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»Ein zivilisiertes Land?« Interview mit der Jüdischen Gemeinde Königs Wusterhausen

Bild: flickr.com/robertm2007; Robert Marschelewski/CC

Seit 1989 ist die jüdische Bevölkerung in Deutschland von knapp 35.000 Menschen auf rund 80.000 angewachsen. Eine der Hauptursachen hierfür ist die jüdische Emigration aus den GUS-Staaten. Am Beispiel der am 9. Mai 2000 gegründeten Jüdischen Gemeinde im brandenburgischen Königs Wusterhausen (KW) – das AIB-LeserInnen vor allem als rechtsextreme Hochburg kennen – soll die Situation der kleinen jüdischen Gemeinden dargestellt werden. Wir sprachen dort mit zwei Vertretern des Gemeindevorstandes. Die Jüdische Gemeinde (JG) umfasst etwa 100 Personen. Alle Mitglieder sind sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Das Interview wurde auf russisch geführt.

[AIB] Wie kamen Sie dazu, in Königs Wusterhausen eine Gemeinde zu gründen?

[JG] Die ersten jüdischen ImmigrantInnen – drei bis fünf Familien – sind schon vor zwei Jahren nach KW gekommen. Ende 1999 kamen dann weitere Familien hierher. Die erste Aufgabe einer religiösen Vereinigung wie der jüdischen Gemeinde ist unserer Ansicht nach, die Menschen zusammen zu bringen. Viele Familien sind einzeln angereist. Man muss sich irgendwie organisieren, um einander zu helfen.

[AIB] Gibt es Kontakte zu anderen jüdischen Gemeinden?

[JG] Wir sind Mitglied im Landesverband der jüdischen Gemeinden und im Zentralrat. Im Land Brandenburg gibt es sieben Gemeinden: Die größte ist in Potsdam, dann folgen Frankfurt/Oder, Cottbus, Bernau. Sie existieren schon seit drei bis vier Jahren. Dann gibt es noch zwei Gemeinden im Kreis Oranienburg, die auch so jung wie diese Gemeinde hier sind. Auch dort kommen fast alle Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion.

[AIB] Wie sieht das Gemeindeleben aus?

[JG] Weil die Gemeinde noch jung ist, konnten wir natürlich noch nicht so viel aufbauen. Unser Hauptproblem ist der Raum. Wir sind Untermieter in städtischen Räumen, die wir höchstens zwei Stunden pro Tag nutzen können. Dadurch können wir kein normales Kulturangebot machen. Wir haben zum Beispiel Kontakte zu sogenannten Russland-Deutschen, mit denen wir gerne mehr machen würden. Um das Raumproblem zu lösen, haben wir vor kurzem mit der Stadtverwaltung gesprochen und hoffen, dass wir noch in diesem Jahr einen eigenen Raum bekommen.

[AIB] Angenommen, die Gemeinde hätte größere Räume: Was würden Sie machen?

[JG] Zuerst möchte ich betonen, dass wir, obwohl es hier so eng ist, doch einiges auf die Beine stellen. Zum Beispiel haben wir an Chanukka, also am 26. Dezember 2000, ein Fest veranstaltet, an dem auch Russland-Deutsche und Mitarbeiter der Diakonie teilgenommen haben. Wir hatten auch den Bürgermeister und die Zuständige für Kultur und Sport aus der Stadtverwaltung eingeladen. Aber weil unser Fest auf den 26.12. fiel, wenn in ganz Deutschland Weihnachten gefeiert wird, sind sie nicht gekommen. Aktuell machen wir u. a. eine Vorlesungsreihe zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Demnächst werden einige Praktikantinnen aus Israel für ein Jahr hierher kommen, die mit unseren Kindern arbeiten sollen. Und der Landesrabbiner gibt religiösen Unterricht. Lektoren von der Zentralen Wohlfahrtsstelle (ZWSt) kommen oft zu uns, um z.B. Kaschrut (Speiseregeln) und die ganzen religiösen Alltagsaspekte zu unterrichten. Das ist besonders schwierig für Immigranten aus der ehemaligen SU, weil sie so etwas in Russland gar nicht lernenkonnten.

[AIB] Werden von der Stadt oder von öffentlichen Einrichtungen Sprachkurse angeboten?

[JG] Die meisten Mitglieder der Gemeinde haben schon Deutschkurse gemacht. Aber z. B. Rentner ab 60 Jahren haben kein Recht auf bezahlte Kurse. Darum haben wir mit der Volkshochschule KW ein Programm für ermäßigten Sprachunterricht aufgebaut. Auch die Kinder bekommen keine Sprachkurse bezahlt: Sie kommen sofort in die Schule, wo sie natürlich große Probleme haben. Inzwischen konnten wir für sie mit Hilfe der Diakonie auch einen kostenlosen Kurs organisieren.

[AIB] Wie ist die soziale Situation der Gemeindemitglieder?

[JG] Weil die meisten erst kurz hier sind, beziehen mehr als 90 Prozent der Gemeindemitglieder Sozialhilfe. Die Arbeit, die sie hier machen, sind die Zweimark-Pro-Stunde Sozialhilfeempfängerjobs. Und das, obwohl die Mehrheit von uns Hochschulabschlüsse hat. Jetzt gibt es das Programm »Arbeit statt Sozialhilfe«, an dem sich verschiedene Firmen in KW beteiligen. Sie bieten überwiegend nicht qualifizierte Jobs an, die man nicht absagen kann. Im Russischen nennen wir das »freiwillige Zwangsarbeit«. Neulich gab es ein Treffen von Leuten aus der Gemeinde, Russlanddeutschen und einer Firma, die sich mit Sprachunterricht und der beruflichen Weiterbildung von Umsiedlern beschäftigt. Sie bieten Intensivsprachkurse und anschließend sechs Monate unterschiedliche Qualifikationskurse an, z.B. für Informatik. In Oranienburg funktioniert das schon ganz gut, da beziehen kaum noch Leute Sozialhilfe.

[AIB] Ähneln Ihre Probleme denen der Russlanddeutschen?

[JG] Es gibt ziemlich große Unterschiede, was die Ausgangspositionen angeht – die ja vom deutschen Staat bestimmt werden. Sie bekommen sofort die deutsche Staatsbürgerschaft – die Juden nicht. Und wenn Russlanddeutsche in Russland zehn Jahre gearbeitet haben, zählen die Jahre hier. Das wirkt sich dann beispielsweise auf die Rentenzahlung aus. Weil wir als Kontingentflüchtlinge angereist sind, bekommen wir eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, und nach sieben Jahren in Deutschland können wir die Staatsbürgerschaft beantragen – wie andere Ausländer. Früher gab es extra Bestimmungen für Kontingentflüchtlinge; heute fallen wir unter das allgemeine Ausländerrecht.

[AIB] Werden Sie in Heimen untergebracht?

[JG] Hier gibt es Unterschiede zu Russlanddeutschen. Für jüdische Flüchtlinge gibt es in jedem Bundesland eine Zentrale Aufnahmestelle. Wir bleiben dort einige Tage, dann werden wir entsprechend der Quoten in unterschiedliche Orte verteilt. Bei diesen Quoten wird nicht berücksichtigt, ob es jüdische Gemeinden in der jeweiligen Stadt gibt.

[AIB] Wird Ihnen von der deutschen Bevölkerung mit Antisemitismus begegnet?

[JG] Seitens der Bevölkerung wird uns an sich nicht mit Antisemitismus begegnet. Aber mit der Stadtverwaltung gibt es strittige Fragen, z. B. bei den »Zwangsjobs«. Wir verstehen natürlich auch, dass das keine Schikanen der Stadtverwaltung sind, sondern bundesweite Politik. Insgesamt würdeich den Kontakt mit der Stadt aber positiv einschätzen.

[AIB] Hatten Sie schon Erfahrungen mit antisemitischen Übergriffen?

[JG] Einmal wurden die Reifen von meinem Auto zerschnitten. Die Täter wurden aber nicht ermittelt, daher ist es schwer zu sagen, ob es Rechtsextremisten waren oder Nachbarn, die mich nicht mögen. Natürlich wissen wir, dass KW ein Stützpunkt von Nazis ist, wir haben ja auch die Aufmärsche mitbekommen. Selbstverständlich machen wir uns deshalb Sorgen, aber bisher gab es noch keine Drohungen.

[AIB] Was lösen die antisemitischen Anschläge wie in Potsdam oder Guben gegen die jüdischen Friedhöfe bei Ihnen aus?

[JG] Natürlich sind davon nicht nur Juden betroffen, sondern alle Ausländer. Wir versuchen, einen politischen Umgang damit zu fordern. Zum Beispiel haben nach dem Anschlag in Potsdam alle jüdischen Gemeinden Briefe an das Innenministerium geschrieben und gefordert, wenigstens unsere Kultstätten und Versammlungsräume besser zu schützen. Die bisherigen Schritte vom Staat scheinen ineffektiv zu sein, weil sie sich mehr mit Folgen statt mit Ursachen beschäftigen. Es istdoch unmöglich, neben jeden einzelnen Menschen einen Polizisten zu stellen. Und bei einigen älteren Leuten gibt es Ängste. Wir sind ja nach Deutschland gekommen mit der Einschätzung, das ist ein zivilisiertes Land, und haben so etwas nicht erwartet. Aber wenigstens gab es noch keine Übergriffe auf Jugendliche. Die Kinder unternehmen viel mit Deutschen – Billardspielen oder Diskobesuche. Mein Sohn hat aber erzählt, dass es in seiner Schule auch Gruppen von Jugendlichen gibt, die sich ganz stark von unseren Jugendlichen abgrenzen.

[AIB] Meinen Sie, dass auch Sie als jüdische Gemeinde etwas gegen Neonazismus unternehmen müssten?

[JG] Ja. Wir haben z. B. an einem Landesprogramm teilgenommen, in dem die Kinder ab der 5. Klasse an den Schulen über Antisemitismus informiert werden. Manchmal wurden mit Kindern und Eltern Diskussionsrunden gemacht. In vielen Fällen verbessert sich danach die Situation.

[AIB] War Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion für Sie ein Grund, nach Deutschland zu kommen?

[JG] Antisemitismus auf unterschiedlichen Ebenen – vom Alltag bis zur staatlichen Politik – war der Hauptgrund, nach Deutschland zu gehen. Wir wussten dort zwar, dass es hier Angriffe auf Ausländer gibt. Aber wir dachten, es geht um einzelne Vorfälle, die von staatlicher Seite bekämpft werden, nicht um die staatliche Politik. Wir haben uns entschieden, nach Deutschland zu kommen, weil es da, wo wir herkommen, noch schlimmer ist.

[AIB] Sie kommen ja in ein Land, in dem jüdische Kultur durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden ist. Wie sehen Sie Ihren Beitrag am Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland?

[JG] Hauptziel ist nicht nur die Integration in die deutsche Gesellschaft, so dass die Kontakte mit Deutschen reibungslos verlaufen. Die Probleme liegen ja auch darin, dass man sich auf ganz alltäglicher Ebene unterscheidet. Viel wichtiger ist, dass aufgeklärt werden muss über jüdische Geschichte, Kultur und Traditionen. Dazu gehört auch, dass es Kultureinrichtungen gibt, die öffentliche Angebote – auch für Nichtjuden – machen. Außerdem möchte ich Ihnen sagen, dass wir uns sehr über den Kontakt zum AIB freuen. Es ist doch auch ein Zeichen von Integration, dass sich deutsche Zeitungen für uns interessieren.

[AIB] Wir bedanken uns sehr für dieses Gespräch.