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»...Uns bleibt die Dokumentierung der Ereignisse«

Einleitung

Interview zur Situation in Ungarn

In der Ausgabe Nr. 88 des Antifaschistischen Infoblattes berichteten wir bereits über Ungarn mit dem Fokus auf aktuelle antiziganistische Vorkommnisse (im Dorf Gyöngyöspata etc.), den rechten Parteien wie Jobbik und Fidesz und den neo­faschistischen »Bürgerwehren«. Diesmal sprachen wir mit den Betrei­ber_innen des Antifa-Ungarn-Blogs (www.antifa-hungary.blogspot.com) über die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren historische Bezüge – und über (abwesende) antifaschistische und oppositionelle Bewegungen.

Bild: attenzione-photo.com

An einer Kundgebung zum »Tag der Ehre« in Budapest beteiligen sich am 10. Februar 2007 rund 1000 Neonazis.

AIB: Wie konnte es Eurer Meinung nach zu einem solchen Rechtsrutsch in Ungarn kommen?

Dieser »Rechtsrutsch« ist in Ungarn kein überraschendes Phänomen. Nicht nur parteipolitisch betrachtet ist die rechte Szene in Ungarn erstarkt. Das zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Die rechte Szene hatte mindestens die letzten 20 Jahre sehr viel Zeit, sich ungestört zu formieren und zu organisieren. Das ist wirklich als Jahrzehnte andauernder Prozess zu betrachten. Wir leben tendenziell in einer Gesellschaft, in der rassistisches und antisemitisches Gedankengut bei der Mehrheit der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden trifft.

AIB : Aufmerksamen Budapest-Besucher_innen werden diverse Fahnen, Karten und Aufkleber im Stadtbild auffallen, die Großungarn in den Gren­zen von vor 1920 abbilden. Was hat es mit diesem Revisionismus auf sich?

Der Vertrag von Trianon aus dem Jahr 1920, der den ersten Weltkrieg formal beendete, war und ist für die ungarische Gesellschaft eine absolute Tragödie, die bis heute nicht verwunden wurde. Ungarn verlor aufgrund der Verträge 2/3 seines Staatsgebiets und über drei Millionen Ungarn wurden durch die neuen Grenzziehungen vom ungarischen Staatsgebiet abgeschnitten. Einer anerkannten Umfrage zufolge, gaben 70 Prozent der befragten Ungarn an, dass sie der Vertrag von Trianon mit tiefer Verbitterung erfülle. Es gibt kaum ein anderes Thema, welches den Rechten in Ungarn so sehr in die Hände spielt. Ministerpräsident Viktor Orbán spricht den Vertrag von Trianon betreffend ganz offen von Rache. Jobbik hingegen griff den Vertrag von Trianon für ihr Wahlprogramm auf und forderte darin ganz eindeutig die Wiederherstellung Groß­ungarns, wobei dies, wie die meisten Ungarn sich vorstellen, eigentlich niemals exis­tierte; sie waren – wie auch Siebenbürgen bis 1867 – nur Länder der ungarischen Krone.

AIB: Der Vertrag von Trianon wurde durch die beiden Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940 unter Regie des deutschen nationalsozialistischen Regimes teilweise im Sinne Ungarns korrigiert. Ist das Eurer Ansicht nach ein Grund, weshalb die nationalsozialistische Ära Ungarns gesellschaftlich verklärt wird?

Ja, das hängt sehr wahrscheinlich auch mit dieser zeitweiligen Korrektur zusammen. Diese Korrekturen im Sinne Ungarns wurden jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg revidiert. Es folgte die Pariser Friedenskonferenz von 1946, in denen die Friedensbedingungen zwischen den Siegermächten und den Kriegsverlierern ausgehandelt wurden. Mit Unterzeichnung dieser Verträge haben sich die Kriegsverlierer unter anderem dazu verpflichtet, Maßnahmen gegen das Wiederaufleben faschistischer, militärischer oder paramilitärischer Organisationen zu ergreifen, deren Zweck die Aberkennung der politischen Rechte des Volkes ist. Mit den derzeitigen politischen Tendenzen in Ungarn, die ganz klar auf ein autoritäres, faschistisches System hinauslaufen, wird unserer Auffassung nach zweifelsohne eben dieser Friedensvertrag seitens Ungarns gebrochen. Dass diese Tatsache momentan nicht einmal von den damaligen Siegermächten thematisiert wird, ist unserer Meinung nach, schlichtweg als skandalös zu bezeichnen.


AIB: Wie sieht es mit antifaschistischem Widerstand in Ungarn aus? Könnt ihr uns etwas über antifaschistische Arbeit in Ungarn berichten?
Eine richtige antifaschistische Bewegung ist in Ungarn leider nicht exis­tent! Es gibt sicherlich einige Menschen, die sich selbst als Antifaschis­t_innen bezeichnen. Es sind allerdings sehr, sehr wenige und der Altersdurchschnitt ist als ziemlich hoch zu bezeichnen. Effektive antifaschistische Arbeit gibt es nicht. Wir haben seit 2002 an allen Demonstrationen gegen Rassismus und faschistische Tendenzen teilgenommen und teilweise auch organisiert. Rückblickend betrachtet müssen wir feststellen, dass wir mit diesen Demonstrationen keinen Erfolg hatten, sonst hätten wir heute nicht diese faschistoide Regierung. Überhaupt sind die Voraussetzungen für antirassistische und antifaschistische Politik als denkbar ungünstig zu bezeichnen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der bei 80 Prozent der Menschen rassistische Tendenzen festzustellen sind, manchmal sogar bei solchen, die sich als Antifaschist_innen verstehen. Leider mussten wir uns eingestehen, dass ein Großteil der ungarischen Bevölkerung kein Interesse an einer funktionierenden Demokratie hat und eher eine starke Führungspersönlichkeit, sogar eine Diktatur, bevorzugt. Unser Land ist auf dem perfekten Weg in den Faschismus, wahrscheinlich sogar in den Nationalsozialismus. Die einzige Arbeit, die für uns wirklich noch von Wert ist und in der wir noch Sinn erkennen, ist die Dokumentierung der Ereignisse, um diese im Ausland publik zu machen. Die Welt muss wissen, was in Ungarn vor sich geht und endlich die faschistischen Tendenzen in unserem Land thematisieren.

AIB: In westlichen Medien ist in der letzten Zeit oft von »zivilem Widerstand« in Ungarn die Rede. Der außerparlamentarischen Opposition, die sich aus Gruppen wie »Milla« (eine Million für die Presse­freiheit), »Szolidaritás« und »4K!« (vierte Republik) zusam­men­­setzt, ist es gelungen bis zu 100.000 Menschen auf die Straßen zu bringen. Ein Hoffnungsschimmer?

Es ist richtig, dass die Opposition es schafft, eine, für ungarische Verhältnisse, beträchtliche Anzahl von Menschen zu mobilisieren. Anlass zur Hoffnung ist das unserer Meinung nach jedoch nicht. Das hauptsächliche Problem ist, dass in Ungarn sich so gut wie niemand traut die Regierungspartei rechtsradikal zu nennen und fast niemand Jobbik als eine nationalsozialistische Partei bezeichnet. Das allgemeine Wesen des Systems wird von kaum jemandem erkannt. Antirassistische oder antifaschistische Inhalte gibt es auf den Oppositionsveranstaltungen nicht. Die drohende Gefahr durch das Erstarken der Neonatio­nalsozialisten wird komplett ausgeklammert und die Opposition arbeitet sich ausschließlich an der Regierungspartei Fidesz ab. Vor etwa einem Jahr gab es zaghafte Versuche der »Milla« die Geschehnisse in Gyöng­yöspata auf einer Demonstration zu thematisieren. Es folgten laute Buhrufe aus dem Publikum und auf der Milla-Facebookseite waren etliche ent­rüstete Kommentare zu verzeichnen. Kritisiert wurde, dass Milla sich mit den Roma solidarisieren würde und sie in Schutz nimmt.


AIB: Stellt eine Opposition, die sich von einer erstarkenden »Nazipartei« und deren Ideologie nicht klar abgrenzt und lediglich gegen die Regierungspartei agiert in der momentanen Situ­ation nicht eher eine Gefahr dar?
Klar. Es besteht die große Gefahr, dass eine auf diese Weise agierende Opposition Jobbik nützen wird. Allein die Tatsache, dass Jobbik und deren Ideologie inhaltlich ausgeklammert wird, verharmlost diese Partei und wird sie dadurch zwangsläufig stärken. Allerdings muss erwähnt werden, dass eine Opposition, die Rassismus und faschistische Tendenzen thematisiert, massiv an Zulauf verlieren würde, wie das genannte Beispiel in Bezug auf die »Milla« und Gyöngyöspata verdeutlicht. Auch ist die Reichweite der Oppositionsbewegungen ungarnweit betrachtet als eher dürftig einzuschätzen.

AIB: 2014 finden in Ungarn die nächsten Parlamentswahlen statt. Wird eurer Einschätzung nach Jobbik an der nächsten Regierung beteiligt sein?

Wahrscheinlich schon, obwohl der Ausgang der nächsten Wahlen im Frühjahr 2014 momentan noch schwer einzuschätzen ist. Neuesten Umfragen zu Folge liegt Jobbik derzeit hinter Fidesz und den Sozialisten der MSZP an der dritten Stelle. Dass Fidesz ganz klar aus Gründen des Machterhalts eine Koalition mit Jobbik eingehen wird, steht für uns ohnehin außer Frage.