Das Europäische Widerstandsarchiv
ERA (European Resistance Archive) ist ein Online-Archiv der Widerstandsaktivitäten gegen Faschismus und Besatzung während des zweiten Weltkrieges in Europa. Kern des Webportals sind bisher 20 Videointerviews mit Frauen und Männern, die am antifaschistischen Widerstand in verschiedenen europäischen Ländern teilgenommen haben.
Ein Rückblick
»Bis 1936 haben wir gesungen: ›Nie, nie wollen wir Waffen tragen! Nie, nie wollen wir wieder Krieg. Laßt doch die oben sich alleine schlagen, wir machen einfach nicht mehr mit‹. Da kamen die alten Genossen und sagten, der Hitler steht vor der Tür mit bewaffneten Diskussionen und ihr wollt euch nicht zur Wehr setzen. Es gab eine Riesendiskussion im Jugendverband und da haben wir beschlossen wir lernen Schießen und eine neue Kampfsportart, die die Nazis nicht mal vom Namen her kannten. Heute ein alter Hut, damals das neuste: Jiu-Jitsu, trainieren der Handkantenschläge. Damit konnten wir uns gegen die Mehrheit der Nazis durchsetzen. Wenn zum Beispiel ein Jugendheim eingeschlossen war, von nazistischen Schlägern und ihrem Umfeld, wie sollten wir die Gruppe in dem Jugendheim befreien? Mit defensiven Mitteln? Das ging nicht. Da mussten wir angreifen und wenn erst mal ihre Schläger außer Kraft gesetzt waren, dann wichen die anderen und wir konnten unsere Leute aus dem Jugendheim heraus holen. Das passierte öfters, die Erwachsenenorganisation der Sozialdemokraten, also die Sozialisten, die Rote Wehr, später republikanische Wehr, war strickt auf Defensive eingestellt.
Das war gut, wenn es die Volkshäuser zu verteidigen galt gegen den Angriff der Nazis. Das war gut bei Demonstrationen, wo die rote Wehr am Anfang und am Schluss ging, aber wenn, wie es einige Male passiert ist, ein Veranstaltungslokal auf einem kleinen Dorf eingekreist war von den Nazis, ein Teil von unseren Leuten war schon drin und der andere Teile wollte noch rein zu der Veranstaltung und konnte nicht, na da wurde unsere Pionierabteilung gerufen. Da haben wir dafür gesorgt, dass der Ring um das Haus gesprengt wird mit unserer Kampftaktik, mit unseren neuen Kampfmethoden war das möglich.« (Lorenz Knorr im Interview für ERA)
Wozu das Ganze?
ERA entstand zwischen August 2006 und Mai 2007 in Zusammenarbeit von neun Organisationen in sechs europäischen Ländern. Das Projekt konnte dank einer Finanzierung durch die Europäische Kommission realisiert werden.
Es ist heute nicht mehr oft möglich mit WiderstandskämpferInnen zu sprechen, die meisten Menschen dieser Generation sind tot. Besonders schwierig ist es, mit Protagonisten aus anderen Ländern zusammen zu kommen, das scheitert oft schon an finanziellen Schwierigkeiten, da sich insbesondere junge Menschen meist keine Reise zum Beispiel zu der Wanderung mit PartisanInnen »Sentieri Partigiani« in Italien leisten können. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee einen Ort im Internet zu schaffen, an dem Videointerviews mit WiderstandskämpferInnen gesammelt und für alle frei zugänglich verfügbar gemacht werden.
ERA ist weder ein akademisches Portal nur für Historiker, noch ist es eine Art Widerstands-YouTube, auf dem sich die User durch die spannendsten oder witzigsten Episoden des europäischen Widerstands klicken. Mit ERA wurde ein Raum geschaffen, in dem die individuellen Geschichten von Menschen lebendig und sichtbar gehalten werden, die sich dem faschistischem Terror, der Erniedrigung und Verzweiflung widersetzt haben. Sie kämpften auf vielfältige Art und Weise, manchmal bewaffnet, oft aber auch nicht.
Jede/r Interviewte berichtet von sich, Frauen und Männer aus Italien, Frankreich, Polen, Slowenien, Österreich und Deutschland erzählen ihr Leben, von ihrem persönlichen Weg zur Entscheidung sich dem Widerstand anzuschließen zu den Widerstandsaktivitäten, dem Leben in der Illegalität, in Gefangenschaft oder von ihrem Erleben der Befreiung. Der Widerstand bekommt ein Gesicht oder besser viele Gesichter, denn gestern wie heute sind es nicht namenlose Teile einer Bewegung, die ihrem Gewissen folgen und für Menschlichkeit und Frieden kämpfen, sondern einzelne Menschen, die jeder für sich Entscheidungen treffen und für diese mehr oder weniger konsequent einstehen.
Kontextübergreifend
Die Bedingungen von Faschismus, Besatzung, Kollaboration und Widerstand unterscheiden sich im europäischen Vergleich stark voneinander. ERA bietet spezifisches Wissen über die verschiedenen Widerstandsbewegungen und ihre unterschiedlichen Auswirkungen innerhalb der jeweiligen nationalen Kontexte. Mit ERA soll auch dazu beigetragen werden, die immer noch in aktuellen geschichtlichen Diskursen vorherrschende nationale Perspektive zu erweitern, denn Widerstand entwickelte sich überall, wo Faschismus und Nationalsozialismus herrschten. An der Entwicklung der Internet-Plattform waren 80 Jugendliche aus sechs Ländern aktiv beteiligt. Sie führten alle Zeitzeugeninterviews und wurden von Historikern, Erinnerungsarbeitern und einem professionellen Video-Team begleitet und unterstützt.
Die Website ist in allen Teilen auf Englisch, die jeweiligen länderspezifischen Seiten sind außerdem in der Landessprache verfügbar. Neben den Videointerviews mit den ZeitzeugInnen enthält ERA Kurzbiografien und Bilder der Interviewten. Alle Interviewtranskriptionen sowie ihre englischen Übersetzungen sind herunterladbar, um dadurch die Arbeit in Seminaren oder im Unterricht zu vereinfachen. Die Interviewclips werden in Originalsprache abgespielt, per Mausklick werden englische Untertitel eingeblendet.
Auf animierten Landkarten werden zum Beispiel wichtige Widerstandsorte und Konzentrationslager sowie Informationen über sie dargestellt. Außerdem werden kurze Einführungen zum Widerstand in jedem Land, in dem bisher Zeitzeugen für ERA interviewt worden sind, ein Making of-Video und Infos zu den am Projekt beteiligten Organisationen gezeigt.
UnterstützerInnen willkommen
Das Web-Archiv ist eine offene und weiter wachsende Plattform. Interessierte Gruppen oder Einzelpersonen können aktiv zur Gestaltung von ERA beitragen, indem sie selbst Zeitzeugeninterviews führen und audiovisuell aufzeichnen, diese dann bearbeiten, transkribieren und übersetzen. Auf diese Weise dokumentierte Interviews können jederzeit online gestellt werden. Es ist auch möglich, bereits existierende Videoaufnahmen von Interviews zu verwenden. Wer Erfahrung im Übersetzen hat kann Teile der Website in andere Sprachen übertragen. Alle Interviews können mit Untertiteln in verschiedenen Sprachen versehen werden, die Übersetzungen werden außerdem als Download zur Verfügung gestellt.
ERA ist in verschiedene Richtungen erweiterbar. Wünschenswert wäre die Angliederung eines Audio- und Musikarchivs, da es zahlreiche Radiobeiträge zum Thema gibt und hunderte zeitgenössische Interpretationen von Liedern der europäischen Widerstände existieren und neu entstehen. Sie zu dokumentieren, in andere Sprachen zu übersetzen und an einem frei zugänglichen Ort im Internet zu sammeln wäre ein weiterer Schritt zu einem tatsächlichen Archiv des europäischen Widerstands, einem Archiv antifaschistischer Kultur, Erfahrung und Bewusstsein.
Da sich die Förderung durch die Europäische Kommission auf die Realisierung des Web-Portals beschränkte, ist ERA nun auf die Mitwirkung Geschichtsinteressierter und auf finanzielle Unterstützung angewiesen um weitere Interviews führen zu können und die Erinnerung eines wichtigen Teils europäischer Geschichte vor ihrem endgültigen Verschwinden zu bewahren.
Kontakt:
www.resistance-archive.org
era [at] resistance-archive.org (era[at]resistance-archive[dot]org)
Büro Berlin: +49 (0) 30 70071871
Büro Reggio Emilia: +39 0522 580890