Chemnitz, quo vadis?
Der Wirt Ali T. steht vor den Resten seiner Existenz, als er am Morgen des 18. Oktober 2018 in dem ausgebrannten Restaurant „Mangal“ eintrifft. Unbekannte haben wenige Stunden zuvor große Mengen Brandbeschleuniger vergossen und angezündet. Nur ein paar hundert Meter trennten das Restaurant vom Aufmarschort rechter Akteure in Chemnitz.
Die ersten rechten Aufmärsche Ende August 2018 und Anfang September 2018 nach dem Tod des 35-jährigen Daniel H. am Rande des Stadtfestes waren geprägt von einer enormen Gewaltbereitschaft. Zudem reisten Personen aus dem gesamten Bundesgebiet an, wobei sich das Spektrum von „besorgten Bürgern“ über Hooligans bis zu Kadern der Neonazi-Parteien NPD, „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ erstreckte.
Seitdem sind gut drei Monate vergangen und fast wöchentlich mobilisiert die rechte Wählervereinigung „Pro Chemnitz“ zu Aufmärschen in die Innenstadt. Unterstützt wird sie dabei von einem Netzwerk rechter Einzelpersonen und Gruppen, die im Zuge der rassistischen Mobilisierungen 2014/2015 zusammenfanden. Neben Hauptorganisator Martin Kohlmann und Anmelder Robert Andres, beide Vertreter von „Pro Chemnitz“, ist eine Vielzahl von Personen mit Aufgaben betraut, die auch andernorts (extrem) rechte Aktivitäten unterstützen. So werden etwa die Ordnerdienste vom Dresdner "PEGIDA-Anwalt" Jens Lorek sowie von Katja K. übernommen. Letztere ist häufig bei den PEGIDA-Aufmärschen in Dresden anzutreffen und hatte Kontakte zur rechts-terroristischen „Gruppe Freital“. Weitere Ordner wie Thomas Witte und Arthur Österle entstammen dem rechten Verein „Heimatreue Niederdorf“ oder der rechten Plattform „Wellenlänge Heidenau“, wie Madeleine Feige. Kay Hönicke, Mitveranstalter der Berliner „Wir für Deutschland“-Aufmärsche (WfD), hatte dem Chemnitzer Bündnis ebenfalls eine Kooperation zugesichert. Neu ist zudem ein Personenkreis, der aus einer geschlossenen, virtuellen Gruppe namens „Oculatus Deutschland“ hervorging.
Neben fast wöchentlichen Auftritten von Kohlmann, Andres und Sepp List, sprachen auf den Aufmärschen rechte und rassistische Meinungsmacher wie Serge Menga und der ehemalige Polizist und Buchautor Tim Kellner. Auch der aus Halle stammende Neonazi Sven Liebich konnte sich in diesem Rahmen mit seinem pseudo-satirischen Projekt „Merkel-Jugend“ präsentieren. Darüber hinaus trat Hans-Christoph Berndt vom Bündnis „Zukunft Heimat“ aus Cottbus in Chemnitz auf. Auch Martin Sellner, Chef der „Identitären Bewegung Österreich“, wurde angekündigt, musste kurzfristig allerdings abgesagt werden – wohl auf Grund interner Streitigkeiten.
Beteiligung lässt nach
An den Mobilisierungserfolg des Spätsommers 2018 kann derzeit, trotz prominenter Redner, nicht angeknüpft werden. Nachdem sich die Aufmärsche zunächst zwischen 700 und 1.000 Teilnehmenden einzupendeln schienen, führten u.a. Regen und Kälte dazu, dass die Zahl der TeilnehmerInnen in den unteren dreistelligen Bereich fiel. Nicht einmal der Besuch von Angela Merkel – dem ausgemachten Feindbild Nr. 1 – mobilisierte die Massen. Zudem versammelt sich „Pro Chemnitz“ seit Anfang Dezember 2018 nur noch alle zwei Wochen. Mitte Dezember folgten dem Aufruf lediglich rund 200 Personen.
Mit den sinkenden TeilnehmerInnen-Zahlen geht auch eine Veränderung in der Zusammensetzung des Klientels einher. Während zu Beginn noch organisierte Neonazis, u.a. aus der Fanszene des Chemnitzer FC wie Tim K., Sebastian F. oder Max H. anzutreffen waren, wirken die Aufmärsche heute „bürgerlicher“. Zwar befinden sich unter den Teilnehmenden immer noch Personen wie Maik Arnold, lokaler Kader der Neonazi-Partei „Der III. Weg“, doch tritt dieser nicht als Abgesandter der Partei auf, sondern als Vertreter des rechten Lokalvereins „Unsere Heimat – Unsere Zukunft“ aus Oelsnitz/Erz. Neben Anhängern sogenannter Heimatvereine kommen nun mehr „besorgte Bürger“, Mitglieder der AfD, die den Unvereinbarkeitsbeschluss zu „Pro Chemnitz“ ignorieren und Gruppen, die sich zu Zeiten der rassistischen Mobilisierungen gegen die Unterbringung von Geflüchteten gegründet haben. Organisierten und erlebnisorientierten Neonazis dürften die von Routine geprägten wöchentlichen Aufmärsche mittlerweile zu unspektakulär geworden sein.
Das enorme Gewaltpotential, das sich bei den ersten Aufmärschen entladen hat, ist jedoch nicht verschwunden, sondern änderte lediglich seinen Rahmen. Denn in zeitlicher und räumlicher Nähe zu den Aufmärschen kam es immer wieder zu Übergriffen. So wurde Ende August 2018 ein jüdisches Restaurant zum Ziel von Neonazis, im September 2018 klirrten die Scheiben einer Einrichtung der Partei DIE LINKE und Anfang Oktober 2018 wurde ein persisches Restaurant samt Inhaber angegriffen. Trauriger Höhepunkt war dann der Brandanschlag auf das Restaurant „Mangal“.
Hinzu kommt der Auftritt einer Art Bürgerwehr am Chemnitzer Schlossteich vom 14. September 2018, bei dem feiernde Jugendliche schikaniert wurden und in Folge einer Auseinandersetzung ein Iraner verletzt wurde. Unter den Tatverdächtigen gibt es Überschneidungen zu acht wenig später festgenommenen Personen, die der möglicherweise "terroristischen Vereinigung" namens „Revolution Chemnitz“ angehören sollen: Christian Keilberg wurde im Nachgang der Auseinandersetzung in U-Haft genommen und gilt als Anführer der Gruppe. Er war bereits Mitte der 2000er Jahre im Umfeld der Kameradschaft „Sturm 34“ aktiv, die im unweit von Chemnitz gelegenen Mittweida Andersdenkende terrorisierte. Deren damaliger Anführer Tom Woost befindet sich ebenfalls unter den mutmaßlichen Mitgliedern von „Revolution Chemnitz“, neben Sten Ertl, Martin Herrmann, Marcel Walenta, Sven Weigt, Hardy Christopher Weinberger und Maximilian Völkl. Ein weiteres ehemaliges Mitglied von „Sturm 34“, Tommy F., war auch unter den Angreifern am Schlossteich. Gegen „Revolution Chemnitz“ laufen derzeit Ermittlungen wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung. Übergriffe auf Pressevertreter_innen am Rande der Aufmärsche von „Pro Chemnitz“ bleiben weiterhin die Regel.
Ausblick
Die ersten Aufmärsche im August 2018 offenbarten, wie schnell sich eine große Zahl gewaltsuchender Neonazis mobilisieren lässt, wenn es der Anlass hergibt und verdeutlicht in welcher Weise diese eine Radikalisierung befördern. Dass die Mobilisierungserfolge langfristig nicht zu halten sind, dürfte den OrganisatorInnen von „Pro Chemnitz“ bewusst gewesen sein. Schon die vergangenen Aufmärsche des PEGIDA-Ablegers in Chemnitz schrumpften nach anfänglichen Erfolgen bis 2016 auf weniger als hundert Teilnehmende. Eine lange Durststrecke dürfte Martin Kohlmann und seinen MitstreiterInnen, hinsichtlich der Kommunalwahlen 2019 bevorstehen, denn es ist fraglich, ob sich diese Aktionsform für „Pro Chemnitz“ bis dahin auszahlen wird. Solange die Spendenaufrufe fruchten und das Echo in den rechten Filterblasen anhält, werden sie dies jedoch sicher als Erfolg verbuchen. Sowohl der Winter, als auch die Routine und der fehlende Gegenprotest wird es „Pro Chemnitz“ jedoch schwer machen, nicht in die Bedeutungslosigkeit zu rutschen. Schließlich ist letzterer ein elementarer Faktor, um sich als Opfer darstellen zu können.
In der Organisation der Aufmärsche kann „Pro Chemnitz“ auf ein in den vergangenen Jahren gewachsenes Netzwerk von rechten Strukturen in Chemnitz und Sachsen zurückgreifen, das sich als ausreichend stabil erwiesen hat, um über einen Zeitraum von drei Monaten regelmäßig mobil machen zu können. Diese Mobilisierungen bewirkten bereits eine Radikalisierung und steigerten die Zahl von Übergriffen auf migrantische und nicht-rechte Personen. Dazu kommt ein gefestigter Alltagsrassismus und Anfeindungen gegenüber migrantisch wahrgenommenen Menschen. Der Chemnitzer „Wutbürger“ fühlt sich darin bestätigt, seinen Rassismus ohne Konsequenzen offen ausleben zu können. Ohne gesellschaftliche Schmach, ohne behördliche Verfolgung und ohne klare Kante seitens der Regierenden in Sachsen. Stattdessen würden Aktionen wie der „Online-Pranger“ des „Zentrums für politische Schönheit“ die „Spaltung der Gesellschaft“ vorantreiben, so der sächsische Innenminister. Derselbe der sagte, es habe im Spätsommer in Chemnitz keinen „Mob“ gegeben.