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Aufbruch Ost!

„Aufbruch Ost“ (Gastbeitrag)
Einleitung

Debatten über Ostdeutschland sind wieder en vogue. Der Grund für die mediale Aufmerksamkeit liegt in der hohen Zustimmung Ostdeutscher zu autoritären bis rechtsradikalen Politikangeboten. Die Ergebnisse der Kommunal- und Europawahlen haben das erneut gezeigt. Die kommenden Landtagswahlen werden dies noch. Aber auch PEGIDA, der NSU-Komplex sowie regelmäßige neonazistische Ausschreitungen sorgen für berechtigte Empörung.

Intervention von „Aufbruch Ost“ auf dem Leipziger Lichtfest 2018.

Das Ausbreiten rechter Strukturen seit den 90er Jahren - gerade in Kleinstädten und ländlichen Regionen des Ostens - führte aber auch zu einem verstärkten antifaschistischen Abwehrkampf. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben allerdings gezeigt, dass dieser alleine nicht ausreicht, um den Rechten in Ostdeutschland nachhaltig etwas entgegenzusetzen. Stattdessen befindet sich die ostdeutsche Linke zunehmend in einer Bedeutungskrise. Es scheint fast so, als ob politische Radikalität zu einer subkulturellen und ästhetischen Kategorie geworden ist. Ein „an die Wurzel gehen“ in dem Sinne, dass wir uns als außerparlamentarische Linke mit den Ursprüngen und Bedingungen gesellschaftlicher Probleme beschäftigen, scheint (nicht nur) in Ostdeutschland aus der Mode gekommen zu sein.

Wer aber progressive Politik in Ostdeutschland machen will, wer Mehrheiten zurückgewinnen will, und wer den Großteil der Gesellschaft nicht als per se reaktionär und naturgemäß rassistisch aufgeben will, der darf eben nicht nur die Symptome bekämpfen. Vielmehr müssen auch die Ursachen analysiert werden, durch die es zu rechten Exzessen sowie zu autoritären Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft kommt. Wer heute über Ostdeutschland sprechen will, muss die zeithistorische Tiefendimension gegenwärtiger Problemlagen erfassen. Denn gesellschaftliche Phänomene haben ihren Ursprung in der spezifischen Vergangenheit und sind systemisch bedingt: Mittelpunkt einer notwendigen Aufarbeitung ist daher die Nachwendezeit, also die letzten 30 Jahre.

Der auf den Mauerfall folgende Systemwechsel von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft war als ein radikaler „Nachbau-­West“ organisiert. Dieser Umbau folgte der neoliberalen Ideologie schneller Privatisierungen, welche als alternativlos dargestellt, und von der skandalträchtigen Treuhandanstalt ausgeführt wurden. Die Folgen waren immens: Rückgang der Industrieproduktion zwischen 1990-1993 um 60-70 Prozent, Einbruch der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung um über 30 Prozent, weit über 3 Millionen Menschen verloren ihre Arbeit. Mit dem ökonomischen Umbruch ging für viele Ostdeutsche ein Wegfall sozialen Rückhalts einher. Gut ausgebildete Fachkräfte wanderten in den Westen aus, die Geburtenrate halbierte sich seit 1990 und die Selbstmordrate stieg an.

Die Privatisierung der ehemaligen Volks­wirtschaft, die Wiedereinführung von Privat­eigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln, war im Kern jedoch nichts anderes als eine noch nie da gewesene Umverteilung von unten nach oben. Über 90 Prozent des ehemaligen Volkseigentums gingen in das Privateigentum westdeutscher Unternehmen über. Für den regionalen Erwerb von Eigentum fehlte es in Ostdeutschland zumeist an Mitteln und Strukturen. Diese eilige Entwicklung stand in einem krassen Gegensatz zu den Hoffnungen der oppositionellen Kräfte und Vieler, die 89/90 für eine bessere und sozialere Zukunft auf die Straßen gegangen waren. Stattdessen folgten Massenarbeits­losigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Soziale Unsicherheit, Abwanderung und Zukunftspessimismus. Sicherlich sind der­artige Entwicklungen keine rein ostdeutschen Phänomene. Die Wucht, mit der die Transformation die Ostdeutschen traf, ist jedoch einzigartig und wirkt bis heute nach. Wenn wir als ostdeutsche Linke den Anspruch haben, breitenwirksame Politikangebote zu machen, werden wir dieses Thema berücksichtigen müssen.

Lohnenswert ist dabei zunächst die geschichtspolitische Dimension, also die aktive Erinnerungsarbeit. Hierbei wird es besonders in diesem Jahr - dreißig Jahre nach ‘89 - darauf ankommen, die Geschichtserzählung über die DDR-, Wende- und Nachwendezeit nicht denen zu überlassen, die sie als reine Erfolgsstory verkaufen wollen. Das vielfach von Ostdeutschen empfundene Gefühl, mit einer Geschichtserzählung konfrontiert zu sein, welche vom „siegreichen Westen“ geschrieben wurde, führt allzu oft zu Frustration und Nichtidentifikation. Und es führt zu dem Gefühl, dass die zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Verluste der Ostdeutschen von der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft nicht anerkannt werden. Bedenkt man, dass eine angemessene Repräsentation der ostdeutschen Bevölkerung in den Führungsetagen von Staat und Gesellschaft bis heute nicht existiert, ist es auch nicht verwunderlich, dass sich dieses Gefühl oftmals gegen tatsächliche oder vermeintliche Eliten wendet. Das Gefühl „Bürger*in zweiter Klasse“ zu sein, ist sehr weit verbreitet.

Die neuen Rechten haben dieses Frustrationspotential erkannt. Es besteht daher die Gefahr, dass sie diese kollektiven Erfahrungen weiter instrumentalisieren, indem sie rhetorisch gezielt aber inhaltlich entfremdet an die Wende-Vergangenheit anknüpfen.  Etwa die AfD versucht derzeit das Thema „Treuhand“ für sich zu nutzen. Auch die von Uwe Tellkamp  initiierte Gesprächsreihe „70 Jahre DDR“ in Dresden ist ein Beispiel dafür, wie die Vorstellung eines immer noch bevormundenden, die Meinungsfreiheit einschränkenden elitären Systems aufrecht erhalten wird, das über den Bruch der Wende hinweg existiert und jetzt im Sinne eines Aufbegehrens von rechts überwunden werden soll. Es sind geschickte Angebote gegen das Gefühl der Ohnmacht.

Wenn wir diesen Entwicklungen etwas entgegenhalten wollen, und das sollten wir, müssen wir die Menschen mit einer anderen Erzählung erreichen. Dies setzt jedoch voraus, dass wir unsere politischen Praxen und Adressat*innen-Kreise radikal erweitern und uns aus der Szeneblase heraus begeben. Als ostdeutsche Linke müssen wir zudem berücksichtigen, dass ökonomische Konflikte teilweise von kulturellen Spannungen überlagert werden: etwa zwischen urbanen Milieus in den Städten, die Wert auf Ungebundenheit legen (Kosmopolit*innen) und stärker kommunal gebundenen, regionale Denkhorizonte befürwortenden Milieus (Kommunitarist*innen) in den ländlichen Regionen. Diese differenzierte Betrachtung ist in Ostdeutsch­land besonders angebracht, weil der gesellschaftliche Gewinn einer globalisierten Gesellschaft sich hier überproportional in den Städten bemerkbar macht, während den Verlusten des ländlichen Raums kaum Fortschritte gegenüberstanden. Vergegenwärtigt man sich zudem die kosmopolitische Privilegiertheit, die sich durch hohe Mobilität und kulturelle Wahrnehmbarkeit auszeichnet, wird es nachvollziehbar, warum Verweise auf politische Korrektheit häufig von Kommunitarist*innen als heuchlerisch und paternalistisch wahrgenommen werden. Während sich das großstädtische Milieu als aufgeklärt, moralisch überlegen und herrlich weltoffen geriert, wird der globale Kapitalismus, als Motor der kosmopolitischen Welt und Autor des aktuellen Rechtsdralls verleugnet.

Wer hingegen gesellschaftliche Kämpfe zusammen denken will, muss die einzelnen Kämpfe – etwa den feministischen, den ökologischen, den antirassistischen, aber auch den ökonomisch-sozialen - gleichberechtigt mitdenken. Sich hinter die Grenzen der eigenen Kreise zurückzuziehen reicht dann nicht aus, sondern führt nur zu noch mehr Trotz und Ablehnung. Gerade in Ostdeutschland bedeutet dies, dass die meist großstädtische Linke Sensibilität gegenüber den Problemlagen der (ländlichen) Bevölkerung entwickeln muss. Und wir müssen an der Vermittelbarkeit unserer Ansätze arbeiten. Die eigenen politischen Ansprüche dürfen dabei keineswegs aufgegeben werden. Diesen Ansprüchen werden wir aber auch nicht dadurch gerecht, dass wir nur kleine Kreise nachhaltig erreichen.

Unter dem Namen „Aufbruch Ost“ rufen wir daher dazu auf, mehr Gesellschaft zu wagen! Wir wollen keinen Bogen um kollektive ostdeutsche Erfahrungen machen, sondern diese aufgreifen und mit progressiven linken Ideen in Verbindung bringen. Wir wollen die berechtigte Frustration und Kapitalismusskepsis vieler Ostdeutscher aufgreifen und in Bewegung setzen. Wir wollen ins Gespräch kommen und Menschen außerhalb unseres Szenehorizontes erreichen. Hierzu stellen wir uns ostdeutschlandweit in Fußgänger*innen-Zonen und auf Marktplätze und führen Gespräche. Hierzu veranstalten wir Podiumsdiskussionen und Filmvorführungen und vieles Mehr. Hierzu nehmen wir an Demonstrationen teil und organisieren eigene. Und wir rufen dazu auf, unserem Motto zu folgen sich mit uns ostdeutschlandweit zu vernetzen.

Kurzum: Wenn wir als ostdeutsche Linke wieder aus der Versenkung herauskommen wollen, so kann uns dies nur gelingen, wenn wir die Idee eines solidarischen und emanzipatorischen gesellschaftlichen Aufbruchs unter die Menschen bringen. Wer glaubt, dass dies fern liegt, irrt. Allein der Blick auf die populären Utopien der ´89-Bewegung zeigt: Die Wünsche nach einer freien, gleichberechtigten, demokratischen, sozialen und ökologischen Gesellschaft sind sehr vielen Ostdeutschen nicht fremd. Lasst uns, 30 Jahre nach ´89, hieran anzuknüpfen, diese reaktivieren und als nahbare Zukunftsvision gegen die einfältige Politik der Rechten in das gesellschaftliche Gespräch bringen. Lasst uns gemeinsam in Ostdeutschland in die Offensive gehen, solange es noch geht!