so tönte es stundenlang durch die Kieler Straßen. Aber von Marschieren konnte nicht die Rede sein. Im Gegenteil - trotz des massiven Aufgebotes an Polizeikräften konnte die JN-Demonstration gegen die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« nur ca. 300 Meter der geplanten Demonstrationsroute vorankommen, und dies auch nur im Schneckentempo. Selbst der Rückweg wurde schwierig, und so hatte die gesammelte Neonazitruppe am Ende eines langen Tages gerade einmal einen Kilometer zurückgelegt, bevor sie nach endlosem Warten auf ihre Busse endlich abreisen konnte.
Mit einer Demonstration gegen die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht«, die im Kieler Landtag gezeigt wurde, versuchte die militante Neonaziszene am 30. Januar 1999 in Kiel, endlich einmal in Schleswig-Holstein eine größere Demonstration auf die Beine zu stellen.Die Neonazi-Szene um die ehemaligen NL-Funktionäre Thomas Wulff und Christian Worch und ihre alten und neuen Alliierten bemüht sich seit längerem, eigenständige Gruppen in Schleswig-Holstein aufzubauen. Die "Freien Kameradschaften" und ihre JN-Kameraden verfügen inzwischen in all den Städten, in denen sie immer wieder Demonstrationen und anderes durchgeführt haben, über mehr oder weniger aktionsfähige Gruppen. Diese vermögen zwar ohne direkte Unterstützung aus dem Hamburger Umland immer noch keine großen Sprünge zu machen. Aber ein Anfang, so muß befürchtet werden, ist gemacht. In Kiel besteht seit Ende der 1980er Jahre keine relevante organisierte Struktur (militanter) Neonazis mehr. Im Windschatten der Kampagnen der letzten drei Jahre und insbesondere motiviert durch die Aktivitäten des Neumünsteraner Neonazi-Treffpunkt "CLUB 88" finden sich aber auch hier wieder verstärkt Neonazis zusammen. Kieler AntifaschistInnen berichteten z.B. das Kieler Neonazis eine linke Veranstaltung im Vorfeld der Demonstration ausspähen wollten und sich dort eine bewaffnete Auseinandersetzung mit BesucherInnen lieferten. Mit dabei waren demnach der NPD-Kreisvorsitzende Gunnar Fragel, Roland F., Peter von der B. und Patrick T.
Die Neonazidemonstration wurde, dies ist im Nachhinein festzustellen, maßgeblich auch von der früheren Struktur um die verbotene Hamburger "Nationale Liste" getragen, also mehr oder weniger diejenigen Personen, die ehemals in der GdNF organisiert waren. Deren Strategie besteht darin, mit einer hohen Frequenz an Aufmärschen ihre Präsenz in der Öffentlichkeit als »normal« zu verankern - sei es unter Ausnutzung des Parteienprivilegs der NPD, die von den Gerichten (Aurhebung von Verboten) und vom Staat (Parteienfinanzierung) begünstigt wird, oder durch die kampagnenmäßige Mobilisierung gegen Ziele wie die sog. "Wehrmachts Ausstellung". Mit dieser Strategie, zu der auch weitgehend diszipliniert durchgeführte Aufmärsche gehören, haben die Neonazis gegenüber den 1970er und 1980er-Jahren bereits Erfolge erzielt. Inzwischen können sie sich weitgehend darauf verlassen, daß die Gerichte einmal erlassene Verbote aufheben und die Polizei ihnen anschließend den Weg freiprügelt. Der Rückschlag, den die Neonazis in Kiel erlitten haben, bezieht sich gerade auf diesen Punkt. Erstmals seit langer Zeit konnten sie das stets vollmundig verkündete Ziel, »ihnen gehöre die Straße« nicht durchsetzen. Trotz eines massiven Aufgebotes der Polizei, konnten sie ihre Route auch nicht ansatzweise zurücklegen. Teilweise »drohten« sie der Polizei gar mit einer Sitzblockade, um den Weitermarsch durchzusetzen. Zwar lag die Zahl der mobilisierten Neonazis mit 750-800 Teilnehmern über den Erwartungen; Demonstrationen in dieser Größenordnung hat es in den letzten Jahren jedoch mehrfach und regelmäßig gegeben. Insofern stellen sie - im Unterschied zu den Großdemonstrationen der NPD in München, Leipzig oder Rostock, die allerdings nur unter Nutzung der gesamten NPD-Infrastruktur möglich sind - keinen besonderen Mobilisierungserfolg dar.
Die Leitung der Veranstaltung lag bei altbekannten Kadern und Aktivisten von (inzwischen verbotenen) Neonaziorganisationen. So übernahm Christian Worch mit dem Anmelder die Verhandlungen gegenüber der Polizei und agierte als der eigentliche Veranstaltungsleiter. Unterstützt wurden die Organisatoren von angereisten bekannten Neonazis wie Tim Bartling (Club 88), Thorsten Heise ("Kameradschaft Northeim"), Thorsten de Vries aus Hamburg (ehem. "Deutscher Kameradschaftsbund" und "Street Rebell"), Oliver Schweigert (Berlin), Thomas Wulff (Hamburg) und Friedhelm Busse aus München (ehem. FAP). Die NPD, deren Lübecker Verband ihrer Jugendorgansation JN die Demonstration angemeldet und deren Parteivorstandsmitglied Hans-Günther Eisenecker als Rechtsanwalt die Aufhebung des Verbots der Stadt Kiel vor dem Verwaltungsgericht Schleswig durchgesetzt hatte, spielte eine untergeordnete Rolle. Eisenecker hat politische Verbindungen nach Kiel. Während seines Jura-Studiums in Kiel übernahm er 1973 den Landesvorsitz des Nationaldemokratischen Hochschulbundes (NHB) und arbeite im NPD-Landesvorstand von Schleswig-Holstein mit.
Einmal mehr hat die NPD hier den Rahmen gestellt für die Verbreitung offen nationalsozialistischer Propaganda, die sich beispielsweise in Parolen wie »jetzt oder nie - Euthanasie« spiegelte.
Erfolgreicher Widerstand
Als die Neonazis losmarschierten, reagierten die anwesenden 120 Antifas zum Entsetzen der Polizei und der Aufmarschspitze keineswegs wie diese sich das vorgestellt hatten. Anstatt sich vor der Übermacht von hunderten Polizisten und 750 Nazis zurückzuziehen, blockierten sie die Straße und gingen direkt auf die Neonazi-Demonstration los. Die Neonazis reagierten zunächst mit panischem Rückzug. Erst eine halbe Stunde später konnten sie dann tatsächlich losgehen, nachdem die Polizei die seitlichen Straßen abgesperrt hatte. Trotzdem kam der Marsch immer wieder zum Stillstand, da Antifas die Straßen blockierten und auf der geplanten Route Barrikaden errichteten, die teilweise angezündet wurden. So mußte Christian Worch schließlich verkünden, daß die Demonstration in der geplanten Form nicht durchgerührt werden könne, man müsse nun zurückmarschieren. Zurück am Wilhelmsplatz wurden noch Abschlußreden gehalten, unter anderem von Ingo Stawitz, der der Stadt Kiel auch gleich Rache schwor, »sie würden wiederkommen.«. Die Antifa-Aktivitäten werden von lokalen Antifas als Erfolg bewertet, da 2.500 Menschen, darunter 150 Antifas aus Dänemark, mobilisiert werden konnten und die Neonazis durch die Kombination verschiedener Aktionsformen zum Abbruch ihrer Demo gezwungen wurden.