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„Crims d’odi“- Eine Dokumentation der Hassverbrechen in Spanien

Jorge Mancebo
Einleitung

Im Oktober 2020 ging eine Aktualisierung des Projekts „Crims d’odi“ („Hassverbrechen“) an die Öffentlichkeit, eine journalistische Forschungsarbeit, die bis 2015 mehr als 80 Fälle von hassmotivierten Morden in Spanien zusammengetragen hatte. In den letzten fünf Jahren sind 15 weitere Fälle hinzukommen und die Zahl ist auf 101 Verbrechen mit 103 Todesfällen angestiegen.

1993 wurde der Antifaschist Guillem Agulló von Neonazis ermordet. Sein Fall ist Teil des kollektiven Gedächtnis gegen das Vergessen.

Es geschah im Frühjahr 1993, anderthalb Monate nach dem Mord an dem jungen Antifaschisten Guillem Agulló i Salvador durch eine Gruppe Neonazis in Valencia.1 Am Morgen des 27. Mai zündeten drei neonazistische Skinheads in Valencia absichtlich das Fahrzeug an, in dem Tomás Martínez, ein 64-jähriger Obdachloser, über Nacht schlief und in den Flammen starb. Der Fall von Tomás Martínez ist einer von mehr als einhundert Fällen, die auf der Webseite „crimenesdeodio.info“ veröffentlicht wurden. Deren jüngste Aktualisierung wurde im Rahmen der Kampagne „Der Kampf geht weiter“ vorgestellt, die dieses Projekt mit anderen antifaschistische Erinnerungsprojekten wie einem Buch und einem Film über den bekanntesten Fall des ermordeten Antifaschisten Guillem Agulló verband.

Das Projekt „Hassverbrechen“ ist eine journalistische Forschungs- und Dokumentationsarbeit der Journalisten David Bou und Miquel Ramos, die 2015 bereits mehr als achtzig Fälle hassmotivierter Morde und Tötungs-delikte gesammelt hatten, die mit extrem rechten Gruppen oder Ideologien in Ver-bindung gebracht werden konnten. Mit der Neuauflage stieg auch die tragische Zahl der Ermordeten. Bis zu 15 neue Verbrechen kamen hinzu, die in diesem Zeitraum entdeckt oder begangen wurden und bis zu 101 Fälle mit 103 Todesfällen in den letzten 30 Jahren konnten registriert werden.

Die Aktualisierung des Projekts wurde von Expert_innen auf dem Gebiet der Aufklärung und Prävention von Hassverbrechen unterstützt. Die interaktive Karte koordinierte „SOS Racisme del País Valencià“, die Webseite wurde von Diego Muñoz entworfen und von Gerald Kogler programmiert.

Die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) definiert ein Hassverbrechen als „jede Straftat, einschließlich Straftaten gegen Personen und Sachen, bei der das Opfer, der Ort oder der Gegenstand der Straftat aufgrund seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung, Beziehung, Zugehörigkeit, Unterstützung oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgewählt wird, die auf der Rasse, der nationalen oder ethnischen Herkunft, der Sprache, der Hautfarbe, der Religion, des Alters, einer körperlichen oder geistigen Behinderung, der sexuellen Ausrichtung oder anderen ähnlichen tatsächlichen oder vermeintlichen Faktoren beruhen kann.

Laut dem Journalisten und Fachautoren Miquel Ramos bestand das Ziel des Projekts darin, „alle Fälle von Hassverbrechen zu dokumentieren, die mit der extremen Rechten in Verbindung stehen und ihre Andenken zu würdigen. (...) Es ist eine unbekannte Zahl und meistens sind diese Verbrechen unbemerkt geblieben.“ Ramos stellt fest, dass Hassverbrechen durch die Existenz von Vorurteilen begangen werden, die durch Hassreden verbreitet werden und das Projekt daher „ein Weckruf für die Verantwortung von Journalist_innen und Politiker_innen ist mit bestimmten Informationen umzugehen, die zur Verbreitung bestimmter Hassreden beitragen“.

Werkzeug gegen das Vergessen

Auf der Homepage erscheint eine interaktive Karte, auf der jeder Fall und jeder Ort einer Tat lokalisiert werden kann, sowie eine Fallakte, in der das Datum, eine Zusammenfassung der Faktenlage, die Art des Verbrechens, die Reaktion der Justiz und eine Zusammenstellung der Nachrichten oder Videos, die in den Medien erschienen sind, enthalten ist. Die Fälle werden in verschiedene Blöcke eingeteilt: Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Antiziganismus, Dysphobie2 , Gewalt im Fußball, ideologischer Hass, Aporophobie3 , Transphobie und andere.

Bei der Klassifizierung der Fälle können diese in mehr als eine Typologie eingruppiert werden. Hassverbrechen wegen Misogynie (Frauenfeindlichkeit) wurden nicht mit in die Untersuchung einbezogen, da es eine solche Dokumentation bereits auf der Webseite „feminicidio.net“ gibt. Nach den Zahlen dieser Untersuchung wurden in den letzten 30 Jahren in Spanien über 20 Menschen Opfer eines Hassverbrechens, das durch Aporophobie motiviert war und als Abneigung und Verachtung der armen Personen oder Hass auf mittellose Menschen (insbesondere Obdachlose) verstanden wird. Über 30 Personen wurden zu Opfern aufgrund von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit4 .

Hassverbrechen werden auch nach dem Strafmaß klassifiziert, wobei die Zahl der Fälle aufgeführt wird, die vor Gericht gekommen sind. Darunter fallen sowohl diejenigen Fälle, die mit einer Verurteilung (46) endeten als auch diejenigen, die mit einem Freispruch des Angeklagten (4) endeten, sowie die Zahl der eingestellten Fälle (4) und der Fälle, zu denen noch nicht einmal Informationen gewonnen werden konnten (47). In einer anderen Grafik werden „Hassverbrechen“, die vor Gericht gestellt wurden, nach der Art der verurteilten Straftaten klassifiziert: Mord, Totschlag oder andere Verbrechen.

Der Hauptunterschied zwischen einer Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags im spanischen Strafsystem besteht darin, dass es im ersten Fall nachweislich vorsätzlich oder beabsichtigt ist, das Opfer zu töten. Diese Zuordnung dient dazu, „die gerichtliche Entscheidung sichtbar zu machen, wenn es eine gibt. Tatsächlich gibt es in den meisten Fällen weder einen Prozess oder Täter“, betont Ramos. Sie dient auch dazu „zu sehen, welche Auswirkungen sie sowohl in den Medien als auch in den Gerichten haben“.

David Bou, der Autor des Projekts erklärt, dass seine Studie 1990 beginnt, weil dann ein „neues, eminent gewalttätiges Phänomen auftritt, wie zum Beispiel die Ultragruppen, die hauptsächlich mit der Welt des Fußballs verbunden sind, und die Instrumentalisierung von neonazistischen Skinhead-Gruppen, um ihre Ideologie zu verbreiten, die auf dem Hass auf das Andersartige basiert“.

Bis in die späten 1980er Jahre durchlebte Spanien eine Zeit der Gewalt nach der Transición5 , in die Auswahl der Opfer von Hassverbrechen einen ausgeprägten politischen Charakter hatte. Die Ermordung von Lucrecia Pérez und Sénia Rescalvo in den frühen 1990er Jahren, die als erste rassistische Verbrechen bzw. Verbrechen gegen eine Transsexuelle galten, markierte jedoch den Beginn einer neuen Ära, die bis heute andauert.

Die Saat der Erinnerung und der kollektive Herzschlag

Nach der Premiere des Films „La mort de Guillem“ („Der Tod von Guillem“)6 , der gleichzeitig von den jeweiligen öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern in den drei unter spanischer Verwaltung stehenden Gebieten der katalanischen Länder (Katalonien, Valencia und Balearen) zur besten Sendezeit und nach einer Tournee durch Kinos, Volkshäuser („casals populars“) und traditionelle Kulturvereine (Athenäen) über die Grenzen dieser Gebiete hinaus ausgestrahlt wurde, zeigt die Aktualisierung dieses Gedenkprojekts, dass es in den letzten 30 Jahren mindestens 100 Fälle in Spanien wie den von Guillem Agulló gegeben hat.

Für Rafa Molés, einen der Produzenten des Spielfilms, „ermöglicht uns die Webseite, im Jahr 2020 all die Gewalt, die ausgeübt wird, zu kontextualisieren. Für viele Menschen sind all diese Aggressionen aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert, aber wenn sie alle miteinander verbunden sind, erkennen wir, dass diese Gewalt, die gegen Guillem Agulló ausgeübt wurde, nie aufgehört hat und es gibt viele Fälle.“ Molés erinnert sich, dass sie zu Beginn der Kampagne „Der Kampf geht weiter“ die Bemühungen der Menschen zusammenbringen wollten, die sich auch mit dem Thema dieser Erinnerungsarbeit beschäftigten: „Wir haben uns durch das Kino dem Thema genähert, aber es gab auch viele Leute, die aus anderen Bereichen daran gearbeitet haben. Wie Núria Cadenes mit dem Buch, den Konzerten oder dieser Webseite7 “.

Oder wie die Autoren des Projekts „Crims d’odi“. Zunächst gab es nur eine Liste von nicht schriftlich dokumentierten Verbrechen, die auf antifaschistischen Internetseiten verbreitet wurde. Während einige dieser Fälle bekannt waren, enthielten andere nicht einmal den Namen der Opfer. Die Autoren nahmen diese Liste zum Ausgangspunkt, um alle Fälle der Liste genauer zu untersuchen: „Von hier haben wir mehr gefunden. Wir konnten sogar einige unbekannte Opfer namentlich nennen. Das Ergebnis ist ein Werkzeug des kollektiven Gedächtnisses, um nicht zu vergessen.“

(Der Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht in live.cat, übersetzt, redigiert und gekürzt vom AIB)

  • 1directa.cat/guillem-agullo-recordant-un-simbol-de-la-lluita-antifeixista
  • 2Ablehnung, Verachtung und Vorurteile gegenüber Menschen mit funktionaler Vielfalt und ihrer sozialen Realität (als „körperliche oder geistige Funktionsstörungen“ bezeichnet).
  • 3Abneigung und Verachtung für arme Menschen vor allem gegenüber den „Obdachlosen“, bezeichnet auch die Feindseligkeit gegenüber der Armut. Der Unterschied zwischen Aporophobie und Rassismus besteht nach Ansicht einiger Autor_innen in der Tatsache, dass es Gesellschaften gibt, die Einwanderer nur akzeptieren, solange sie über wirtschaftliche Ressourcen, Ruhm oder andere Vermögenswerte verfügen. Beide hängen zusammen, wenn Einwanderung aus Armut erfolgt.
  • 4definiert als Feindseligkeit, Ablehnung oder Hass gegenüber fremden Menschen oder Menschen, die aufgrund ethnischer, rassischer und kultureller Vorurteile so wahrgenommen wurden.
  • 5Die Transition bezeichnet die Übergangsphase vom Franquismus zu einer „parlamentarischen Monarchie“ seit dem Tod Francisco Francos im November 1975.
  • 6directa.cat/la-mort-de-guillem-la-batalla-social-i-judicial-dels-agullo-rodada-entre-amenaces
  • 7www.nuriacadenes.cat