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„Antifaschismus braucht auch eine emotionale Dimension“

Einleitung

Am 27. Januar 2015 jährte sich die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee  zum 70. Mal. Nur sehr wenige Menschen überlebten das Vernichtungslager, das heute symbolhaft für die Shoa steht. Wir sprachen mit dem antifaschistischen Arbeitskreis „Fragt uns, wir sind die Letzten“ aus Berlin, der kürzlich seine fünfte Broschüre veröffentlicht hat. 

AIB: Wie ist euer Arbeitskreis entstanden und was habt ihr bisher erreicht?

Unser Arbeitskreis wurde von Akti­vist_innen aus dem Umfeld der Antifaschistischen Initiative Moabit und der Berliner VVN-BdA gegründet. Wir waren zunehmend mit der Schwierigkeit konfrontiert NS-Überlebende zu finden, die bei unseren Veranstaltungen sprechen. Gleichzeitig lernten wir über die VVN-BdA viele Menschen kennen, deren Lebensgeschichten in der Öffentlichkeit kaum bekannt waren. Wir wollten diese Geschichten sichtbar machen und damit den Überlebenden gleichzeitig auch unseren Respekt bekunden. Auch entsprachen wir mit den Begegnungen dem ausdrücklichen Wunsch vieler Überlebender im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus heute, auf ihren Erfahrungen aufzubauen. Inzwischen haben wir 25 kommentierte Interviews veröffentlicht. Momentan arbeiten wir an der sechsten Broschüre.

Warum sind Zeitzeug_innen im Antifaschismus so wichtig?

Für den Antifaschismus sind die Verfolgten des NS und Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand wichtige Zeit­zeu­g_in­nen können alle sein, aber uns geht es um die Perspektiven der Überlebenden. Menschen, die aus der deutschen Volksgemeinschaft bis zur Vernichtung ausgeschlossen wurden und/oder sich entschieden in verschiedenster Form Widerstand gegen die Nazis zu leisten, begründen unseren Antifaschismus von heute. Ihre Geschichten zeigen die Notwendigkeit und zugleich auch Möglichkeit antifaschistischer Politik. In der politischen Praxis besitzen Überlebende zudem ein einmaliges moralisches Gewicht. Ihre Stimmen verschaffen der Blockade eines Neonazi-Aufmarsches oder der Skandalisierung von Geschichtsrevisionis­mus eine Aufmerksamkeit, die sonst schwer zu erreichen ist.

Ihr schreibt, eines eurer Ziele ist es, marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen. Auch die Geschichts- und Gedenkstättenpädagogik spricht von einer „Multiperspektivität“ auf die Geschichte. Welche Perspektiven sind es, die bis heute kaum Beachtung finden?

Die Geschichte der Marginalisierung von bestimmten Opfer- und Widerstandsgruppen ist lang. Über einzelne Menschen nicht zu sprechen, geht dabei einher mit einem unkritischen Fokus auf auserkorene Ikonen wie Stauffenberg. Der Widerstand von Arbei­ter_innen, Juden und Jüdinnen, aber auch von Einzelpersonen wird demgegenüber marginalisiert. Es waren folglich Geschichtswerkstätten und nichtstaatliche Initiativen, die dem antifaschistischen Widerstand und bestimmten Opfergruppen zu einer Stimme verhalfen. Damit trugen sie auch dazu bei, dass einzelne Verfolgte trotz der bundesrepublikanischen Verschleppungspolitik noch materielle Entschädigungen erhielten. Und dennoch, wer kennt heute schon die Bedeutung des Wortes „Porajmos“, das den Völkermord an den Sinti und Roma bezeichnet? Wer weiß um die lange Geschichte des § 175, nach dem die Nazis 10.000 Homosexuelle in KZs einwiesen und der in der BRD noch zwei Jahrzehnte exzessiv angewandt wurde? Wen interessieren zehntausende Zwangsarbeiter_innen, die nie für das ihnen angetane Unrecht entschädigt wurden? Oder jene Menschen, die im NS als „asozial“ verfolgt wurden und in West- wie Ostdeutschland nicht als Opfer anerkannt, zum Teil sogar noch weiter verfolgt wurden? In diesem Sinne hilft uns die „Multiperspektivität“ dabei, nicht nur die unterschiedlichen Facetten des NS zu beleuchten, sondern auch Kontinuitäten und Überschneidungen zwischen Faschismus und bürgerlichem Rechtsstaat zu thematisieren — was die antifaschistische Perspektive vielleicht letztlich von derjenigen der etablierten Gedenkstätten abhebt.

An der diesjährigen Gedenkveranstaltung in Auschwitz haben nahezu alle europäischen Staatsoberhäupter den Überlebenden gelauscht. Kein deutscher Gast, auch nicht Bundespräsident Joachim Gauck, hat dort gesprochen. Auch „Der Spiegel“ wählte bewusst die ausschließlich zuhörende Form des Protokolls. Es scheint, als hätte Deutschland das Zuhören endlich gelernt und den Ansatz von „Oral History“ begriffen. Wieso braucht es immer noch eine Initiative aus der Antifa und was unterscheidet euch vom „offiziellen Deutschland“ 2015?

Joachim Gauck lauscht andächtig Überlebenden, aber lehnt Entschädigungszahlungen an die Opfer von SS-Massakern wie im griechischen Distomo ab und forderte mehr deutsche Kriege. Das Zuhören verkommt so zur bloßen Symbolik. Diese Heuchelei unterscheidet das Staatsgedenken von einer antifaschistischen Gedenkpolitik. „Oral History“ findet zudem ja in einem Kontext von Herrschaftsabsicherung statt: Was mit dem Gesagten gemacht wird, steht nicht fest, sondern bleibt umkämpft. Es soll sich, wenn es nach Gauck geht, der Inszenierung vom aufgeklärten Deutschland unterordnen, das wieder zu den Waffen greifen darf.

Natürlich gehört das Gedenken an die Opfer des Holocaust längst zur deutschen Identität. Und selbstverständlich wollen wir nicht zurück in die BRD der 1950er Jahre, in der die Feindbilder klarer waren, Politiker mit Nazi-Vergangenheit regierten und über den NS möglichst nicht gesprochen werden sollte. Die komplexe heutige Situation unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es für eine antifaschistische Gedenkpolitik ist, Kontinuitäten herauszuarbeiten und so Vergangenheit und Gegenwart herrschaftskritisch in einen Zusammenhang zu bringen.

Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtung und Widerstandskämpfer_innen betonen häufig, dass sie mit ihren Erzählungen auch eine Verantwortung an Jüngere weiterreichen möchten. Was können wir aus dem „Erbe“ für die heutige antifaschistische Praxis mitnehmen?

Das ist eine spannende Frage, weil dieser Anspruch tatsächlich sowohl von Überlebenden als auch von jungen Antifaschist_innen oft wie selbstverständlich geäußert wird. Gleichzeitig bleibt meist unklar, was das eigentlich genau ist — dieses antifaschistische Erbe. Für uns waren die Begegnungen mit Verfolgten des NS und Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand entscheidende Momente in unserem Leben — nicht nur als Aktivist_innen. Die Erzählungen von Grausamkeit, Ohnmacht und Hoffnung haben uns Holocaust und NS in ihrer Unbegreiflichkeit so eindringlich vor Augen geführt, wie Geschichtsbücher es nicht zu tun vermögen. Dahinter können und wollen wir nicht zurück und das ist ein Grund, warum wir auf unseren Broschüren den Schwur von Buchenwald abdrucken. Es braucht neben der rationalen Überzeugung als Antifaschist_in auch eine emotionale Dimension, die eine abstrakte Formulierung wie „Verantwortung“ konkret werden lässt. Ein aktuelles Beispiel, was wir aus dem „Erbe“ mitnehmen können, sind die Flyer der VVN-BdA, auf der sich Verfolgte des NS mit Flüchtlingen von heute solidarisieren. Aufbauend auf Fluchterfahrungen im Kontext NS wird sich hier klar gegen rassistische Hetze und für ein Bleiberecht positioniert.

Wie sieht für euch eine antifaschistische Erinnerungspolitik der Zukunft aus?

Auch wenn die letzten Zeitzeug_innen gestorben sind, werden ihre Erinnerungen ein wichtiger Referenzpunkt sein. Deshalb ist deren Dokumentation so wichtig. Die Überlebenden, die wir interviewen, berichten zunehmend nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen, sondern auch von denen ihrer Eltern. Die zweite Generation wird in Zukunft sicherlich eine Rolle spielen, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie einfach für ihre Eltern sprechen kann. Hier wird es eher darum gehen, wie die Traumata innerfamiliär weiter wirken.

Die Auseinandersetzung mit dem NS wird in Zukunft zwangsläufig immer mehr auf der historiographischen Ebene stattfinden. Unsere Aufgabe wird es dabei sein, weiterhin auf die Verantwortung zu verweisen, die sich aus der Geschichte ergibt. Beispiele wie die  Anwendung des § 175 werden an Bedeutung gewinnen. Ein weiterer Punkt ist die Entdeutschung antifaschistischer Erinnerungspolitik: Viele Menschen in Deutschland haben (Ur-)Großeltern, die nicht in Nazi-Deutschland lebten. Vielleicht leisteten diese in besetzten Gebieten Widerstand, vielleicht haben sie dort mit der SS zusammengearbeitet, vielleicht litten sie unter der Besatzung oder wurden verfolgt. Oder der NS spielte für sie vordergründig keine Rolle, weil sie zum Beispiel mit den Kämpfen gegen die französische Kolonialmacht beschäftigt waren. Eine zukünftige antifaschistische Erinnerungspolitik, die nur von einer deutschen Perspektive ausgeht, würde sich der gesellschaftlichen Realität verweigern. Das wäre politisch fatal. Wir führen deswegen für jede Broschüre bewusst auch Interviews mit Menschen wie zum Beispiel Dorothea Paley, die als Kind die Blockade Leningrads überlebte, oder Peter Perel, der als jüdischer Ukrainer verfolgt wurde.

Vielen Dank für das Gespräch