Angelo? – Lucifero!
Ein unbequemer Gewerkschafter im Sperrfeuer von Thüringer Neonazis und Justiz
Thüringen I – die Justiz
Mit Strafbefehl vom 8. August 2007 verhängt das Amtsgericht Erfurt auf Antrag der dortigen Staatsanwaltschaft gegen den Thüringer ver.di-Sekretär Angelo Lucifero eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr. Vorgeworfen werden dem Antifaschisten zwei Schüsse mit einer Gaspistole am 15. März 2007 auf zwei Neonazis, die eine antifaschistische Kundgebung störten und Teilnehmer angriffen. Hierbei soll Lucifero nicht nur bestraft werden, weil die zwei Neonazis angeblich Ohrensausen hatten, sondern auch, weil er für das Führen der Gaspistole keinen Berechtigungsschein besaß. Der Strafbefehl ist nicht nur völlig überzogen, er ist auch rechtlich fehlerhaft. Insbesondere ist er jedoch das Ergebnis einer völlig unzureichenden Ermittlungsarbeit.
Direkt vor Ort trifft die Polizei auf die angeblich verletzten Neonazis, von denen der eine zum Zeitpunkt der ersten Verletzung noch nichts über seine Verletzungen zu berichten weiß. Beide sind aktive Neonazis bzw. aktiv in der Thüringer NPD. Wenig erstaunlich erscheint es vor dem Hintergrund der weiteren Ermittlungen, dass keiner der Beamten die Frage stellt, was denn die Gruppe Neonazis inmitten der dort eigentlich stattfindenden antifaschistischen Kundgebung zu suchen hat. Man ist sich einig: völlig ohne Grund hat der allen bekannte Lucifero hier auf zwei zufällig Anwesende geschossen. Lucifero erklärt er habe in Notwehr gehandelt, immerhin hätten die Neonazis eine angemeldete Kundgebung gestört und deren Teilnehmer angegriffen, er sei schon zuvor geschlagen worden. Als Lucifero gegen den Strafbefehl Einspruch einlegt, wird die Hauptverhandlung anberaumt. Als sich herausstellt, dass er aufgrund einer vor allem durch Stress hervorgerufenen Tinnituserkrankung verhandlungsunfähig ist, wird der Prozess zunächst ausgesetzt. Ein in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigt die Verhandlungsunfähigkeit. Die Staatsanwaltschaft zeigt sich bislang unbeeindruckt: der Angeklagte sei verhandlungsfähig – das Gutachten hat man offenbar nicht gelesen.
Thüringen II – der Täter der kein Opfer sein will
Angelo Lucifero ist unbequem: Anfang der 1990er Jahre mit der Gewerkschaft Handel Banken Versicherung (HBV) nach Thüringen gekommen, war er jahrelang ein Vorzeigegewerkschaftsekretär. Mit der HBV wurde unter seiner maßgeblichen Beteiligung der längste Bankenstreik Deutschlands durchgeführt, mit dem Ergebnis der Anpassung der Gehälter an Westniveau. Schnell hatte er auch Konfrontationen mit Neonazis, denen es gar nicht passte, dass hier ein bekennender Linker die Probleme und Nöte der Arbeitenden aufnahm. Seit 1991, also seit mehr als 17 Jahren dauern diese Angriffe an. Sie reichen vom Durchtrennen der Bremsschläuche seines Autos, über andauernde Drohanrufe, Schmähungen mit Bildabdruck im Internet, Bedrohungen bis zu Körperverletzungen. Andererseits ist Lucifero immer da, wo die Neonazis sind, er stört lautstark deren Aktivitäten mit seinem zum Lautsprecherwagen umfunktionierten PKW, bildet Bündnisse quer zu allen internen Streitigkeiten und scheut sich nicht, auch ihm nahe stehende Personen und Gruppen scharf zu kritisieren.
Die zunehmende Bedrohungssituation führt zu einer Reihe von Auseinandersetzungen mit der Polizei, die keineswegs begeistert ist, hier einen Gewerkschafter vorzufinden, der nicht nur Opfer sein will. Lucifero scheut die Zusammenarbeit mit unabhängigen, darunter auch autonomen, antifaschistischen Gruppen nicht. Für die Polizei wird er damit zum »Störenfried«. Auch viele ver.di-Funktionäre, insbesondere in der Landesleitung, sind von seiner persönlichen Art verstört, genervt aber auch über die offensive Intervention des Gewerkschaftssekretärs in »allgemeinpolitische« Fragen. Als er immer stärker angegriffen wird, erfährt er daher immer weniger Unterstützung. Nach dem Vorfall in Erfurt wird ihm endgültig die Unterstützung der ver.di Landesleitung entzogen. Verschiedene interne Streitigkeiten werden dazu benutzt, ihn abzumahnen. Von Basisgruppen in der Gewerkschaft erfährt er dagegen massive Unterstützung. Die bundesweiten Beschlüsse und Resolutionen prallen an der Thüringer ver.di-Landesleitung allerdings ab. Um die Jahreswende wird Lucifero schließlich gekündigt. Diese Kündigung kann erst nach massiver bundesweiter Intervention an die ver.di-Bundesleitung abgewehrt werden. Allerdings soll die Fortsetzung seiner Tätigkeit nicht in Thüringen erfolgen.
Thüringen III – die Neonazis
Die Thüringer Neonaziszene, insbesondere die Erfurter NPD unter Leitung von Kai-Uwe Trinkaus (siehe AIB 78), ist schon etwas Besonderes. Das systematische Einstellen von Beleidigungen und Drohungen auf ihren Internetveröffentlichungen wird seit Jahren betrieben, ungestört von Polizei und Justiz. Trinkaus selbst spricht davon, die Einschleusung von NPD-Sympathisanten in Gliederungen der SPD und der Partei Die Linke geplant und gelenkt zu haben. Einer der damals eingeschleusten Neonazis ist jetzt ein für die Staatsanwaltschaft wichtiger Belastungszeuge. Trinkaus scheint über gute Informanten bei der lokalen und der Landespolizei zu verfügen, er veröffentlicht Informationen, die nur dort verfügbar sind. Anfang des Jahres feierten die Thüringer Neonazis im Internet die außerordentliche Kündigung von Lucifero als »Weihnachtsgeschenk« und riefen ihre Kameraden dazu auf, ver.di beizutreten. Für die Szene wäre eine solche Kündigung nicht nur ein persönlicher Sieg gegen einen ihrer schärfsten und nachhaltigsten Gegner im Land gewesen, sondern auch eine Diskreditierung seiner Arbeit und der erzielten Erfolge. Zuletzt verschafft man sich gar eine Ausfertigung des zwischen ver.di und Lucifero geschlossenen Vergleiches und veröffentlicht ihn im Internet. Diese Veröffentlichung ist zwar die Dokumentation des eigenen Scheiterns, soll aber wohl beweisen, wie gut man die Informationsbeschaffung beherrscht.
Ausblick
Staatsanwaltschaft und Justiz haben den Prozess gegen Angelo Lucifero zu einem Schauprozess gemacht. Bereits im Vorfeld der Ermittlungen hätte man das Verfahren deutlich weniger hoch hängen können. Grundlage hätte jedenfalls eine in alle Richtungen geführte Ermittlungsarbeit sein müssen. Jetzt wurde mit dem völlig überzogenen Strafbefehl über ein Jahr Freiheitsstrafe allerdings ein Ziel vorgegeben, das den weiteren Fortgang bestimmen wird. Schon die nächste Provokation von Neonazis könnte dazu führen, dass die Bewährung widerrufen wird und Angelo Lucifero die Haftstrafe antreten müsste. Maßgeblich für den Fortgang dürfte die weitere Unterstützung politischer wie finanzieller Art für den Gewerkschafter sein. Ganz abgesehen vom Tatvorwurf geht es darum, antifaschistisches Engagement zu verteidigen. Widerstand gegen Neonazis ist nicht nur dann legitim, wenn man ein veritables Opfer abgibt und alle Regeln des zivilbürgerlichen Lebens einhält. Widerstand ist auch dann legitim, wenn er aus Notwehr, aus Angst und Wut oder unter dem dauerhaften Druck neonazistischen Terrors die Grenzen des Vorgegebenen überschreitet. Die Urteile der Gerichte werden nicht allein im Gerichtssaal entschieden, sondern auch durch die gesellschaftliche Stimmung.