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Göttingen: Lokalpatriotismus und Militanz

Einleitung

Für den 29. Januar hatte die NPD einen Aufmarsch in Göttingen angemeldet, zu dem sie unter dem Motto »Gegen linken Terror, Presselügen und Justizwillkür!« bundesweit mobilisierte. An diesem Tag sollte nach Ankündigung der NPD der »gesamte Nationale Widerstand vereint durch Göttingen marschieren, um in der letzten Hochburg der Linken nationale Präsenz zu zeigen.« Wie bereits am 6. November, als die Partei, unterstützt vom Nationalen und sozialen Aktionsbündnis Norddeutschland, sowie den Blood & Honour Sektionen Niedersachsen und Hessen, einen Aufmarsch unter ähnlichem Motto angekündigt hatte, verhinderten dies aber die vom OVG Lüneburg ausgesprochenen Verbote.

Martin Gotthardt von der NPD Göttingen als Redner im Mai 2003 in Hannover.

Antifaschistische Bündnisse

Großen Anteil am zweimaligen Scheitern der NPD hatten nicht zuletzt die breiten antifaschistischen Gegenmobilisierungen. Am 6.11. demonstrierten über 5000 Menschen gegen den angekündigten Nazi-Aufmarsch, am 29.1. trotz strömenden Regens immerhin 2000. Geplant wurden die antifaschistischen Aktivitäten in verschiedenen Bündnissen, die trotz unterschiedlicher Zielsetzungen bemüht waren, miteinander zu kooperieren. Im Oktober konstituierte sich auf Initiative des DGB ein stadtweites Vorbereitungstreffen, an dem sich schließlich über 90 Gruppen in einem äußerst breiten Spektrum beteiligten. Kleinster gemeinsamer Nenner war das Ziel, den Aufmarsch zu verhindern. Die Formulierung weitreichender politischer Inhalte war aufgrund der Breite dieses bürgerlich dominierten Bündnisses nicht möglich. Mit der Parole »Eine Stadt wehrt sich!« und der Abbildung des »Gänseliesels« (dem Wahrzeichen der Stadt) auf dem Plakat zum 6.11. wurde stattdessen an den Göttinger Lokalpatriotismus appelliert, Positiv für die unabhängigen Antifagruppen war, daß die Mehrheit des Bündnisses (außer insbesondere vor dem 6.11. die Grünen) sich nicht von den Gruppen distanzierte, die offensive Blockadeaktionen gegen den Nazi- Aufmarsch forderten.

Die CDU: Gegen Extremismus von links und rechts

Zudem scheiterte der Versuch von CDU und Junge Union (die dem Bündnis zum 6.11. nicht angehörten, wofür selbst die konservative Lokalpresse sie kritisierte), im Vorfeld des 29.1. »linksradikale, gewaltbereite und demokratiefeindliche Kräfte« auszuschließen. Die so Zurückgewiesenen traten einen Tag vor dem geplanten Naziaufmarsch mit einem eigenen Bündnis gegen menschenverachtende Ideologien, Gewalt und Intoleranz an die Öffentlichkeit. In ihrem lediglich von CDU-Gruppierungen, wie dem RCDS, der Mittelstandsvereinigung oder der Seniorenunion sowie der Göttinger MdB Rita Süssmuth unterzeichneten Appell »Kein Extremisten Aufmarsch in Göttingen!« warnten die Verfasser, Göttingen dürfe nicht zum »Spielball und Tummelplatz von Demokratiefeinden rechter wie linker Prägung verkommen«. Außerdem müsse der »antitotalitäre Konsens« bewahrt werden. Daß sich »Demokratiefeinde rechter Prägung« nicht nur in der örtlichen NPD, sondern auch im Göttinger RCDS tummeln, sei hier nur am Rande erwähnt. So ist z.B. mit dem Burschenschaftler Christian V. ein  Autor der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit im RCDS aktiv.

Die Göttinger Linke: Zwischen Konflikt und Kooperation

Neben dem vom DGB initiierten Bündnis konstituierte sich ein linkes Vorbereitungstreffen, das die Aufmärsche offensiv verhindern wollte. Gemeinsame inhaltliche Positionen wurden auch hier nicht erarbeitet. Dies lag zum Teil an unterschiedlichen strategischen Einschätzungen. So vertrat z.B. die Autonome Antifa (M) das Konzept des vermummten Schwarzen Blockes, um eine größere öffentliche Wahrnehmung zu erreichen. Diese Ansicht wurde allerdings von den wenigsten Gruppen geteilt. Unterschiedliche Meinungen gab es auch in der Frage der Zusammenarbeit mit einem bürgerlichen Bündnis, an dem sich auch SPD und GRÜNE beteiligten. Unter solchen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass das linke Stadtbündnis in erster Linie als Koordinierungsgremium fungierte. Auchauf einen Redebeitrag für die Abschlusskundgebung des DGB am 29.1. konnte man sich nicht einigen. Dennoch können sowohl der 6.11. als auch der 29.1. für die radikale Linke als erfolgreiche Mobilisierungen bezeichnet werden. Das autonom-unabhängige Antifaspektrumbildete bei beiden Terminen den Großteil der Demonstrierenden.

Antifaschistische Politik an der Uni

Auch die Göttinger Uni-Linke konsolidierte sich während beider Mobilisierungen neu. Über 20 Hochschulgruppen schlossen sich zum Unibündnis gegen den Naziaufmarsch zusammen, das zum einen im stadtweiten linken Vorbereitungstreffen mitarbeitete, zum anderen eigene (Auftakt)Kundgebungen bzw. Demonstrationen organisierte, die die Aufmärsche aktiv verhindern sollten. Dabei bemühte sich das Bündnis, insbesondere vor dem 29.1. zusätzliche inhaltliche Akzente zu setzen. So fanden mehrere gut besuchte Veranstaltungen statt, die sich mit rechten Ideologien und Strukturen sowie antifaschistischen Strategien befassten. Zugleich war die Arbeit jedoch auch von der polizeilichen Repression geprägt. Auf dem Weg zur Kundgebung am 6.11. wurde beispielsweise der Vorsitzende des ASTA und Anmelder der Kundgebung festgenommen. In der Woche vor dem 29.1. kam es zu einem Skandal, als sich das Gerücht bestätigte, wonach die Göttinger Polizei den Campus über Wochen in Absprache mit der Unileitung nachts von mehreren Uni-Gebäuden aus observierte. Wenn auch eine große Politisierungswelle an der Uni ausblieb, gelang es dem Uni-Bündnis doch, eine größere Öffentlichkeit für die fragwürdigen Methoden der Göttinger Polizei zu sensibilisieren. Von zentraler Bedeutung ist die Existenz des Bündnisses über den 29.1. hinaus.

Neonaziterror...

Dies ist auch dringend nötig. Denn seit ca. einem Jahr entwickelt die Göttinger Neonaziszene rege Aktivitäten. Als organisatorischer Kern dient dabei der Kreisverband der NPD, der enge Kontakte zur Kameradschaft Northeim um Thorsten Heise hat. Die beiden Demonstrationsaufrufe der NPD richteten sich auch gegen Heises Verurteilung durch das Göttinger Amtsgericht. Auch wenn es der hiesigen Neonaziszene bisher nicht gelungen ist, ihre personelle Basis (10-15 Personen) entscheidend zu vergrößern, und ihre »Führungskader« Stephan Pfingsten, Daniel Hubert, Stephan Sch. und Martin Gotthard nicht gerade durch übermäßige Intelligenz oder politisches Geschick auffallen, darf sie in ihrer Gewaltbereitschaft nicht unterschätzt werden.

...in Vorbereitung

Am 30. November durchsuchten das BKA im Auftrag der Bundesanwaltschaft die Wohnungen von vier Göttinger Neonazis, gegen die wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung ermittelt wird. Angeblich wurde dabei für den Bombenbau geeignetes Material sowie entsprechende Anleitungen beschlagnahmt. Der niedersächsische Verfassungsschutz rechnet die Verdächtigen der Anti-Antifa zu. Dass die Gefährdung von Antifaschistinnen durch Anti-Antifa-Aktivitäten wohl doch größer war bzw. ist, als von der Polizei geäußert, bestätigte sich Ende 1999, als Beamte des LKA einzelne Antifaschistinnen vor möglichen Briefbombenanschlägen warnten.Kurz darauf ließen LKA-Spezialisten gar aufgrund eines auffälligen, an einen Antifaschisten adressierten Päckchens ein Postzentrum und Umgebung räumen. Glücklicherweise handelte es sich hierbei um einen Fehlalarm.

...und in der Praxis

Einschüchterungsversuche unternahm die Neonaziszene auch im Vorfeld des 29.1. In einem anonymen Schreiben drohten sie: »DGB-Demo am Samstag soll mit Schusswaffen angegriffen werden.« Tatsächlich wurde am vorgesehenen Kundgebungsplatz der NPD ein mit vier Schuss Munition geladener Revolver gefunden. Obwohl damit wohl in erster Linie ein Verbot der DGB-Demonstration erwirkt werden sollte, war der Fund ein weiterer Hinweis auf den waffentechnischen Ausrüstungsstand der Neonaziszene. Den vorläufigen Höhepunkt gewalttätiger Nazi-Aktionen in Göttingen stellt allerdings die wiederholte Schändung des Jüdischen Friedhofs in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar dar. Es ist nicht auszuschließen, daß hier die gleichen Täter am Werk waren, die einige Nächte später u.a. die Schaufenster des linken Buchladens »Rote Straße« mit antisemitischen Parolen besprühten.

Einige Rückschläge

Dennoch mußten die Neonazis neben den gescheiterten Aufmarschversuchen weitere Rückschläge hinnehmen. Nachdem bereits im Juli das Auto von Stephan Sch. verbrannte, verübte die antifaschistische Brigade Söderberg Ende Oktober in Northeim einen Brandanschlag auf das Auto von Heise. Dabei wurde seine Garage, in der mehrere tausend CDs mit Nazi-Musik lagerten, komplett zerstört. Ende Februar führte Die Polizei bei dem Kameradschaftsführer eine Razzia durch und beschlagnahmte über 1.500 Tonträger und Videos mit rechtsextremen Inhalten im Wert von 80.000 DM. Für den 15. April hat die NPD einen weiteren Aufmarsch in Göttingen angemeldet, der unter dem Motto: »Keine Diktatur der EU! Keine Unterdrückung Österreichs!« steht. Eine breite Gegenmobilisierung hat bereits eingesetzt. Bleibt also zu hoffen, dass auch der 15.4. für die Nazis in Göttingen zu einem äußerst unerfreulichen Tag wird.