Ein notwendiger Rückblick
Zur Rolle von Antifa und Antira in den frühen Jahren des vereinigten Deutschlands
Zwanzig Jahre liegt das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen inzwischen zurück. Und die Frage nach der Rolle von Antifaschist_innen und Antirassist_innen in diesen frühen Jahren des vereinigten Deutschlands angesichts von rassistischen und nationalistischen Mobilisierungen ist derzeit aktueller denn je: Denn wer in diesen Tagen die Hetze von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gegen Roma-Flüchtlinge aus Serbien und Montenegro verfolgt hat, der und die kann sich nur zurückversetzt fühlen in die Wochen und Monate, die zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 23. und 26. August 1992 geführt haben.
Dabei bedient sich Friedrich der klassischen Instrumente rassistischer Mobilmachungen: Aus einer kleinen Gruppe von knapp 7.000 Flüchtlingen in diesem Jahr wird eine »Flut von offensichtlich unbegründeten Anträgen«. Entsprechend heißt es in einem Brief Friedrichs an die EU Kommission, die Flüchtlinge würden »unsere ohnehin schon angespannten Aufnahmesysteme belasten«.1
Die Reaktionen der extremen Rechten wirken wie synchronisiert: In Wolgast (Mecklenburg-Vorpommern) mobilisieren Anwohner_innen, Freie Kameradschaften und NPD seit Wochen gemeinsam gegen eine im Sommer neu eröffnete Unterkunft für rund 200 Flüchtlinge mitten in einem als sozialer Brennpunkt bekannten Plattenbau-Viertel der Stadt. Die neonazistischen Parolen von »Asylschwemme« und »Asylmissbrauch« sind kaum zu unterscheiden von einschlägigen Statements von Politiker_innen aus der sogenannten demokratischen Mitte.
Ausgangspunkt: Das Pogrom von Hoyerswerda im August 1991
Wie es zu dem Pogrom kam, ist schnell erzählt. Am 17. September 1991 griffen mindestens acht Neonaziskinheads auf dem Marktplatz von Hoyerswerda zunächst einige vietnamesische Händler_innen an. Die Betroffenen wehrten sich und flüchteten dann in ein Vertragsarbeiter_innenwohnheim in der Albert-Schweitzer-Straße. Hier lebten rund 120 ehemalige Vertragsarbeiter_innen aus Mosambik und Vietnam.
Die Neonaziskinheads trauten sich zwar nicht in das Vertragsarbeiter_innenwohnheim hinein, sie organisierten aber ziemlich schnell immer mehr »Kameraden«, sodass sich innerhalb weniger Stunden drei bis vier Dutzend junge Neonazis Parolen grölend und Steine schmeißend vor dem Wohnheim versammelten. Da es mindestens zwei Stunden dauern sollte, bis sich die ersten PolizeibeamtInnen vor Ort blicken ließen, begannen die Vertragsarbeiter_innen zu ihrem Schutz, Müllcontainer auf die Straße zu schieben und gingen mit Knüppeln bewaffnet gegen die Neonazis vor. Die sächsische Polizei brachte sie später mehrheitlich direkt nach Berlin und Frankfurt am Main, von wo sie nach Mosambik zurückkehrten.
Ermutigt durch ihren Erfolg richteten die rassistischen Angreifer ab dem 19. September 1991 dann ihre Attacken gegen das Flüchtlingswohnheim in der Thomas-Münzer-Straße, in dem seit dem Frühsommer 1991 rund 240 Flüchtlinge wohnen mussten. Sie waren aus den alten Bundesländern nach Sachsen zwangsumverteilt worden und schon in den Wochen zuvor immer wieder bei ihren wenigen Ausflügen in die Stadt von marodierenden Neonazigruppen angegriffen worden. Sie wurden genau so wenig geschützt wie die Vertragsarbeiter_innen und am 21. September 1991 mit Bussen unter SEK-Begleitung in Barackenheime im Umland verteilt. Die meisten von ihnen flüchteten entweder in Gruppen oder individuell nach Berlin und Niedersachsen weiter.
Fatale Bilanz
Der Staat bzw. seine Exekutivorgane hatten sich aus gleich mehreren Kernaufgaben – dem Schutz von schutzlosen Minderheiten sowie der Verfolgung von Straftaten – komplett zurückgezogen. Insgesamt gab es 82 vorläufige Festnahmen in diesen fünf Tagen, woraus lediglich vier Verurteilungen resultierten. Die Signalwirkung von Hoyerswerda war fatal. Neonazis feierten Hoyerswerda öffentlich als »erste ausländerfreie Stadt« und schnell wetteiferten bundesweit Nachahmer – Neonazis, rassistische Gelegenheitstäter und politisch rechts sozialisierte Jugendliche. In Hoyerswerda und darüber hinaus sorgte die Kapitulation von Polizei und Justiz für ein enormes Selbstbewusstsein in der Neonaziszene, das bis heute ungebrochen anhält.
Die Rolle von unabhängigen Antifas und Antira-Aktivist_innen
Nach den ersten Berichten über die beginnende Pogromstimmung in Hoyerswerda vor dem Heim der Vertragsarbeiter_innen, fuhr am Ende der Woche ein erster Konvoi autonomer Antifaschist_innen und Antira-Aktivist_innen gemeinsam mit bürgerlichen und kirchlichen Antirassismus- und Flüchtlingsunterstützungsgruppen nach Hoyerswerda. Konfrontationen mit dem rassistischen Mob fanden nicht statt. Und genau darin lag eine Schwäche der gesamten Mobilisierung. Auch viele unabhängige Antifa- und Antira-Aktivist_innen gaben sich zu diesem Zeitpunkt noch der Illusion hin, dass die Exekutive tatsächlich im Sinne der Angegriffenen handeln würde. Im Antifaschistischen Infoblatt Nr. 41/1997 heißt es in der Rückschau sechs Jahre nach dem Pogrom: »Auch wir sind damals davon ausgegangen, dass die Staatsgewalt dem rassistischen Mob Einhalt gebieten würde – zumindest wenn eine Öffentlichkeit in Form von bürgerlichen Medien und humanitären Gruppen diese Forderung aufstellt. Erst als es zu spät war – nachdem sächsische SEK-Busse abends am 21. September 1991 die Flüchtlinge aus Hoyerswerda weggekarrt hatten – setzen sich Antifas und Antiras wieder in Bewegung, um die Flüchtlinge querbeet in sächsischen Dschungelheimen zu suchen.«
In diese Zeit fällt auch die zunehmende Spaltung von unabhängigen, linksradikalen Antifa- und Antira-Gruppen: Während erstere sich Wochenende für Wochenende vor allem beim Schutz von Flüchtlingsheimen und linken Zentren, Hausprojekten und besetzten Häusern und Treffpunkten insbesondere – aber nicht nur – in den neuen Bundesländern verausgabten, versuchten unabhängige Antirastrukturen in dieser Zeit vor allem die Zwangsverteilungen von Flüchtlingen in die ehemalige DDR ganz praktisch zu verhindern und die Betroffenen zu unterstützen.
Warum das Erinnern so wichtig ist
An die Fehler und die Niederlage der autonomen Antifa- und Antirabewegung der frühen 1990er Jahre zu erinnern, ist vor allem angesichts der aktuellen rassistischen Mobilisierungen dringend notwendig. Denn die zentrale Lehre aus Hoyerswerda und Rostock ist, dass öffentliche Appelle für ein Eingreifen von Polizei und anderen Exekutivorganen zugunsten von bedrohten Flüchtlingen immer dann völlig wirkungslos bleiben, wenn Pogrome oder pogromartige Situationen gerade ins politische Konzept passen. Das bedeutet aber auch, gemeinsam mit verlässlichen Bündnispartner_innen darauf vorbereitet zu sein, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun und nicht darauf zu hoffen, dass es andere tun werden oder dass »die Öffentlichkeit« schon rechtzeitig aufschreien wird. Wer die Situation in Wolgast und anderen Orten in diesen Tagen erlebt hat, weiß, dass praktische antifaschistische und antirassistische Solidarität notwendiger denn je ist.
- 1»Balkan-Asylbewerber sollen weniger Geld bekommen«, Welt online 25.10.2012