»Nationale Revolution« in Russland
Ulrich Heyden, MoskauEnde März 2010 fanden Ermittler in Pikaljowo, einer Industriestadt nahe St. Petersburg, in einer Wohnung einen menschlichen Kopf und Teile einer Hand. Die Leichenteile sollen von einem Aussteiger der Gruppe »Nationalsozialismus/Weiße Macht« (NS/WP) sein. Auf der Website der Neonazis war mitgeteilt worden, man habe einen »Feigling« hingerichtet. Die NS/WP, welche seit zwei Jahren im Raum St. Petersburg mit Mord-Anschlägen auf Migrant_innen und einem Anschlag auf eine Zugstrecke von sich reden machte, vertritt einen kruden Mix aus Rassismus und Slawen-Kult. Die Militanz extrem rechter Gruppen nimmt zu, wie das Moskauer Analyse-Zentrum »Sova« feststellte. Allein 2009 habe es 20 Anschläge auf staatliche Institutionen gegeben. Die Neonazis hätten begriffen, dass es unrealistisch sei, alle Migrant_innen aus Russland zu vertreiben. Hauptziel sei nun »die Destabilisierung der politischen Situation« mit dem Ziel einer »nationalen Revolution«.
Auf der Suche nach einem neuen Imperium
Die russische Neonazi-Szene besteht grob gesagt aus zwei Flügeln, einem parlamentarischen, vertreten durch die 1992 von Wladimir Schirinowski gegründete »Liberaldemokratische Partei« (LDPR) und einer Vielzahl von verbotenen und Untergrund- aber auch nicht verbotenen Organisationen, die vor allem von sich reden machen, wenn ausländische Gastarbeiter, junge Antifas, Richter oder Rechtsanwälte ermordet werden. Rechtsradikale und nationalistische Organisationen konnten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast ungehindert ausbreiten. Polizei und Justiz nahmen die Rechtsradikalen nicht ernst. Heute verfügen sie über eine große Zahl von Websites, organisieren Konzerte, werben für die Ausweisung aller Gastarbeiter und trainieren in Wäldern für den Nahkampf. Die führende Organisation der 1990er Jahre war die 1990 gegründete »Russische Nationale Einheit« (RNE) mit dem Führer Aleksandr Barkaschow (Alexander Barkashov).1
168 bewaffnete Mitglieder bewachten im Oktober 1993 das Weiße Haus in Moskau, indem sich Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow und der abgesetzte Vizepräsident Aleksandr Ruzkoj verschanzt hatten. Ihren Einsatz für den von Jelzin aufgelösten Obersten Sowjet erklärte die RNE damit, dass man das Vaterland vor einer »Okkupation« durch »Amerika-freundliche« Kräfte retten müsse. 1994 unterstützten die »Barkaschowzi« dann allerdings den Einmarsch russischer Panzer nach Tschetschenien. 1998 hatte die Organisation angeblich 1.000 Untergruppen mit 50.000 Mitgliedern in 64 Regionen Russlands und nachdem sie 1999 erfolglos versucht hatte, an Wahlen teilzunehmen, kam es zu einer Spaltung. Heute tritt die RNE kaum noch in der Öffentlichkeit auf.2
Mit der LDPR sitzt seit 1993 auch eine extrem rechte Partei im russischen Parlament. Schwerpunkt von Schirinowskis Auftritten sind Angriffe gegen die USA. Wohl deshalb nimmt die Bevölkerung die LDPR nicht als extrem rechts, sondern als autoritär-populistisch wahr. 2007 bekam die Partei acht Prozent der Stimmen. Schirinowski tritt für eine autoritäre Staatsführung ein und will die alten russischen Reichsgrenzen von 1917 mit Finnland, Kongress-Polen, Weißrussland und dem Ost-Teil der Ukraine wieder herstellen. Seit 2003 organisiert die LDPR in Moskau den »Weltkongress der Patrioten«, der diejenigen vereinigen soll, welche die »Globalisierung nach amerikanischen Vorbild« ablehnen. Der Kontakt zu seinen alten Bündnispartnern in Westeuropa, dem ehemaligen DVU-Chef Gerhard Frey und dem Chef der französischen Nationalisten Jean-Marie Le Pen scheint eingeschlafen zu sein.
Tschetschenienkrieg heizt Stimmungen an
Unter Wladimir Putin wuchs die Neonazi-Szene weiter. Der zweite Tschetschenienkrieg (1999 bis 2003) heizte migrantenfeindliche Stimmungen an. Der außerparlamentarische Flügel der extremen Rechten differenzierte sich politisch zunehmend aus. Alte Kader und junge Neonazis, die sich in der rechten Skinhead-Szene politisiert hatten, gründeten neue Organisationen wie die inzwischen verbotene »Slawische Union« und »Russische Art«. Hochburgen der Szene, die Experten auf 50.000 Personen schätzen, waren die Städte Moskau und St. Petersburg. Zu den Eckpfeilern der heutigen Skinhead-Ideologie gehört die Grundannahme, im Kreml sitze ein vom Westen gesteuertes »Okkupations-Regime«, welches die Rohstoff-Ausbeutung Russlands organisiere. Schon die Oktoberrevolution sei eine »jüdische Verschwörung« gegen das russische Imperium gewesen. Weil das Christentum durch den Juden Jesus »besudelt« sei, orientieren sich viele russische Skinheads an vorchristlichen, heidnischen Traditionen.
Zu den kleinen sektiererischen Neonaziskinhead- und religiös-nationalistischen Gruppen gesellte sich 2002 die »Bewegung gegen illegale Immigration« (DPNI). Die Organisation, welche angeblich 50.000 Mitglieder hat, versucht mit populären Aktionen gegen Händler aus dem Kaukasus in breitere Bevölkerungsschichten vorzudringen. 2006 spielte der damalige Chef der DPNI, Aleksandr Below, eine führende Rolle bei den Pogromen in der karelischen Stadt Kondopoga, bei denen 400 Kaukasier vertrieben wurden. Für die russischen Rechtsradikalen war das ein Erfolg, den sie bisher jedoch nicht wiederholen konnten. Wladimir Putin verbot in Reaktion auf die Pogrome, dass Nichtrussen auf den Märkten im Land Ware verkaufen können und der Kreml versuchte ethnische Konflikte mit Polizeikräften zu verhindern. So kommt es zwar häufig zu Massenschlägereien zwischen Russen und Kaukasiern oder Asiaten, aber eine Vertreibung von Nicht-Russen durch den Straßenmob hat es seither nicht mehr gegeben.
Zahl rassistischer Überfälle rückläufig
Wie das kritische Analysezentrum Sova feststellte, erreichten die rassistischen Überfälle in Russland 2007 mit 618 Verletzten und 89 Toten ihren Höhepunkt. 2009 registrierte man 333 Verletzte und 71 Tote. Der Grund für diesen Rückgang ist offenbar, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die gewalttätige, rechtsradikale Szene seit 2008 stärker ins Visier genommen haben. Bis dahin wurde ihr Treiben von der Polizei regelmäßig als »Rowdytum« heruntergespielt. Eine Wende brachten die Urteile gegen die Ryno-Bande 2008 und die Weißen Wölfe 2010, deren Mitglieder teils zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Eduard Tschuwaschow, der Moskauer Richter, der das Urteil gegen die sogenannte Ryno-Bande gesprochen hatte, wurde im April 2010 ermordet.
Neonazi-Rock vor Kreml-Mauern
Der Kreml spielt in Bezug auf die Neonazis eine zwiespältige Rolle. Zum Einen führen Präsident Medwedew und Premier Putin gerne den Antifaschismus im Mund, insbesondere, wenn Russland den Sieg über Hitler-Deutschland feiert. Dass es in Russland heute Jugendliche gibt, die Hitler verehren, gestehen beide bei Auftritten im Ausland zwar ein, doch in Russland wird das Thema totgeschwiegen. Aktionen junger Antifas sind für den Kreml störend, weshalb man sie verbieten lässt. Erstaunlich auch, dass der Kreml jedes Jahr am 4. November rechte Demonstrationen unter dem Motto »Russischer Marsch« erlaubt. Eigentlich war der 4. November von Putin 2004 als neuer russischer Feiertag eingeführt worden, mit welchem der Befreiung Moskaus von polnischen Truppen im Jahre 1612 gedacht werden und gleichzeitig Symphatien für die orangene Revolution in der Ukraine abgewehrt werden sollten. Auf den »Russischen Märschen« zeigen Neonazis den Hitler-Gruß. 2009 genehmigte die Stadtverwaltung von Moskau sogar ein Konzert der Neonazi-Band »Kolowrata« auf dem Moor-Platz, in Sichtweite des Kreml.
Dass es auch in der russisch-orthodoxen Kirche einflussreiche rechtsradikale Kreise gibt, wurde jetzt durch den Prozess gegen Juri Samodurow, den ehemaligen Direktor des Moskauer Sacharow-Zentrums und den Kunst-Kurator Andrej Jerofejew deutlich. Das Gerichtsverfahren wegen einer Ausstellung, auf der provokante kirchenkritische Kunst gezeigt wurde, war von der extrem rechten »Narodnyi Sobor« (Volkskonzil) angestrengt worden. Den beiden Kunstexperten drohten mehrere Jahre Arbeitslager. Offenbar wegen der großen internationalen Resonanz endete das Gerichtsverfahren jedoch mit Geldstrafen.
- 1Anmerkung d. Redaktion: Die RNE besaß nach Behördenschätzungen etwa 4.000 Mitglieder. Der ehemalige Führer Barkashov wurde im September 2000 von Oleg Kassin abgelöst.
- 2Anmerkung d. Redaktion: Über deutsche Kontakte ist wenig bekannt. Im August 1993 sollen sich Mitglieder der verbotenen deutschen Nationalen Offensive (NO) von Michael Swierczek in Moskau mit Barkaschow und weiteren RNE-Angehörigen getroffen haben. Verbindungen der RNE bestanden offenbar auch zur deutschen FAP. Eine für Oktober 1993 von der FAP in Bonn angekündigte Demonstration hatte Barkaschow als Hauptredner angekündigt. Die Veranstaltung wurde untersagt. 1997 soll der deutsche Neonazi-Kader Thomas Wulff direkte Kontakte zum Kaliningrader Führer der "Russischen Nationalen Einheit" (RNE), Konstantin Soltnikov, unterhalten haben. Im selben Jahr soll er auch mit den Neonazi-Aktivisten Michael Grewe und Paul Plagemann nach Kalininingrad gereist sein.