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„Der Staat ist der größte Zuhälter“

Armand Lendale (Sexarbeiter*in)
Einleitung

Am 23. Juli 2019 versammelten sich in Berlin-Reinickendorf Antifaschist*innen und Sexarbeiter*innen, um der 25 Jahre zuvor von Neonazis ermordeten Beate Fischer zu gedenken. Diese Kundgebung war doppelt bedeutsam: Sie beleuchtete einen bis dahin wenig beachteten Fall rechter Gewalt und rückte einen überfälligen Schulterschluss zwischen Antifaschismus und den Kämpfen von Sexarbeitenden in greifbarere Nähe.

Foto: Twitter @akkberlin

Beate Fischer war Sexarbeiter*in. Am Abend des 23. Juli 1994 traf sie am Bahnhof Berlin-Lichtenberg auf eine Gruppe junger Männer, mit denen sie in ihre Wohnung fuhr. Dort wurde sie über mehrere Stunden vergewaltigt, gefoltert und ermordet, ihr lebloser Körper zu den Mülltonnen im Hof gelegt. Die Täter waren Neonazis, aktiv in der rechten Hooligan-­Szene und gehörten zum Umfeld um das in der Weitlingstraße von Neonazis bewohnte Haus der „Nationalen Alternative“ (NA). Zwar wurden sie zu Haftstrafen zwischen 10 und 21 Jahren verurteilt, jedoch wurde der Mord an Beate Fischer erst 2018 als rechte Tat anerkannt.

Auch wenn der Tod Beate Fischers in seiner Grausamkeit und Brutalität unvorstellbar ist, so ist er dennoch kein Einzelfall. 2015 und 2016 misshandelten und vergewaltigten Mitglieder der „Frauen“ zwei Sexarbeiter*innen. In Berlin-Schöneberg werden in den letzten Jahren im Bereich der Frobenstraße arbeitende Trans-Sexarbeiter*innen wiederholt durch Männergruppen angegriffen - zusätzlich zu verstärkten Forderungen seitens Politik, Nachbarschaft und Immobilienunternehmen, Prostitution aus dem Viertel zu verbannen. Dies sind nur lokale Beispiele, Gewalt gegen Sexarbeiter*innen ist jedoch ein weltweites Problem.

Stigma erzeugt Gewalt

Wir dürfen Gewalt gegen Menschen in der Sexarbeit weder als bloße Einzelfälle faschistischer oder frauenfeindlicher Täter betrachten, noch diese Arbeit als inhärent gewalttätig abstempeln. Eine Mitarbeiterin von Hydra e.V., einem Verein für die rechtliche und soziale Gleichstellung von Sexarbeiter*innen, erklärte in einem Redebeitrag beim Beate Fischer-Gedenken:

Diese Aggressionen sind das Ergebnis struktureller Diskriminierung und Stigmatisierung. Die Gewalt kommt aus der Mitte einer Gesellschaft, in der der Wert eines Menschen an seine wirtschaftliche Effizienz und in der seine Grundversorgung an Bedingungen geknüpft ist. Eine Gesellschaft, in der Frauen die sexuelle Selbstbestimmung abgesprochen wird, ihre Arbeit als minderwertig gilt und ihre Körper zum Ziel patriarchaler Machtansprüche und Moralvorstellungen werden. Wo die LGBTIQ* Community noch immer für die Anerkennung ihrer Existenz und um Grundrechte kämpfen muss. Wo Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit an rassistischen Grenzen und Auflagen gehindert werden. In der Sexarbeit laufen viele dieser Unterdrückungsstrukturen zusammen.“

Nicht die Sexarbeit ist dabei das Problem, sondern die Strukturen, in denen sie sich bewegt, und das Stigma, welches Gewalt gegen Sexarbeiter*innen legitimiert und uns weiterhin isoliert. Gewalt wird dann begünstigt, wenn Sexarbeit kriminalisiert wird und Menschen aufgrund von prekärem Migrationsstatus und Homo- oder Transphobie mit dem Rücken zur Wand stehen. „Sexarbeit deckt in vielerlei Hinsicht die Doppelmoral und Widersprüche einer kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaft auf“, so die Mitarbeiterin von Hydra e.V. weiter. Wenn Menschen strukturell zu Ausgegrenzten und Opfern erklärt werden „verwundert es somit nicht, dass vor allem Frauen, Queers und Migrant*innen die der Sexarbeit nachgehen, im Fokus rechter und staatlicher Gewalt stehen.“

Befremdlich ist jedoch, dass sich Huren­feindlichkeit durch alle politischen Strömungen zieht und auch innerhalb der Linken verbreitet ist. Dass „Prostitution“ zur Projektionsfläche für ideologische oder moralische Unbequemlichkeiten wird, lässt sich an einigen Vergleichen feststellen. Die ausbleibende Entrüstung bei anderer Care-­Arbeit zum Mindestlohn oder gar unbezahlter Reproduktionsarbeit zeigt, dass das Problem bei Sexarbeit nicht in der Ausbeutung von (weiblicher) Arbeitskraft gesehen wird, sondern in der Sexualisierung der Arbeit. Es gibt keine Lohnarbeit frei von Ausbeutung und für viele Sexarbeitende bietet diese Arbeit eine „bessere Alternative“ zu dem, was der patriarchale Kapitalismus zu bieten hat. Besonders für Migrant*innen und proletarische Queers ist sie ein wichtiges Mittel des Überlebens.

Die Ausblendung von queerer oder männlicher Sexarbeit aus der Diskussion dient dazu, ein vereinfachtes Narrativ durchzusetzen, in dem Frauen stumme Opfer und Männer triebhafte Täter sind – dabei wird kein Raum gelassen für selbstbestimmtes Organisieren Betroffener oder tiefere Analysen zu komplexen Problemen. Da sich kaum mit dem Thema Sexarbeit auseinandergesetzt wird (und wenn dann oftmals ohne die Stimmen von Sex­arbeitenden einzubeziehen), wird auf alte Stereotype zurückgegriffen. Eine verstärkte Vernetzung mit Sexarbeitenden und eigene kritische Recherche könnten hier Veränderungen bringen.

„Der Staat ist der größte Zuhälter“

Wenn wir uns die Kämpfe von Sexarbeitenden weltweit anschauen sehen wir, dass sie starke Bezüge haben zu anderen Bewegungen gegen Faschismus, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus und Autoritarismus.

Am 2. Juni 1975 besetzten Sexarbeiter*innen eine Kirche in Lyon, Frankreich um sich gegen Polizeiübergriffe zur Wehr zu setzen, sowie ein Ende von Bußgeldern und Haftstrafen für Sexarbeiter*innen zu fordern. Eine der Parolen war „Der Staat ist der größte Zuhälter“ und machte auf die Komplizenschaft staatlicher Behörden bei der Aufrechterhaltung schlechter (Arbeits-)Bedingungen und daraus resultierendem Profit aufmerksam. Seitdem ist der 2. Juni, der International Whore‘s Day, ein festes Datum für Aktionen von Sexarbeitenden.

In Deutschland ist seit 2017 das “ ProstituiertenSchutzGesetz“ (ProstSchG) in Kraft. Ein Etikettenschwindel, zielt es doch vor allem auf die Kontrolle von Sexarbeitenden ab, welche sich bei staatlichen Behörden registrieren und einen Sonderausweis bei sich tragen müssen, ablehnend auch „Hurenausweis“ genannt. Die Polizei erhält das Recht Personen sowie Arbeitsplätze und Privatwohnungen ohne richterlichen Beschluss zu durchsuchen. Arbeitsplätze werden durch unrealistische Auflagen zerstört, ein Großteil der Sexarbeitenden durch die Verweigerung oder Un­mög­lichkeit einer Registrierung in die Illegalität getrieben und weiteren Gefahren ausgesetzt. Besonders migrantische Sexarbeiter*innen sind durch solche Maßnahmen betroffen und es liegt auf der Hand, dass dieses Gesetz auch dazu dienen soll, Migrant*innen eine mögliche Einkommensquelle vorzuenthalten und in den Billiglohnsektor abzudrängen. Weitere Motivationen sind die Kontrolle (weiblicher) Arbeitskraft sowie die Verdrängung von Sexarbeit zum Zwecke der Gentrifizierung, aber auch die Durchsetzung einer ideologisch und moralisch begründeten „Abschaffung der Prostitution“.

Die Registrierung und Kontrolle von Sexarbeitenden hat in Deutschland Tradition: Auch im Kaiserreich mussten sich sexarbeitende Frauen polizeilich melden. Die Paranoia, Sexarbeiter*innen als Quelle von Krankheit und Sittenverfall zu sehen, verstärkte sich um die Zeit der beiden Weltkriege, als vermeintliche Prostituierte öffentlich geoutet wurden. Der Höhepunkt dieser menschenverachtenden Politik wurde allerdings im Nationalsozialismus erreicht. In Nazi-Deutschland wurden sie unter dem Label „asozial und arbeitsscheu“ in Konzentrationslager deportiert, ausgebeutet und ermordet. Auch gab es bereits zu Kriegsbeginn 1939 eine verstärkte Zwangsregistrierung von Sexarbeitenden, da sie als „unkontrollierte und volkszersetzende Gruppe“ betrachtet wurden. Erst seit Kurzem wird von Politiker*innen eine Anerkennung dieser Menschen als offizielle Opfergruppe verhandelt.

Als wären die Konsequenzen des ProstituiertenSchutzGesetzes nicht bereits katastrophal genug, werden von Prostitutionsgegner*innen, einigen Politiker*innen und Kirchenverbänden verstärkte Repressionen (bspw. die sog. „Freierbestrafung“ / Nordic Model) oder ein komplettes Verbot der Sexarbeit gefordert. Da die Argumentationsmuster sehr denen des „War on Drugs“ oder des „War on Terror“ ähneln, sprechen Sexarbeitsaktivist*innen auch vom „war on sex“ work, angetrieben von der rescue industry, welche unter dem Vorwand der „Rettung von Prostituierten“ Profite erzielt und für repressivere Gesetze Stimmung macht.

Diese Maßnahmen sowie die Gleichsetzung von Menschenhandel und einvernehmlicher Sexarbeit sind in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen werden dadurch Arbeitsrechte verunmöglicht, denn illegalisierte Arbeit kann keine Rechte haben. Zweitens wird Sexarbeitenden der Mund verboten - nicht nur werden sie als „nicht-repräsentative Privilegierte“ abgewunken, auch wird eine von Sexarbeitenden geführte Diskussion tatsächlicher Probleme erschwert, wenn eine argumentative Verteidigung gegen Anfeindungen den Raum einnimmt. Letztendlich wird auch verschwiegen, dass Menschenhandel sich nicht auf sexuelle Ausbeutung beschränkt: ein Großteil findet in der Agrar- und Textilindustrie sowie in der häuslichen Arbeit statt – ermöglicht durch Migrationsauflagen und Grenzregime. Weltweit setzen Organisationen von Sexarbeiter*innen diesen Entwicklungen die Forderung nach kompletter Dekriminalisierung bei gleichzeitiger Durchsetzung von Arbeitsrechten entgegen.

Perspektiven gemeinsamer Kämpfe

Entgegen aller Erwartungen wurde die Teilnehmer*innenzahl der Gedenkkundgebung für Beate Fischer übertroffen. Ein Grund könnte eine Politisierung unter Sexarbeitenden sein – angetrieben von repressiven Gesetzen und einer stärkeren internationalen Vernetzung. Doch diese Kundgebung kam nicht aus dem Nichts. Bereits am 17. August 2017 protestierten Sexarbeiter*innen und Antifaschist*innen gegen eine von der AfD geplante Veranstaltung zum Thema „Straßenstrich“ (die Veranstaltung musste aufgrund von Glasbruch am Veranstaltungsort abgesagt werden). In einem Redebeitrag meinte ein Sexarbeiter, dass es bei allen Gemeinsamkeiten nicht die AfD bräuchte, um Sexarbeitende und Antifaschist*innen einander näher zu bringen. Sexarbeitende haben in den letzten Jahren wiederholt bei linken Veranstaltungen Präsenz gezeigt, durch eigene Aktionen Inhalte gesetzt, sich organisiert und gegen Anfeindungen gewehrt. Ein Höhepunkt war die Demonstration anlässlich des Internationalen Hurentages 2019. Nicht nur, weil sie mit mehreren hundert Teilnehmenden eine der größten Mobilisierungen der letzten Jahre zum Thema war, sondern auch, weil sie in Redebeiträgen und durchgängig skandierten Parolen den Kampf der Sexarbeitenden mit anderen Bewegungen verband:

-  „My Body = my choice
-  „No Borders, No Nations, Stop Deportations
-  „Stop the violence stop the hate – smash the police state
-  „We raise our kids, work all night - side by side we‘re ready to fight
-  „Arrest us, just try it, Stonewall was a riot

Dieses steigende politische Bewusstsein und die Bereitschaft unter Sexarbeitenden, für die eigenen Positionen einzustehen, ist nicht nur ein Berliner Phänomen, sondern ein weltweites. Doch wir bewegen uns weiterhin in Isolation und sind Angriffen und Marginalisierung ausgesetzt. Dafür brauchen wir Verbündete und müssen aktiv Brücken zu anderen Bewegungen aufbauen. Wenn Antifaschismus bedeutet, sich gegen faschistische Gewalt, Patriarchat, Kapitalismus und einen autoritären Staat zur Wehr zu setzen und Ausgegrenzte der Gesellschaft zu unterstützen, dann sind die Kämpfe von Sexarbeiter*innen wesensverwandt. Eine verstärkte Vernetzung könnte theoretisch und praktisch bei allen Beteiligten zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen führen, welche für zukünftige Kämpfe notwendig sein werden.

Leseempfehlungen:

- Melissa Gira Grant – Hure spielen: Die Arbeit der Sexarbeit
- Juno Mac & Molly Smith – Revolting Prostitutes: The fight for sex workers‘   rights
- Jenny Künkel & Kathrin Schrader –   Sexarbeit: Feministische Perspektiven

Organisationen für Sexarbeiter*innenrechte:

- Hydra e.V. (Berlin)
- Doña Carmen e.V. (Frankfurt/Main)
- Berufsverband erotische und sexuelle   Dienstleistungen e.V. (deutschlandweit)