Berlin-Marzahn: Nguyễn Van Tu erstochen
Nguyễn Van Tu kam 1987 als Vertragsarbeiter in die DDR. Er war Arbeiter im Walterhausener Gummikombinat bei Gotha und wurde im November 1990 entlassen. Am Ende des Jahres 1992 endete seine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland und Tu wollte in seiner Heimat, wo seine über 70-jährigen Eltern und fünf Geschwister ihn erwarteten, heiraten.
Am Freitagabend des 24. April 1992 überfiel eine Gruppe von jugendlichen Rassisten vietnamesische HändlerInnen vor einem Einkaufszentrum am Brodowiner Ring im Berliner Trabantenstadtteil Marzahn. Ihr Opfer, der Vietnamese Tu, war an jenem Abend zu Besuch in Berlin. Er wollte einen seiner Freunde vor dem Einkaufszentrum am Brodowiner Ring aufsuchen, als er sah, wie eine Gruppe deutscher Jugendlicher auf seinen Freund und andere VietnamesInnen, die Textilwaren verkauften, einschlugen und ihre Stände umtraten. Tu wollte mit den Jugendlichen diskutieren. Er versuchte ihnen zu erklären, daß sie kein Recht hätten so zu handeln. Der Angreifer Mike Lillge geriet darüber anscheinend in Zorn und stach Tu plötzlich mit einem Butterfly-Messer in die Brust. Tu brach blutend zusammen.
Zum Zeitpunkt des Überfalls zwischen 17.30 und 18.00 Uhr war der Platz vor dem Einkaufszentrum voller Menschen. Die Passanten griffen während des ganzen Überfalls nicht ein. Selbst als Tu schwer verletzt am Boden lag, fühlte sich keiner der PassantInnen verantwortlich und rief einen Krankenwagen. Die Täter konnten unbehelligt flüchten. Tu wurde von seinen Freunden in ein Friedrichshainer Krankenhaus gebracht. Wenige Stunden später starb er trotz einer Notoperation. Am Mittwoch der darauffolgenden Woche wurde Lillge in seiner Wohnung verhaftet und unter Anklage gestellt.1
Rassistische Gewalt ist alltäglich in Marzahn
Dies war nicht der erste Überfall dieser Art in Marzahn und es blieb auch nicht der letzte: Bereits vor mehr als einem Jahr entging ein junger Vietnamese nach einem Überfall nur knapp dem Tod. Auch das Wohnheim der hauptsächlich vietnamesischen VertragsarbeiterInnen war schon des öfteren Schauplatz von Attacken. Überfälle auf Dunkelhäutige und polnische Touristen sind in Marzahn an der Tagesordnung. In der Nacht vom 29. auf den 30. April wurde die dunkelhäutige Berlinerin Beate G. (36) von drei »Skinheads« zu Boden geschlagen — anschließend traten sie mit ihren Stiefeln auf ihrem Kopf herum und liefen lachend weg. Beate G. kam mit einem Schädelbruch in ein Krankenhaus und schwebte in akuter Lebensgefahr. Ebenfalls lebensgefährlich verletzt wurde in der gleichen Nacht der polnische Tourist Jaroslav M. (24) auf den drei Skinheads mit Macheten und Springmessern einstachen.
Marzahn ist das größte Berliner Neubaugebiet mit mehr als 300.000 EinwohnerInnen. Die Bevölkerung ist von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen und die Zustände auf den Arbeits-. Wohn- und Sozialämtern werden als erschreckend beschrieben. Bei vielen MarzahnerInnen verbreitet sich Enttäuschung über die hohen Politik und die Lüge vom schnellen Wohlstand. Es gibt gerade für Jugendliche kaum Räumlichkeiten, um ihre Freizeit zu gestalten. Die 21 ehemaligen Jugendklubs sind »im Zuge der Wende« großteils geschlossen oder in kommerzielle Diskotheken umgewandelt worden. Keine Frage also, das da Abhilfe geschaffen werden muß - jedoch nicht in der Art und Weise, wie im nächsten Absatz geschildert.
Der Senat überläßt den Neonazis ein Haus
Das Jugendfreizeitheim »Wurzel« in der Dessauer Straße wurde früher von linken Jugendlichen besucht. Nach seiner Schließung öffnete es unter neuer West-Regie.2 Der Berliner Jugendsenator Thomas Krüger (SPD) überließ es einer Gruppe jugendlicher Marzahner Rechten und Neonazis. Der Treffpunkt dieser Jugendgruppe war vorher ein Imbiß, der des öfteren zum Ausgangspunkt von Überfällen auf das nahegelegene VietnamesInnen-Wohnheim in der Glückaufstraße (heute Havemannstraße) wurde.
Für den Ausbau und für ABM-Stellen der »Wurzel« wurden 250.000 DM vom Senat bewilligt. Sie stammen aus den Mitteln des »Bonner-Anti-Gewalt- Programms« (1,2 Millionen DM für Berlin). Den neuen, »links-alternativen« Sozialarbeiter Michael Wieczorek stört nicht, das unter den Jugendlichen, die das Jugendfreizeitheim jetzt besuchen, zahlreiche in der neonazistischen Partei „Deutsche Alternative“ organisiert sind: Hakenkreuze und "Deutschland den Deutschen"-Rufe seien nicht unbedingt Ausdruck gefestigter neonazistischer Überzeugung. „Solche Rufe überhöre ich“. Am 20. April 1992 konnten ca. 200 Neonazis in der »Wurzel« eine »Hitler Geburtstagsfeier« veranstalten - die Reichskriegsflagge war über dem Eingang des Zentrums gehisst.
Noch nicht mal eine Woche nach dieser Neonazi-Feier und einen Tag nach dem Mord demonstrierten der Marzahner Bürgermeister Andreas Röhl und Berlins Bausenator Wolfgang Nagel (beide SPD) wo sie stehen: Zusammen mit „Peter“, dem Wortführer der Neonazi-Skinhead Gruppe, stellten sie sich zum Gruppenbild vor die Kameras. In der »Wurzel« fand ein Fest statt, auf dem, nach anfänglichem Protest der rechten Jugendlichen, auch zwei Döner Kebab-Stände zugelassen wurden. Danach pflanzten Nagel und der Anführer der Jugendlichen »einen Baum, der für den ersten Schritt zum neuen grünen Selbstverständnis Marzahns stehen soll.« Nach den Reden der Offiziellen ergriff dann der Neonazi- Skinhead »Blacky« in braunem Hemd, schwarzem Schlips, schwarzen Hosen und schwarzen Stiefel (im Stil einer SA-Uniform) das Wort. Er beendete seine Rede mit Angriffen »gegen den linken Pöbel von der Antifa«.
Kritik an der »Wurzel« und dem Sozialarbeiter
Wieczorek ist unter Sozialarbeitern, die Erfahrungen mit solchen Projekten sammeln konnten, umstritten. Das Projekt Wieczoreks sei ohne Konzept und ohne klare Absprachen wird kritisiert. Außerdem sei es zwecklos mit Jugendlichen, die schon so tief von neonazistischem Gedankengut beeinflußt und organisiert sind, auf diese Art und Weise zu arbeiten. Einige der Skinheads aus der »Wurzel« sind schon seit Jahren Sympatisanten der Neonazis und bekennen sich offen dazu. Es ist bekannt: Sie waren es, die vor der laufenden Kamera des RTL-Fernsehens das VietnamesInnenheim angegriffen hatten. Wieczorek war Anfang der 1980er Jahre in der Kreuzberger HausbesetzerInnen-Szene unterwegs. Als bekannt wurde, das er seine Wohnung mit dem Polizeibeamten Donald F. teilte verschwand Wieczorek von der Bildfläche.
Auch ihm schlug ob seines undurchsichtigen Verhaltens Misstrauen entgegen. Den AntifaschistInnen, die das Projekt in der »Wurzel« kritisieren, geht es nicht darum, das mit rechten Jugendlichen keine Sozialarbeit gemacht werden soll, es kommt darauf an wie: Wenn der Senat, wie im Falle der »Wurzel«, den Neonazis ein Zentrum zur Verfügung stellt, wird es zum Anziehungspunkt für noch mehr rechte Jugendliche. Es ist dann kein Ort für Sozialarbeit, sondern Sammel,- und Organisationspunkt für neonazistische Gruppen und Parteien.
Antifa-Aktionen mit geringer Beteiligung
Die erste Reaktion von 300 AntifaschistInnen fand am Sonntagabend statt, nachdem die Zeitungen über den Mord berichtet hatten. Sie demonstrierten durch die Hochhausschluchten und machten die Bevölkerung auf die Vorgänge in ihrem Stadtbezirk aufmerksam. Danach zogen sie vor die »Wurzel« und forderten die Schließung des Zentrums. Erschreckend wenige Leute folgten am Donnerstag der folgenden Woche einem Demonstrationsaufruf Berliner Initiativen am Ort des Geschehens: Nur 150 Leute fanden sich ein. Es wurde eine einstündige Kundgebung abgehalten.
Der „Verein der Vietnamesen in Berlin“ und die Freunde Tus wendeten sich in Redebeiträgen an die Bevölkerung und die DemonstrantInnen. Es wurde davor gewarnt, daß Marzahn bei einem Fortgang dieser Gewalt bald in einem Atemzug mit Hoyerswerda genannt wird. Die „Antifa Jugend Front“-Marzahn informierte über das Jugendprojekt »Wurzel« und erklärte warum sie der Meinung ist, das so dem Einfluss der Neonazis nicht beizukommen ist. Die Kundgebung wurde mit dem Aufruf an die Bevölkerung beendet nicht weiter wegzuschauen und in Zukunft einzugreifen. Am Sonntag dem 3. Mai veranstaltete der "Verein der Vietnamesen" in Berlin einen Trauermarsch mit ca. 2.000 TeilnehmerInnen mit einer anschließenden vietnamesischen Trauerfeier am Tatort.
Bei uns bleibt das Gefühl, daß solche Angriffe schon zur »Normalität« geworden sind, daß sie nur noch wenige Leute schockieren, und für eine antirassistische Demonstration auf die Straße bringen. Die AntifaschistInnen in den Neubaugebieten haben einen schweren Stand. Es ist allerhöchste Zeit, daß antifaschistische Initiativen und die Linke in Berlin sie verstärkt unterstützen.
- 1Nachtrag: Er wird am 8. Oktober 1992 vom Landgericht Berlin wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Als Tatmotiv stellt das Gericht Selbstjustiz vor dem Hintergrund „fremdenfeindlicher Ressentiments“ fest. Als Nguyễn Van Tu’s Mörder vernommen wird, gibt dieser an, mit der rechten Partei »Deutsche Volksunion« (DVU) zu sympathisieren. Die täten wenigstens etwas gegen Migrant*innen, die »Straftaten« verüben, wie zum Beispiel den Verkauf unversteuerter Zigaretten. Der Richter setzte die von der Staatsanwältin geforderte fünfjährige Haftstrafe auf vier Jahre herunter. Im Urteilsspruch heißt es, die Tat sei zwar »Akt verwerflicher Selbstjustiz«, sei aber nicht aus Ausländerfeindlichkeit begangen worden, Nguyễn Van Tu, habe die Neonazischläger »rechtswidrig angegriffen«. (Aus: »Nicht aus Ausländerfeindlichkeit« getötet, TAZ, 9. Oktober 1992)
- 2Nachtrag: Vgl. dazu auch Helmut Höge in „die tageszeitung“ vom 23. August 2007: Einmal befanden sich die Jugendlichen des Freizeit-Clubs „Wurzel“ in Marzahn-West auf Fahrradtour nach Stralsund. Unterwegs erfuhr ein Mitarbeiter aus der Zeitung, das sein angeblich schon seit längerem geschlossener Club nunmehr einem „Skin-Projekt“ zur Verfügung gestellt worden war, unter der Leitung des Westberliner Sozialpädagogen Michael Wieczorek. Dieser hatte zuvor als „Streetworker“ im benachbarten Falkenberg ein „Videoprojekt mit Skins“ geleitet, das dann, seiner Meinung nach durch einen diffamierenden RTL-Bericht, gestorben war. In Marzahn hat die PDS 3.000 Mitglieder, etliche machten sich auch einen Kopf über die Verrohung der Sitten unter den dortigen Jugendlichen. Ihnen verriet Wieczorek: „Ich will in die ,Wurzel‘, die ist sowieso immer geschlossen“ (außerdem lief seine ABM-Stelle gerade aus!). Er schaffe es dann über einen SPD-Überläufer, der zur Belohnung Jugendamts-Direktor in Marzahn geworden war. Dessen Frau hatte sich zur gleichen Zeit mit einer sozialpädagogischen Fortbildungsstätte selbständig gemacht, wo u.a. auch der Ehemann Kurse abhielt. Diesem „Projekt“ half der Verband für sozialkulturelle Arbeit, verzahnt mit dem in Marzahn sehr aktiven Westberliner Sozialpädagogischen Institut (SPI) der Arbeiterwohlfahrt. Der Jugendamts-Direktor gab dafür dem SPI die „Wurzel“, die dann Streetworker Michael Wieczorek rein holte, dazu noch eine weitere feste Stelle sowie fünf Honorarkräfte, zwei Kleinbusse und 100.000 DM Sachmittel jährlich – zur Betreuung von 15 Skinheads. Finanziert wurde und wird der ganze Spaß drei Jahre lang vom Familienministeriums-„Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, kurz „Gewalt-Topf“ genannt. (…) Wurzel-Sepp Wieczorek, der sich erst, als West-„Linker“, an die Ost-Linken im Bezirksamt anbiederte, macht jetzt, nach finanzieller Absicherung seines „Projekts“, ebenfalls Front gegen Punks und Antifas – und scheut dabei nicht vor dreisten Lügen zurück. In seinem „Praxisbericht“ für SPD-Jugendsenator Krüger schreibt er z.B. über eine Kreuzberger „Kampfdemo“ in Marzahn: „Die etwa 350 türkischen, ,autonomen‘ Jugendlichen waren mit Äxten, Schlagwerkzeugen und Pistolen gerüstet.“ Da stimmt nichts: Ich war selber dort, es wurde nichts „zerstört“ und niemand „verängstigt“. Seine Kurzzeit-Streetworker- Hilfskraft setzte später in der FR noch einen drauf: „Die PDS organisiert Demos gegen die Wurzel.“ Das ist nun schier infam, denn ausgerechnet die PDS- Abgeordnete Bettina Pech half und hilft immer wieder Marzahner Skins, und auch die PDS- Stadträtin Margrit Barth unterstützt diesen „Neonazi-Resozialisierungs-Luxusmuff“.