»Die Mörder sind unter uns«
Im bayrischen Voralpengebiet, eingebettet zwischen Karwendel- und Wettersteingebirge, liegt die Stadt Mittenwald, die mit einem ausgeprägtem Traditionsbewusstsein auf ihrer Homepage wirbt: »Brauchtum wird in Mittenwald groß geschrieben. Anlässe dies zu erleben gibt es reichlich... Erhalt von Brauchtum, Pflege von Traditionen sind Zeugen von einer noch heilen Umwelt«. Neben Geigenbau und Trachtenpracht haben die Gebirgsjäger eine lange und ungebrochene Tradition.
Seit den 30ern ist Mittenwald Ausbildungs- und Stationierungsort der 1. Gebirgsjägerdivision. Dort wurden u.a. die Truppen ausgebildet, die als Eliteeinheit der Wehrmacht u.a. durch Finnland, die Sowjetunion, Polen, Albanien, Frankreich und Griechenland marschierten und eine Blutspur hinterließen.
Eine enge Verflechtung zwischen Zivilgesellschaft und Militär scheint den Aderlauf in diesem Ort zu bestimmen. Fast jede Familie in Mittenwald hat mindestens ein männliches Mitglied, das bei den Gebirgsjägern in Mittenwald gedient hat. Die Pflege der militaristischen Tradition der Gebirgsjäger und das Leugnen der NS-Kriegsverbrechen gehört jährlich am Pfingstfest zum Brauchtum. Seit 1958 veranstaltet der »Kameradenkreis der Gebirgstruppe« alljährlich das Pfingsttreffen in Mittenwald auf dem Hohen Brendten. Es ist die größte Soldatenfeier in Deutschland, bei der Wehrmachtsveteranen aus Deutschland und Österreich im Schulterschluß mit Soldaten der Bundeswehr am Ehrenmal stehen, jahrzehntelang pilgerten bis zu 8.000 Teilnehmer den Berghang hinauf. Das Gelände inmitten eines Bundeswehr-Übungsplatzes auf dem Hohen Brendten hat der Traditionsverband von der Bundeswehr gepachtet.
Bereits 1951, vor der offiziellen Geburtsstunde der Bundeswehr, gründeten Angehörige der Gebirgstruppen von Österreich, Südtirol und Deutschland den Traditionsverband Kameradenkreis der Gebirgstruppe (KdG), um der gefallenen Kameraden zu gedenken und die Werte und Traditionen der Gebirgsjäger zu pflegen. Es ist die Pflege soldatischer Tugenden wie Pflichterfüllung und Vaterlandsliebe, mit denen deutsche Soldaten Europa in Schutt und Asche legten. In der Deutung ihrer Taten als notwendige Kriegshandlungen nährten sie diskursiv die Reinwaschung des Vernichtungskrieges zu einem »Normalkrieg«. Der Verband, dem heute Veteranen und aktive Bundeswehrsoldaten angehören, zählt derzeit rund 6400 Mitglieder, prominentestes Mitglied ist Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU). Über Jahrzehnte waren auch einschlägige NS-Verbrecher, z.B. der 1948 durch den amerikanischen Gerichtshof verurteilte Wehrmachtsgeneral Hubert Lanz Mitglied und zuletzt Ehrenvorsitzender.
Der bis kürzlich oberste Gebirgsjäger Generalmajor a.D. Rainer Jung hat den Kameradenkreis als »die Verbindung zwischen den aktiven und nichtaktiven Angehörigen der Gebirgstruppe« bezeichnet. In seiner Rede vor der Gebirgstruppe und dem Kameradenkreis im Mai 1997 beim Pfingsttreffen würdigte General Jung die Gebirgsjäger, die heute »als unsere Truppe« auf dem Balkan »an erster Stelle« ihren Auftrag erfüllen und im Zweiten Weltkrieg sich »für das Vaterland geopfert« hätten. Auch in der Bundeswehr gehören die Gebirgsjäger zu den Elitetruppen und kommen als Bestandteil der Krisenreaktionskräfte (KRK) und des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Kriegseinsätzen zum Einsatz.
Die TeilnehmerInnen der Feierlichkeiten sind keineswegs Ewiggestrige. Neben den alten Veteranen ist die Bundeswehr durch individuelle und repräsentative Teilnahme anwesend, Vertreter der politischen Klasse und die Zivilbevölkerung sind anwesend. Abordnungen des Verteidigungsministeriums und eine Vielzahl von Gebirgsjägereinheiten der Bundeswehr erweisen mit Kranzniederlegungen ihre Ehrerbietung. Über die zivilen Opfer der deutschen Gebirgsjäger fällt jedoch kein einziges Wort. In diesem Jahr trafen sich, sangen und beteten die Teilnehmer der Feier auf dem Hohen Brendten unter den meterhohen Lettern »MÖRDER!« Einige Wochen zuvor waren diese Buchstaben sowie Orte, an denen die Gebirgstruppen Massaker begangen haben, an die Steinstelen des Ehrenmals geschrieben worden.
Angreifbare Traditionspflege
Nach jahrzehntelanger Ruhe wurde das Pfingsttreffen der Gebirgsjäger erstmalig 2002 gestört. Am Vorabend der großen Feier auf dem Hohen Brendten unterbrachen knapp 60 AntifaschistInnen den traditionellen Kameradschaftsabend, der jährlich in derselben Gaststätte mit Schweinsbraten und Erinnerungen begangen wird. Auf die von den AntifaschistInnen in die Gaststätte getragene Forderung, den Opfern der Gebirgsjäger zu gedenken, reagierten die ausgebildeten Kämpfer mit gezielten Kniestössen und Fausthieben, ältere Männer setzten Krückstöcke als Schlagstock ein.
Die angereisten DemonstrantInnen wurden daraufhin in einer Jugendherberge bis zum darauffolgenden Tag unter Hausarrest gestellt, umstellt und bewacht von Polizeikräften, die damit erneut ein ungestörtes Soldatenfest ermöglichten. Nach diesem Kurzbesuch mit eingeschränkter Artikulations- und Bewegungsmöglichkeit, initiierte der AK Angreifbare Traditionspflege in Kooperation mit der VVN für das darauffolgende Jahr 2003 zweitägige Protestveranstaltungen. In einem Saal in der Innenstadt Mittenwalds wurde ein internationales Hearing veranstaltet, das über die Kriegsverbrechen der Gebirgstruppe informierte. Überlebende aus Griechenland und Italien sprachen erstmalig in Deutschland über das, was sie erleben mussten. So berichtete z.B. die 74jährige Christina Dimou aus dem griechischen Dorf Kommeno, wie Angehörige der 1. Gebirgsjägerdivision aus Mittenwald am 16. August 1944 ihre Mutter und weitere 316 DorfbewohnerInnen erschossen und die Häuser niedergebrannt hatten.
Die Berichte der ZeitzeugInnen, die die Massaker erlebt und überlebt hatten, standen und stehen als unversöhnlicher Widerspruch zu der jahrzehntelangen Traditionspflege bei der es nur Heldentaten, notwendige Kriegshandlung, aber keine Kriegsverbrechen gibt. Dieser Widerspruch wurde außerdem mit einer Demonstration durch die Gäßchen des malerischen Ortes getragen. Die Reaktionen der Mittenwalder zeigten, wie identitätsstiftend und bedeutsam der Glaube an die Reinheit und den Edelmut der Gebirgstruppe unterm Edelweiß ist und welche Erosionen die Infragestellung auslöst. Die Zivilgesellschaft begegnete den Demonstranten mit Vernichtungs- und Entsorgungsphantasien: »Die Leute, die so etwas machen, gehören entsorgt!«
Pfingstsonntag konnten die Teilnehmer der Feier am Ehrenmal auf dem Hohen Brendten, die in Uniform, Tracht oder zivil den Berg hinauf wanderten, nicht mehr wie im Vorjahr die repressiv hergestellte Stille der Berge genießen. Melodien und Texte französischer und italienischer Partisanenlieder erklangen über den Berghang. Die Forderung nach Entschädigung der Opfer der Gebirgstruppe und die Namen bekannter Kriegsverbrecher der Gebirgstruppen konfrontierten die Teilnehmer mit einer unerwünschten Realität. Während die Traditionalisten ihre Soldatenfeier mit Fahnenabordnungen und Ehrensalut auf dem Berg zelebrierten, wurde im Rahmen der Gegenveranstaltung dem Einsatzleiter der Polizei eine Liste überreicht, um die seit 60 Jahren stockende Ermittlungsarbeit zu den Kriegsverbrechern zu beschleunigen. Die Liste enthielt die Namen von 196 noch lebenden ehemaligen Gebirgsjägern, deren Einheiten an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren. Bis heute ist es zu keiner Verurteilung eines Gebirgsjägers durch ein deutsches Gericht gekommen. Die Ermittlungsverfahren, die in den 60ern und 70ern von den Staatsanwaltschaften geführt wurden, endeten alle mit einer Einstellung.
In diesem Jahr wurde die Diskussion um die Strafverfolgung der Täter, die Entschädigungsforderungen und das Traditionsverständnis des Kameradenkreises und der Bundeswehr bereits einige Wochen vor Pfingsten in das Touristenstädtchen getragen. Ein Ethnographenteam hatte Mittenwald als exemplarisches Konfliktforschungsfeld auserkoren und war in internationaler Besetzung nach Mittenwald gereist, um sich in Gesprächen mit der einheimischen Bevölkerung, ihrem Verhältnis zu den Protesten, der Traditionspflege und den Kriegsverbrechen zu nähern.
Desweiteren fanden viele Mittenwalder Haushalte eine Woche vor Pfingsten den »Mittenwalder Landboten« in ihren Briefkästen stecken. In den Zeitungsartikeln wurden die Leser über nachweisbare Kriegsverbrechen der Gebirgsjäger informiert, über die Entschädigungsforderungen insbesondere von griechischen Überlebenden und über das Traditionsverständnis der Bundeswehr. Auch dieses Jahr waren wieder Zeitzeugen aus Frankreich und Griechenland nach Mittenwald gereist, um auf dem Hearing von den Verbrechen der Gebirgsjäger zu berichten.
Dem nachmittäglichen Demonstrationszug schlug dieses Jahr nicht nur die Empörung der Mittenwalder entgegen, auch die bayerische Polizei hatte sich einen repressiveren Einsatz gegen die Benennung von Kriegsverbrechen zur Leitlinie gemacht: So wurde eine Frau festgenommen, weil sie ein Plakat angebracht haben soll, das den Kompanieführer Josef Salminger, u.a. verantwortlich für das Massaker in Kommeno, als Massenmörder bezeichnete. Was für seriöse Historiker als eine Tatsache gilt, stellte für den vor Ort anwesenden Staatsanwalt eine Verunglimpfung Verstorbener da. Dass die Beschuldigte sich im Rahmen der »Erkennungsdienstlichen Behandlung« nackt ausziehen mußte, veranschaulicht die perfiden Methoden der Repression.
Eine ad-hoc-Performance, bei der sich eine Personengruppe durch die Fußgängerzone mit Buchstabentafeln bewegte, die die Parole »Endlich weg damit« zusammensetzten, erregte die gewohnte Feindseligkeit und den Widerwillen bei der Bevölkerung, die eis- und kuchenspeisend in den Straßencafes saß. Mit der Performance hatte man in direkte Kommunikation mit der Bevölkerung treten wollen. Die Parole stand für die Forderung nach einem Ende der militaristischen Traditionsfeier, sie wurde noch verbal um die Forderungen nach Entschädigung der Opfer und Strafverfolgung der Kriegsverbrecher ergänzt. Während diese Forderungen bei der Bevölkerung nur Reaktionen von Lethargie oder Unmutsäußerungen auslösten, wurde die wenig später stattfindende polizeiliche Festnahme eines Teilnehmers der Performance mit regem Beifall bedacht.
Proteste zeigen Wirkung
Mit den Protesten der letzten drei Jahre gelang es, dass militarismus- und traditionskritische Veranstaltungen den öffentlichen Diskurs in Mittenwald bestimmten. Der Kameradenkreis der Gebirgstruppe (KdG) wurde bei öffentlichen Stellungnahmen genötigt, neue Positionen zu beziehen und Verteidigungsstellung einzunehmen. So sprach der Präsident des KdG Ernst Coqui erstmalig in seiner Rede am Ehrenmal auch von Kriegsverbrechen der Gebirgstruppe. Zwar hängte er gleich hinten dran, dass die Partisanen die wirklichen Verbrecher seien und in einem Gespräch erklärte er, dass es im Kameradenkreis keine Kriegsverbrecher gäbe und verkündete, dass der KdG mit seinen Feiern allen Gefallenen ohne Unterschied gedenken würde. Trotzdem ist diese Verschiebung bzw. das Benennen von Kriegsverbrechen in der öffentlichen Stellungnahme ein Ausdruck dafür, dass sich der KdG aufgrund der öffentlich wirksamen Interventionen der letzten zwei Jahre unter Handlungsdruck gesetzt fühlte.
Auch die Bundeswehr, die seit Jahrzehnten Mitveranstalter ist, zeigte sich in ihren öffentlichen Stellungnahmen zurückhaltender. So hatte z.B. das Gebirgsmusikkorps, das Jahrzehnte am Ehrenmal gespielt hatte, vor dem letzten Pfingstfest eine Beteiligung zunächst abgesagt.
Desweiteren wird die diesjährige Talfahrt der TeilnehmerInnen am Ehrenmal über eine holperige kleine Straße, sozusagen ein Rückzug über eine Art Hinterausgang vom Brendten, die meisten Kameraden nicht sonderlich erfreut haben. Ebenso wenig der rapide Rückgang der TeilnehmerInnenzahl innerhalb der letzten zwei Jahre von ca. 8.000 auf 1.000.
Möglicherweise ahnt mancher Veteran, dass ihm doch noch mal sein Ruhmesblatt und seine Freiheit streitig gemacht werden könnte. Immerhin wurden vor zweieinhalb Jahren die Ermittlungen wegen der Kriegsverbrechen auf der griechischen Insel Kephallonia von der Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Dortmund wieder aufgenommen. Auf Kephallonia waren mindestens 5.000 italienische Kriegsgefangene von der 1. Gebirgsjägerdivision aus Mittenwald ermordet worden. Zwei Verfahren seien laut Aussage des Oberstaatsanwalts Maaß abschlussreif. Wann Klage erhoben wird, hängt nun von der zuständigen Staatsanwaltschaft in München ab.
*»Die Mörder sind unter uns« ist der Titel eines Films, den Wolfgang Staudte 1946 bei der DEFA produzierte. Der Film erzählt von dem ungebrochenen Fortleben der NS-Täter in der Nachkriegsgesellschaft. Das Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrums hat diesen Titel als Motto über eine Kampagne gestellt, mit der sie die letzten lebenden NS-Täter verfolgen wollen. Mit einer Summe von 10.000 Euro sollen die Hinweise belohnt werden, die zur Erfassung von Nazi-Verbrechern führen. Die diesjährigen Proteste in Mittenwald wurden ebenfalls unter diesem Motto veranstaltet.