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Tödlich »tolerantes« Brandenburg

Einleitung

In der Jahresbilanz rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Straftaten von Januar bis November 1998 führt das Brandenburger Innenministerium 294 Delikte auf. Unter den 92 fremdenfeindlichen Straftaten befanden sich 34 Körperverletzungen, drei Landfriedensbrüche und zwei versuchte Tötungen. Unter den 172 Straftaten mit rechtsextremistischen Hintergrund waren 130 Propagandadelikte und 17 Gewaltstraftaten verzeichnet. Elf Mal wurden Menschen verletzt, es gab drei Landfriedensbrüche, zwei versuchte Tötungen und eine Brandstiftung; dazu kommen elf Propagandadelikte, zwei Friedhofsschändungen und eine Sachbeschädigung unter den 30 erfaßten Straftaten mit antisemitischen Hintergrund. Zunächst bedeutet dies einen Rückgang der Straftaten um 45,3 % gegenüber dem Vorjahr. Das brandenburgische Innenministerium bezeichnet diese Zahlen als »erfreuliches Ergebnis«.

Foto: flickr.com; Lothar Blank/CC BY-NC-SA 2.0 DE

Doch der Schein dieser Statistik täuscht ohnehin, denn sie spiegelt nur die Straftaten wider, die in der Kategorie Rechtsextremismus erfasst werden. Die Kriterien, wann ein Angriff von Rechten auch als rechtsextremistische Straftat wahrgenommen wird, sind sehr ungenau. In diese Kategorie fallen Straftaten, nach der allgemeinen Definition erst dann, wenn die Täter Mitglieder und/oder Sympathisanten verfassungsfeindlicher Organisationen sind, oder wenn sie sich während oder nach der Tat zu ihren Tatmotiven entsprechend äußern. Geht man davon aus, daß der Großteil der Täter nicht in feste Strukturen integriert ist und nicht über ein kohärentes rechtsextremistisches Weltbild verfügt, sondern vielmehr ein dumpfer Alltagsrassismus ihr Handeln bestimmt, wird mit den obigen Kriterien ein Großteil der Angriffe nicht erfaßt.

Zumal in der Regel ein Großteil der Angriffe, insbesondere gegen alternative oder antifaschistische Jugendliche, aus Angst sowie mangelnden Vertrauen in Polizei und Justiz nicht zur Anzeige kommt. Hinzu kommen Angriffe, bei denen nicht vordergründig rassistische Motive Auslöser sind - Rassismus jedoch die ohnehin kaum vorhandene Hemmschwelle weiter senkt.

Weggucken in Rhinow...

Einer der schwersten Angriffe im letzten Jahr in Rhinow (Havelland) am 11. Oktober wurde z.B. bei der Polizei und in der Presse als Diskoschlägerei behandelt. Zwei Türsteher aus Bosnien/Mazedonien und ihre beiden bosnischen Gäste wurden bei einer Disko-Veranstaltung in der "Reithalle" von etwa 20 jugendlichen Neonazis und Rassisten mit Eisenstangen, Flaschen und Steinen angegriffen. Mohammed S. wurde am Kopf so schwer mit Eisenstangen geschlagen, daß er einen komplizierten Schädelbruch erlitt und vier Wochen im Koma lag. Ibrahim B. erlitt ebenfalls einen Schädelbruch, Dzemaili S. wurde von einer Eisenstange am Oberschenkel verletzt.

Obwohl sich der Angriff aus der Sicht der Opfer eindeutig als rechtsextrem darstellte, wird dieser Angriff in der Statistik des brandenburgischen Innenministeriums nicht als rechtsextremistische Straftat aufgeführt.1

... und in Königs Wusterhausen

Als am 19. September '98 ein in Berlin lebender Student aus Kamerun von Neonazis im brandenburgischen Königs Wusterhausen (KW) auf dem Bahnhof zusammengeschlagen wurde, faßte man drei Täter. Damals hatte der rassistische Übergriff großes Aufsehen erregt, nicht wegen der Tat an sich, die in einigen Regionen schon zur Normalität geworden ist, sondern weil der Übergriff von PassantInnen geduldet wurde. So verweigerte ein Taxifahrer ebenso jegliche Hilfe wie auch später ein Bahnangestellter.

Bei dem Prozeß am 8. Februar 1999 gegen die rechen Jugendlichen konnte sich schließlich keiner der Täter erinnern. Von dem Taxifahrer und seinem Kollegen wurde der Spieß umgedreht. In den Aussagen der Taxifahrer wurde aus dem Opfer ein Täter. William Z. habe durch »aggressives Auftreten« provoziert. Zwei der Täter, der 31-jährige Rene F. und der 26-jährige Heiko M., erhielten Bewährungsstrafen und mußten Schmerzensgeld zahlen. Der 18jährige »jugendliche Mittäter« Rene W. wurde freigesprochen. Er soll laut Aussagen von Szene-Insidern dem Umfeld der lokalen Kameradschaft "United Skins" nahestehen.

... und in Dedelow

Besondere Medienöffentlichkeit erreichte ein Übergriff im August letzten Jahres, als in Dedelow, einem Dorf bei Prenzlau, ein italienischer Bauarbeiter überfallen wurden. Auf einem Feuerwehrfest ging Luca V. (29 Jahre), einer der drei Italiener, zur Toilette und kam nicht wieder. Nach einiger Zeit fanden ihn seine beiden Begleiter: blutverschmiert, völlig benommen und unfähig zu sprechen. Er war von zwei Neonazi-Skinheads aus dem benachbarten Ort Gollmitz, Martin Hoge und David D., zusammengeschlagen worden. Mit Stahlkappenstiefeln wurde dabei sein Schädel angebrochen.

Luca V. wäre gestorben, wenn er nicht sofort notoperiert worden wäre. Doch bis er ins Krankenhaus kam, verging viel Zeit. Die Begleiter von Luca V. ging zum Fest zurück und bat alle Anwesenden um Hilfe. Einige Feuerwehrleute auf dem Fest wimmelten ab. Sechzig Menschen waren auf dem Fest, keiner wollte helfen. Auch der Wirt weigerte sich, die Polizei zu holen. Daraufhin beschloss einer der Italiener selbst Hilfe zu holen. Draußen setzten ihm die rechten Skinheads nach, angeführt von Martin Hoge. Doch der Italiener entkam und benachrichtigte die Polizei. Währenddessen wurde Luca V. zum zweiten Mal angegriffen. Eine Gruppe von mehreren jugendlichen Festbesuchern, unter ihnen auch Martin Hoge, umringten sie, beschimpften und verhöhnten den Schwerverletzten und schütteten ihm Bier ins Gesicht. Schließlich trat Martin Hoge dem Italiener gegen den Hals. Als Luca V. am Boden lag, flüchteten die Männer.

Als die anderen Italiener zum Zelt zurück kamen, war die Polizei schon da, aber noch kein Krankenwagen. Der kam erst eine Viertel Stunde später und brachte Luca V. in die Klinik nach Eberswalde. Während der gesamten Zeit standen Festbesucher um die kleine Gruppe von Italienern und Polizisten, feixten und lachten und noch, als Luca V. im Krankenwagen lag, schnitten sie Grimassen durchs Fenster. Martin Hoge tätowierte sich noch in der Untersuchungshaft die Worte „Blut und Ehre“, welche die "Hitler Jugend" (HJ) auf ihren Messern trug und die auch als deutsche Übersetzung des Neonazi-Netzwerkes "Blood & Honour" betrachtet werden können.

Am 2. März 1999 verurteilte das Landgericht Neuruppin Martin Hoge zu fünfeinhalb Jahren Jugendstrafe wegen versuchten Mordes und zweifacher Körperverletzung und seinen Mithelfer David D. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung. Beide Angeklagten versuchten die Tat vor dem Gericht als Festschlägerei zu relativieren, der kein ausländerfeindliches Motiv zugrunde gelegen hätte. Das szenetypische Aussehen der beiden Täter und deren Äußerungen nach der Tat »egal, ob die Sau stirbt« sowie die Gleichgültigkeit gegenüber dem Opfer machte selbst die Richterin fassungslos. In ihrer Urteilsbegründung merkte sie an, daß das landesoffizielle Toleranzprogramm wohl noch nicht bei den Adressaten angekommen sei.

PR statt Opferunterstützung ?

Wenn auf solche Überfälle mit Kerzen und Mahnwachen reagiert wird, dann geht es den Verantwortlichen »des Landes« in erster Linie um Brandenburgs arg lädiertes Image. Einen Tag nach der tödlichen Hetzjagd in Guben warnte Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) vor einer Vorverurteilung der jugendlichen Mörder. Sein erstes Mitgefühl galt nichtden Überlebenden und den Angehörigen, sondern den Bewohnern des Hauses, in dem Omar ben Noui verblutet war, weil niemand die Tür öffnete. Nach der ersten demonstrativen Erschütterung, folgt reflexhaft die Ergänzung, daß die Tat nichts mit Brandenburg und seinen Bürgern zu tun habe und Brandenburg kein »neonazistisch durchseuchtes Land« sei. Die Reflexe sollten mißtrauisch machen, wie ernst gemeint ein Aktionsprogramm »Tolerantes Brandenburg« ist, wenn die entscheidende Motivation die Sorge um das Image des Wirtschaftsstandorts ist. Die Sorge gilt hier nur mittelbar den Opfern, sie wer den primär als Störfaktor einer PR-Kampagne wahrgenommen.
 

  • 1Nachtrag: Einer der Täter, Christian Wendt, stammt aus der Rathenower Neonazi-Szene. Christian Wendt wurde wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch rechtskräftig zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Mittäter Christian Sch. (Rathenow) erhielt sechs Jahre Haft.