(Keine) Gewöhnung an Ausgrenzung und Terror
Heike KleffnerJeden Tag kommt es in Deutschland im statistischen Durchschnitt zu mindestens drei Gewalttaten mit politisch rechtem oder rassistischem Hintergrund. Dabei muss von einer wesentlich höheren Dunkelziffer ausgegangen werden.
So geht das Bundesinnenministerium für das Jahr 2007 lediglich von insgesamt 1054 so genannten »PMK-Rechts«-Gewalttaten1 aus, während die Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt alleine in den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt für den gleichen Zeitraum mindestens 861 Fälle registriert haben.
In den Statistiken der Opferberatungsprojekte wird deutlich, dass zumindest in den neuen Bundesländern und in Berlin nicht-rechte Jugendliche und junge Erwachsene die größte Gruppe von Betroffenen rechter Angriffe sind. Die zweitgrößte Gruppe sind diejenigen, die aus rassistischen Gründen angegriffen werden. Eine weitere große Opfergruppe sind Obdachlose und sozial Randständige: hier muss von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden.
Seit Beginn der ersten Hochphase rechtsextremer Mobilisierungen in den frühen 1990er Jahren sind nach sehr konservativen Schätzungen in den vergangenen achtzehn Jahren mindestens 130 Menschen durch Neonazi-Gewalttaten zu Tode gekommen. Mindestens 15.000 Menschen sind darüber hinaus angegriffen und teilweise bleibend verletzt worden. Geht man davon aus, dass es sich bei vielen Angriffen um Fälle mit mehreren Opfern sowie indirekt Betroffenen wie beispielsweise Familienangehörige und ZeugInnen handelt, steigt die Zahl der direkt und indirekt von rechter Gewalt Betroffenen noch einmal erheblich an. Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt hat sehr unterschiedliche Folgen: für die unmittelbar Betroffenen und deren Angehörige und FreundInnen, für die potenziellen Opfer-Communities und für das politische und gesellschaftliche Klima in den jeweiligen »Tatorten«.
Stressreaktionen sind normal
Die Konsequenzen eines rechten Angriffs sind für einzelnen Betroffenen sehr unterschiedlich und hängen keineswegs immer und ausschließlich von der Schwere der erlittenen Verletzungen ab. Dennoch lassen sich einige Verallgemeinerungen treffen. Zumindest in der ersten Zeit nach einem Angriff haben viele Opfer Alpträume oder Konzentrationsprobleme und fühlen sich unsicher. Einige haben Panikattacken, wenn sie an den Ort des Angriffs kommen oder Rechte auf der Straße sehen. Wichtig ist es daher, mit den Ängsten und Sorgen nicht alleine dazustehen. Wenn Stressreaktionen nach einigen Wochen nicht weniger werden, ist es sinnvoll, sich professionellen Rat und Unterstützung zu holen, denn auch die unsichtbaren, psychischen Folgen eines Angriffs müssen heilen. Wenn Betroffene während des Angriffs keine Unterstützung durch ZeugInnen wie beispielsweise PassantInnen erhalten haben, ist es für sie schwerer, die erlebte Gewalt zu verarbeiten: weil sie sich dadurch, dass andere tatenlos zugesehen haben, im Stich gelassen und doppelt erniedrigt fühlen. Andererseits berichten Betroffene auch nach schwersten Angriffen, dass es für sie einen großen Unterschied gemacht hat, wenn es zum Beispiel jemanden gab, der oder die den Notruf verständigt hat oder sich freiwillig als ZeugIn gemeldet hat. Kurzum: Jede Form des Eingreifens hilft.
Die Betroffenen unterstützen
Je mehr Unterstützung Betroffene nach einem Angriff erhalten, desto größer sind die Chancen, dass es ihnen gelingt, die materiellen und immateriellen Angriffsfolgen zu bewältigen. Wichtig ist vor allem, die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen zu respektieren. Darüber hinaus sind die Unterstützungsmöglichkeiten vielfältig: Wenn jemand auf dem Schulweg angegriffen wurde, kann es hilfreich sein, die betroffene Person eine Zeitlang zu begleiten, an der Schule Flyer zu verteilen oder einen Infoabend zu organisieren. Wenn Neonazis eine Wohnung von Punks angegriffen haben, kann es helfen, eine Ausweichwohnung zu besorgen und anzubieten, bei Verhandlungen mit den Vermietern mitzugehen. Wenn Rassisten einen Flüchtling zusammengeschlagen haben, kann es wichtig sein, ihn zum Arzt und zu diversen Behörden zu begleiten, damit er oder sie eine angemessene medizinische Behandlung erhält.
Je mehr der Angriff in den Alltag eingreift – weil er vor der eigenen Haustür stattfand; weil sich der Angriff in einem kleinen Ort ereignet hat, wo die Gefahr, den Angreifern erneut zu begegnen hoch ist, oder weil wegen der Residenzpflicht der Ort des Angriffs nicht verlassen werden kann – desto größer ist die Erschütterung des eigenen Sicherheitsgefühls und die Notwendigkeit der Unterstützung. Das betrifft auch nachfolgende Strafverfahren und Prozesse gegen die Täter, den Umgang mit Öffentlichkeit und Kommunalpolitik.
Nie alleine zu Polizei und Justiz
Grundsätzlich stehen die Betroffenen eines rechten Angriffs vor der Entscheidung, ob sie Strafanzeigen und Strafantrag gegen die Täter stellen wollen. Je nach individueller Situation gibt es viele Gründe dafür und dagegen. Hat man sich dafür entschieden – oder die Ermittlungen laufen ohnehin, weil es sich um so genannte Offizialdelikte handelt – sollte man sich auch zu einer Nebenklage entscheiden, damit man mit einem eigenen Anwalt des Vertrauens die Ermittlungen und einen eventuellen Prozess begleiten kann – und so der Justiz nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Niemand sollte allerdings alleine und ohne Rücksprache mit FreundInnen oder AnwältInnen zu Polizei und Justiz gehen.
Gemeint ist die gesamte Gruppe
Rechte Gewalt zielt in den meisten Fällen nicht alleine gegen das unmittelbare Opfer: Der oder die einzelne wird stellvertretend für eine Gruppe, eine Community angegriffen. Die rassistischen Gewalttaten und Brandanschläge der frühen 1990er Jahren, die andauernde Alltagsdiskriminierung in allen Lebensbereichen und das hohe Risiko, Opfer eines rassistischen Angriffs zu werden, haben dazu geführt, dass heute in den neuen Bundesländern statistisch weniger MigrantInnen und Flüchtlinge als Mitte der 1990er Jahre leben: in den meisten neuen Bundesländern ist ihr Bevölkerungsanteil unter 2 Prozent gesunken.
Potenzielle Opfer-Communities erleben rechte Gewalt oft als Zuspitzung alltäglicher Ausgrenzungserfahrungen. Dazu kommt, dass viele sich von Sicherheitsbehörden und Justiz nicht ernst genommen fühlen; manchmal wird ihnen auch eine Mitschuld an dem Angriff unterstellt. In der Konsequenz bedeutet das für die einzelnen Opfer vor allem in ländlichen Regionen häufig, dass sie schnellstmöglich versuchen, in größere Städte umzuziehen. Andererseits gibt es aus den betroffenen Communities auch viele Ansätze, sich zu wehren und selbst zu organisieren: Viele lokale Schülerinitiativen gegen Neonazis sind nach rechten und rassistischen Angriffen entstanden.
(Keine) Gewöhnung an Ausgrenzung und Terror
In vielen ländlichen Regionen ist der Terror und die Ausgrenzung gegen alle, die nicht ins rechte Weltbild passen, längst Normalität geworden. Die Gewöhnung daran, die Ignoranz und das permanente Leugnen und Verharmlosen von Seiten kommunaler Eliten und Wortführer vergrößern die Spielräume für die extreme Rechte: So ist sie in einigen Regionen – beispielsweise Mecklenburg-Vorpommerns – inzwischen nicht einmal mehr auf Gewalt angewiesen, um ihren Einfluss in kleineren Orten und Gemeinden auszubauen. Dort, wo es gelungen ist, diese Entwicklung aufzuhalten oder nicht zuzulassen, gab es häufig öffentliche Solidarisierungsaktionen mit den Opfern rechter Gewalt.
Heike Kleffner ist Journalistin und leitet die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt
- 1PMK – Politisch motivierte Kriminalität