Neonazismus in der DDR
Rückblick: Im AIB Nr. 9 vom Oktober/November 1989 veröffentlichte das AIB einen Artikel zur Arbeit von unabhängigen Antifaschisten in der DDR (Potsdam/Berlin). Dies geschah nicht ohne Diskussion der Westberliner Redaktion über die damalige Situation der osteuropäischen Staaten beziehungsweise des "sozialistisches Lager" - wahrgenommen als eine Alternative zum kapitalistischen System. Im Vorwort spiegelte sich diese zerrissene Haltung bezogen auf "den Osten" unter anderem in folgendem Statement der Redaktion wieder: "Trotz vieler Unklarheiten und Widersprüche unsererseits gegenüber dem politischen System der DDR, möchten wir unseren LeserInnen folgendes in Erinnerung rufen: Die DDR wurde unter einer Führung aufgebaut, deren Menschen aus der Emigration zurückkehrten, von Überlebenden aus Konzentrationslagern und faschistischen Zuchthäusern, von Menschen, die aktiv an der Befreiung vom Nazi-Faschismus mitwirkten ..."
Alltägliche Bedrohung in der DDR
Kürzlich fand in Potsdam bei Berlin der "1. Potsdamer Antifa Tag" statt. Mit dieser Veranstaltung machten unabhängige AntifaschistInnen auf die verstärkte Entwicklung von neonazistischen Gruppen in der DDR aufmerksam. (...) Die Gründe, warum eine Potsdamer Antifagruppe zum "1. Potsdamer Antifa Tag", am 29. Juli 1989 einlud, liegen nicht nur in zunehmenden gewalttätigen Angriffen von Neonazis auf Punks, Grufties und ausländischen Menschen, die in der DDR leben oder in den Zerstörungen auf jüdischen Friedhöfen und an den Hakenkreuzschmierereien an den Hauswänden. Für viele, vor allem Punks, Autonome und Alternative sind die Neonazis (hauptsächlich Neonazi-Skinheads) zu einer alltäglichen Bedrohung geworden. Weil die politische Führung – außer mit streng repressiven oder miesen sozialarbeiterischen Maßnahmen – nicht weiter reagiert und die Existenz neonazistischer Gruppen lieber bestreitet oder als Exportware des BRD-Imperialismus bezeichnet, um einer offenen Auseinandersetzung über die Ursachen des Rechtsextremismus in der DDR auszuweichen, sind unabhängige AntifaschistInnen auch dort gezwungen Selbstinitiative zu ergreifen. Die Antifagruppen in der DDR arbeiten zum größten Teil in den kirchlichen Strukturen, die ihnen eine politische Arbeit außerhalb der FDJ- und Patreiorganisationen ermöglichen. Die Frage nach den Ursachen für das Anwachsen rechtsextremer Gewalt und Ideologie steht im Vordergrund. Im Papier zum Antifa-Tag wird das konkret so formuliert: „Wo liegen aber die Ursachen für derartige Erscheinungen in unserem Land, das sich einer antifaschistischen Tradition verpflichtet fühlt? Warum übersehen gesellschaftliche Institutionen diese Tendenzen? Was können wir dagegen tun?“ Fragen, die sich wahrscheinlich weit schwieriger beantworten lassen, als dies in der BRD der Fall ist.
„Was tun“ in der DDR?
Im Papier zum Antifa-Tag beschreiben die Antifas aus Potsdam in Stichpunkten die Arbeit ihrer Gruppe. Neben den praktischen Aufklärungsaktionen wie Flugblattverteilen, Plakatekleben und Losungen an Hauswände zu schreiben, versucht die Gruppe über Veranstaltungen (Info-Abende in Ausbildungsstätten und Jugendclubs) oder Gesprächsnachmittagen mit SchülerInnen eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen. (...) Zu ihrer Antifa-Arbeit gehören unter anderen auch Eingaben zum Beispiel an die Synode des Bundes der evangelischen Kirche in der DDR oder Kontaktaufnahme zur FDJ-Bezirksleitung, die allerdings am Anfang nicht sehr an diesem Kontakt interessiert gewesen war, später ließen sich die FDJ-Funktionäre jedoch ein, waren betroffen über die Zustände in ihren eigenen Jugendclubs und empfahlen die Gruppe sogar weiter. Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht wurde eine Gedenkveranstaltung organisiert und um den 20. April dieses Jahres wurden Handzettel gegen Feiern zum 100. Geburtstag Hitlers verteilt. Eine vor dem Kreisgericht Potsdam organisierte Demonstration richtete sich gegen die Verurteilung von Jugendlichen, die sich gegen den rechten Terror mit Gewalt gewehrt hatten. Gespräche mit der (Volks-)Polizei und der Staatsanwaltschaft (wobei sie auf Unverständnis und Ablehnung stießen) wurden geführt und rechtsextreme Straftäter wurden von ihnen angezeigt und damit ins Gefängnis gebracht. Hierzu wird jedoch bemerkt: „Eine Möglichkeit ist das Anzeigen rechtsradikaler Straftäter. Aber das erscheint uns nicht als der richtige Weg. Sicher ist die strafrechtliche Verfolgung gerechtfertigt, aber sie rührt nicht an den Ursachen und in den Augen unserer Gegenüber werden wir zu Denunzianten.“ Uneinig ist die Potsdamer Gruppe in der Anwendung von Gegengewalt, wobei sie allerdings einsieht, daß solche Aktionsformen zu rechtfertigen sind. Im Prinzip wird jedoch danach gefragt, ob eine „gewaltlose Haltung nicht Ausdruck einer progressiven, antifaschistischen Haltung“ wäre.
Gegenöffentlichkeit
Ein weiterer praktischer Schritt der Antifa-Politik ist, der (Nicht-) Informationspolitik der offiziellen Organe etwas entgegenzusetzen. Wie die Neonazis in der DDR vorgehen, was für Sprüche sie drauf haben, wie damit umgegangen wird und wo die Ursachen zu suchen sind, ist in einer neuen Zeitung zu erfahren, die sich um eine konkrete antifaschistische Öffentlichkeit bemühen will: „Aufgrund zunehmender faschistoider und ausländerfeindlicher Tendenzen in der DDR sowie mangelnder bzw. verfälschter Informationen der staatlichen Medien, haben wir uns entschlossen, dieses Info-Blatt herauszugeben“. So das Vorwort der im Juli 1989 zum ersten erschienenen (Ost-) Berliner Antifazeitung „Antifa-Infoblatt“. Herausgeberin ist eine „Antifagruppe bei der Kirche von Unten Berlin“, die Zeitung soll so oft und umfangreich erscheinen, „wie es unsere Möglichkeiten zulassen“. Die LeserInnen des Infoblatts, das „Nur zur innerkirchlichen Information“ vertrieben wird, werden deshalb aufgerufen der Gruppe Beiträge und Informationen zuzusenden. Das Infoblatt aus der Hauptstadt der DDR kann in der Tat einiges zur fehlenden Auseinandersetzung und Aufklärung beitragen. Die Frage wieweit sich sich diese Zeitung verbreiten lässt, können wir hier mangels Informationen nicht beantworten. Was die neonazistischen Übergriffe betrifft, lassen einige kurze chronologisch geordnete Erlebnisberichte schnell erkennen, dass die militanten Neonazis in der DDR ihren Kameraden in der BRD in nichts nachstehen. Das größte Potential an militanten Neonazi-Gruppen stellen in der DDR die Neonazi-Skinheads. Ein Artikel beschäftigt sich deswegen speziell mit „Skinheads“. Unter der Überschrift „Skins – extreme Randgruppe oder soziale Erscheinung mit quantitativ steigender Dimension?“ (es handelt sich um den Auszug aus einem Vortrag) wird unter anderem auf die Entstehung der Skin-Bewegung und ihre Stellung in den Klassenkämpfen Ende der 60er- / Anfang der 70er Jahre in Großbritannien eingegangen (...) Die (DDR-) Skin-Szene wird differenziert betrachtet, wobei zwischen Red-Skins und Neonazis (Deutschland-Skins) zwar unterschieden wird, die Red-Skins allerdings wegen ihres überzogenen National- und Stolzgefühls nicht besonders gut wegkommen. (...) „Territorial verteilt sich das Gros der DDR-Skins auf die Bezirke Berlin, Potsdam. Magdeburg, Frankfurt. Nach Süden nimmt die Zahl ab, obgleich sie nicht mehr auf die größeren Städte beschränkt sind, die durch ihre Anonymität bessere Grundlagen für Gruppenbildung bieten. In der Republik sieht man sie auch noch im „klassischen“ Outfit, währenddessen sich in den Großstädten ihr Erscheinungsbild nach den Prozessen in Berlin (Zion)1
, Oranienburg und Potsdam gewandelt hat. Die Ursachen waren die a priori Krimanilisierung durch die Öffentlichkeit, Lokalverbote (Jugendclubs), aber auch Antifa-Aktionen von Punks. Das Abtauchen in scheinbare Normalität ... war mit einem spürbaren Rechtsruck verbunden“
Die DDR ein Antifa-Staat?
Wie die Gesellschaft auf diese Gruppen reagiert, nachdem inzwischen über 35 Prozesse gegen Neonazis in der DDR geführt worden sind und der sozialistische deutsche Staat zugeben mußte, dass es die Neonazis gibt, beschreibt die Autorin unter anderem wie folgt: „ ... Machen wir uns keine Illusionen, Elemente der Ausländerfeindlichkeit und der Ruf nach Ruhe und Ordnung beim Anblick von Punks, Heavies und Grufties sind unter der Bevölkerung weit verbreitet. Wie oft hört man wieder LTI2
, die Sprache des Dritten Reiches: „Sowas wie Euch hätte man früher vergast.“, „Ins Arbeitslager müsste man Euch stecken.“, „Nehmt Euch ein Beispiel an den Skins, die sind wenigstens sauber und gehen ordentlich arbeiten.“, „Polacken...“ Alle diese Äußerungen werden auch von Angehörigen der Sicherheitsorgane (!) benutzt, die im Hinblick auf die Skinheads sehr zurückhaltend sind, um es mal vornehm auszudrücken. (...) Wann lesen wir endlich einmal eine ADN-Meldung über Neonazis in Berlin (Ost), wann wird endlich nach dem § 106 und 1203
verurteilt und nicht wegen Rowdytum? Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir die Zeit des Faschismus genügend aufgearbeitet haben, ob Entnazifizierung und die Proklamation eines antifaschistisch-demokratischen Staates (d.h. eines Staates der Antifaschisten) ausreichen.“ Dass die Entwicklung der neonazistischen Gruppen in der DDR ähnlich verlief wie in anderen Ländern, beschreibt ein weiterer Beitrag im Antifa-Infoblatt, der aus der Zeitschrift „Kontext“ übernommen ist. Konrad Weiß, Filmemacher aus der DDR, liefert hier noch zusätzliche Informationen über Zusammensetzung, Ideologie und Arbeitsweise der neuen Nazi-Gruppen und sucht analytisch nach den gesellschaftlichen Ursachen des Problems. Der Artikel gibt einen sehr guten Einblick in die Neonazi-Szene der DDR. Etwa seit 1983 haben sich DDR-Neonazis organisiert, wobei sie zuerst in den Fussballstatien als randalierende Gruppen in Erscheinung traten. Anfang 1988 wurde die Anzahl der in verschiedenen Gruppen organisierten Neonazis auf ungefähr 1.000 Leute geschätzt. Mittlerweile muss jedoch von einer größeren Zahl ausgegangen werden (...) Die Aktivitäten der Gruppen dehnen sich sich auf die sozialistischen Nachbarländer der DDR aus. Es gibt gute Beziehungen zur rechten Szene in Ungarn, der Tschechoslowokei, zu baltischen und ukrainischen Rechten. (...) In geschlossenen Zirkeln basteln die DDR-Neonazis an ihrer Weltanschauung. Zu ihrer Programmatik und Wertvorstellung schreibt Weiß: „ (...) Dem unpolitischen Betrachter, dem Kleinbürger zumal erscheinen sie offenbar als arbeitsame, ordentliche, disziplinierte junge Mitbürger, die nicht in den Tag hineingammeln, sondern wissen wofür sie leben. In der Tat wendet sich die neue Rechte vehement gegen die ansonsten recht verbreitete Null-Bock-Ideologie, gegen Ausreiser und Aussteiger, gegen Larmoyanz und Resignation mancher alternativer Gruppen (...) Nicht zufällig werden soldatische Werte kultiviert: Disziplin, Gehorsam, Ausdauer, Verläßlichkeit; insbesondere wird der Kameradschaftsgeist der faschistischen Wehrmacht beschworen. Man versucht, die rechte Ideologie an Soldaten der Nationalen Volksarmee heranzutragen und sucht unter ihnen Verbündete.“ (...)
Fazit
Es ist wohl allen AntifaschistInnen in der BRD und Westberlin bekannt, dass die Neonazis der BRD ihre Kontakte zu Neonazis der DDR pflegen und auch mehr oder weniger regelmäßige Treffen stattfinden. Wir berichteten zuletzt im Antifaschistischem Infoblatt Nr. 3 über diese Kontakte, die hauptsächlich über die Westberliner „Nationalistische Front“ (NF) zustandekommen, und konnten auch einige Namen – Andreas P., Christian F., Bernd A. – nennen. Diese allein für die Existenz der Neonazigruppen in der DDR verantwortlich zu machen, ist genauso falsch wie die vereinfachte Annahme, dass die Existenz von Neonazis nur das Produkt der kapitalistischen Gesellschaft wären. Trotzdem wollen sich einige offizielle Führungsorgane in der DDR in ihrer antifaschistischen Politik nicht belehren lassen. Sie scheinen nicht bereit zu erkennen, dass die vierzigjährige Erziehung zum Antifaschismus verödet ist und statt antifaschistischen Bewußtsein bei vielen Gleichgültigkeit und Langeweile vermittelt. Den jüngsten Entwicklungen weiter mit den alten Formen der antifaschistischen Traditionspflege zu begegnen reicht nicht aus. (...)
- 1Nach einem Punkkonzert mit den Bands „Element of Crime“ und „Firma“ am 17. Oktober 1987 in der Zionskirche im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg attackierten etwa 30 West,- wie Ostberliner Neonazi-Skins die noch gebliebenen Zuschauer. Erst als eine kleine Anzahl der BesucherInnen sich zu wehren begann, verließen diese fluchtartig die Kirche, um auf dem Rückweg den „Schwulenstrich“ an der Schönhauser Allee zu überfallen.
- 2So ein Buch von Victor Klemperer: LTI - Lingua Tertii Imperii, Sprache des "Dritten Reiches".
- 3Diese Paragraphen regeln die Verfolgung von öffentlichen Äußerungen militaristischen und faschistischen Inhalts.