Weimarer Justiz und Straßenkampf
Kampf um die Viertel
Als die Mitglieder des Kreuzberger Kommunistischen Jugendverbandes am 29. Dezember 1929 ihr Lokal in der Görlitzer Straße verließen, geschah es. Vor der Tür warteten bereits SA-Männer des Sturmes 27, die sofort das Feuer auf ihre verhassten Gegner eröffneten. Anschließend flohen die Täter in ihr Sturmlokal in die nahe gelegene Wiener Straße. Fünf Gäste des Lokals in der Görlitzer Straße wurden durch den Angriff verletzt, einer von ihnen, Walter Neumann, starb wenige Tage später.
Der Tod von Neumann schuf eine neue Tradition unter den sozialistischen Jugendlichen des Viertels. Jedes Jahr zum Todestag wurde nun das SA-Sturmlokal »Wiener Garten«, die Heimat des SA-Sturmes 27, mit Steinen und Schüssen angegriffen. Jugendliche der »Roten Jungfront« liefen regelmäßig Patrouille vor der Gaststätte auf, um nationalsozialistische Besucher und den Wirt einzuschüchtern. Eineinhalb Jahre nach dem Tod von Neumann gab es den nächsten Toten im Viertel: Hans Hoffmann, Mitglied der HJ, war auf dem nahe gelegenen Lausitzer Platz mit Stahlruten und Pistolen angegriffen und mit mehreren Schüssen, denen er später erlag, schwer verletzt worden.
Justiz und Richter
Schon in den ersten Monaten der jungen Weimarer Republik hatten die Richter gezeigt, wo sie politisch standen. Fast 90 Prozent der Morde, die 1918/19 durch Freikorps-Soldaten an linken Arbeitern begangen worden waren, wurden nicht geahndet. Kam es dann doch einmal zu Urteilen, lag das Strafmaß bei durchschnittlich zwei Monaten Haft. Ganz anders fielen die Urteile dagegen aus, wenn gegen Anhänger der kommunistischen Bewegung verhandelt wurde: Hier waren hohe Haftstrafen bis hin zu Todesurteilen die Regel. Auch wenn die Auswüchse dieser parteiischen Justiz in den folgenden Jahren abnahmen – die kommunistische Bewegung blieb der Hauptfeind. Hierbei spielte die antisozialistische Grundüberzeugung der Richter und ihr Wunsch nach einer autoritäreren Staatsform eine große Rolle. Eine zeitgenössische Einschätzung eines Berliner Senatspräsidenten ging davon aus, dass nur 5 Prozent der preußischen Richter als Parteigänger der Republik gelten konnten. Polizeiaktionen, Zeitungszensuren und Organisations-Verbote trafen so hauptsächlich die kommunistische Bewegung.
Obwohl die KPD keinerlei ernste Pläne für einen gewaltsamen Umsturz hatte, war die Furcht vor ihr groß. Die viel größere Gefahr, die für die Weimarer Demokratie von der nationalsozialistischen Bewegung ausging, wurde dagegen systematisch unterschätzt oder verharmlost, wenn die SA mit ihrer Gewalt von den Ermittlungsbehörden nicht sogar als Bollwerk gegen eine zu starke Arbeiterbewegung und eine halluzinierte Gefahr des »Bolschewismus« begrüßt wurde.
Doch wenn auch die meisten der Weimarer Richter stramm antisozialistisch und rechts-konservativ waren, so war doch die NSDAP nicht die favorisierte Partei der Richterschaft. Die meisten Richter fühlten sich eher dem national-konservativen Spektrum zugehörig als der emporkommenden NSDAP und ihrer plebejischen SA mit ihren national-revolutionären Phrasen.
Urteile in Straßenkämpfen
Ab 1929 ging die NSDAP dazu über, systematisch Stützpunkte in den traditionellen Arbeiter-Vierteln Berlins zu errichten. Begegnete ihr Widerstand, wurde dieser mit Hilfe der SA brutal gebrochen. Während die sozialdemokratischen Arbeiter sich bei der Abwehr dieser Angriffe meistens auf den Schutz der, bis Sommer 1932 in Preußen sozialdemokratisch geführten, Polizei verließen, reagierte das kommunistische Milieu mit Gegenangriffen.
Dadurch, dass für die Richter und große Teile der Öffentlichkeit feststand, dass die Kommunisten immer die Hauptunruhestifter waren, galten die Gewalttaten von SA-Männern zwar auch als verwerflich, wurden aber von den Richtern meistens in milderem Licht gesehen als vergleichbare Aktionen von links. Kommunistische Angeklagte galten allein durch ihre Nähe zu einer als umstürzlerisch aufgefassten Bewegung (oder durch die Mitgliedschaft in einer ihrer Organisationen) immer automatisch als Kriminelle und Staatsfeinde, während bei SA-Mitgliedern im Einzelfall entschieden wurde. Selbst bei brutalen Totschlags-Verbrechen, in denen die Schuld der Hitler-Anhänger ohne Zweifel feststand, konnten sie so profitieren.
Diese Verurteilungspraxis manifestierte sich unter anderem darin, dass SA-Männern häufiger Putativ-Notwehr zugebilligt wurde. Sie stellten die Auseinandersetzungen regelmäßig so dar, dass sie Auge in Auge mit einem tödlichen Angriff gestanden hätten und darum berechtigt gewesen seien, sich auch mit Schusswaffen zu verteidigen. Selbst wenn das Gericht dann feststellte, dass kein so gefährlicher Angriff stattgefunden hatte, wurde den Nationalsozialisten zugute gehalten, dass sie zumindest geglaubt hätten, sie müssten um ihr Leben kämpfen – worauf sie freigesprochen wurden. Da die Richter die Überzeugung der SA-Angeklagten teilten, dass von der kommunistischen Bewegung permanent eine Bedrohung ausgehe, gab es so mehrere Verfahren vor Berliner Landgerichten, in denen SA-Männer wegen Putativ-Notwehr freigesprochen wurden, auch wenn sie in Wirklichkeit die Aggressoren gewesen waren. Die Justiz stellte sich damit offen auf die Seite der Nationalsozialisten. Es ist dagegen kein einziger Fall bekannt, in dem kommunistische Angeklagte freigesprochen wurden, weil sie ebenfalls erfolgreich Putativ-Notwehr für sich hatten geltend machen können.
Zweierlei Maß
Im Verfahren um die Tötung Walter Neumanns konnten die SA-Männer des Sturmes 27 das Gericht allerdings nicht davon überzeugen, dass ihre zahlreichen Schüsse auf Unbewaffnete lediglich in Notwehr erfolgt seien. Sie wurden wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Doch im Vergleich mit dem Urteil gegen die Täter, die am Tod des Hitlerjungen Hoffmann schuld gewesen sein sollen, fällt erneut auf, wie sehr die SA von einer milden Rechtsprechung für sich profitieren konnte: Der hauptangeklagte Kommunist in diesem Fall wurde wegen Totschlag zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses härtere Urteil erfolgte, obwohl der Angeklagte, im Gegensatz zu den angeklagten SA-Männern, noch jugendlich war und obwohl seine Schüsse aus einer tumultösen Situation heraus entstanden, während die Schüsse der SA-Männer in einer vorher verabredeten Aktion erfolgten.
In den Verfahren gegen die Straßenkämpfer beider Seiten urteilte die Weimarer Justiz also mit zweierlei Maß. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die meisten Richter eine heimliche Sympathie für die SA hegten. Vielmehr folgten ihre Urteile dem bürgerlichen Diskurs, der in der KPD den Hauptfeind für die innere Sicherheit sah und damit auch schwerste Gewalttaten gegen ihre Anhänger teilweise entschuldigte. Je stärker die NSDAP wurde, desto schwerer wurden auch die Strafen gegen die kommunistische Bewegung und desto milder wurde mit der SA umgegangen.
Zum Thema ist im März 2011 erschienen:
Johannes Fülberth
»...wird mit Brachialgewalt durchgefochten.
Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht – Berlin 1929 bis 1932/1933«
Papyrossa Verlag
14,- EUR