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Connewitz-Prozesse ohne Opferperspektive

Aiko Kempen (kreuzer-leipzig.de)
Einleitung

Als am Abend des 11. Januar 2016 rund 250 bewaffnete Neonazis und Hooligans durch den alternativen Stadtteil Connewitz in Leipzig zogen, hinterließen sie massiven Sachschaden. Nur durch Glück wurden dabei keine Menschen verletzt, so die öffentliche Darstellung. Dabei ist den Justizbehörden bekannt, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist.

Der Neonazi Riccardo S. war einer der 215 festgesetzten Personen im Januar 2016 in Leipzig-Connewitz. Hier als Teilnehmer eines Neonazi-Aufmarschs am 18. August 2008 im thüringischen Altenburg.

Verletzte nach Angriff...

Hooligans! Hooligans!“ hallt es über die Straße, Pyrotechnik erhellt die Kulisse hinter den Vorhängen, als Tobias (Name geändert) in seinem Zimmer sitzt. Draußen bersten die ersten Scheiben, der Lärm treibt ihn zum Fenster. Direkt vor ihm tobt ein Mob aus über 250 vermummten Personen, die mit Eisenstangen und Holzlatten auf Schaufensterscheiben und Autos einschlagen. Er steht im hellen Rahmen des Fensters und beobachtet. Dann splittert mit einem Knall die Scheibe. Etwas trifft ihn am Arm, fliegt quer durch den Raum und bleibt wenige Meter entfernt liegen. Die Brandverletzung an Tobias Arm ist mittlerweile verheilt. Das Gefühl, in seiner eigenen Wohnung angegriffen und verletzt worden zu sein, ist geblieben. Wie er verletzt wurde, erzählte Tobias nur einen Tag nach dem Angriff auch der Kriminalpolizei. „Die haben Fotos gemacht von allem, auch von meinen Verletzungen.“ Das Geschoss, vermutlich eine Rauchpatrone, sollen die Beamten mitgenommen haben.

...fast ohne Gehör

Seit dem 16. August 2018 wird der „Sturm auf Connewitz“ am Leipziger Amtsgericht verhandelt. In über 80 Verhandlungen sind meist zwei Personen gleichzeitig angeklagt. Der Tatvorwurf: Besonders schwerer Landfriedensbruch. Staatsanwaltschaft und Gericht betonen immer wieder den enormen Sachschaden, den die Angreifer verursacht haben. Staatsanwältin Daute beziffert ihn auf 110.000 Euro.

Angriffe auf Personen spielen vor Gericht keinerlei Rolle. Erst nachdem das Leipziger Magazin kreuzer und die taz über den Angriff auf Tobias schreiben und öffentlich machen, dass die sächsischen Justizbehörden durchaus davon wussten, dass bei dem Angriff auch Menschen verletzt wurden, wird Tobias Ende November 2018 kurzfristig vom Amtsgericht Leipzig als Zeuge geladen. Vorher hatte die Staatsanwaltschaft nach mehrmaliger schriftlicher Nachfrage gegenüber dem kreuzer eingeräumt, davon Kenntnis zu haben, dass es an Abend auch zu „versuchten und vollendeten Körperverletzungshandlungen“ kam. Diese hätten aber „das ansonsten offensichtlich auf Sachbeschädigungen ausgerichtete Gesamtgeschehen nicht geprägt“. Zudem sei es laut Oberstaatsanwalt für den Tatvorwurf Landfriedensbruch ohne Bedeutung, „ob sich die Gewalttätigkeiten (…) gegen Menschen oder Sachen gerichtet haben“.

Bekanntes Gewaltpotential

Dass die Angreifer nicht, wie von der Staatsanwaltschaft angedeutet, vorwiegend auf Sachschaden aus waren, zeigen Polizeiaufnahmen: „Wir sind wegen den Zecken hier! Die wollen wir haben!“, schreit ein Vermummter mit Holzlatte in der Hand darauf den Beamten entgegen. Im Januar 2018 veröffentlichte der kreuzer zudem zahlreiche Whatsapp-Chats der festgesetzten Angreifer, die Einblicke in die Vorbereitung und die enorme Gewaltbereitschaft der Gruppe geben. „Es ist Krieg“, schrieb ein Leipziger Hooligan an einen Bekannten, während sie darüber diskutierten, welche Waffen sie an dem Abend mitnehmen würden. Die Lesung der entsprechenden Ermittlungsunterlagen wurde im ersten Connewitzprozess abgelehnt und seitdem nicht noch einmal beantragt. Nachdem die Gruppe damals in einer Seitenstraße festgesetzt wurde, fand die Polizei etliche Gegenstände, die anscheinend kurzfristig entsorgt worden waren: Messer, Totschläger, Holzlatten mit Nägeln, Quarzhandschuhe und sogar Äxte.

Nur Sachschäden?

Zudem ist Tobias nicht die einzige Person, die an dem Abend verletzt wurde und den Behörden bekannt ist. In einer Rekonstruktion des Angriffs berichtete der kreuzer1 von einem Anwohner, der auf der Straße niedergeschlagen wurde und sich blutend in einen Imbiss gerettet hatte. Seine Anzeige bei der Polizei sei im Juni 2016 eingestellt worden. Der Zeugenbericht im kreuzer deckt sich mit den Aussagen von zwei weiteren Personen. Sie berichten, ebenfalls in dem Imbiss am Connewitzer Kreuz Zuflucht gefunden zu haben, nachdem sie verletzt wurden. Ein weiterer Anwohner gab an, in einer Seitenstraße von Mitgliedern der Gruppe niedergeschlagen worden zu sein, als diese sich noch auf dem Weg Richtung Wolfgang-Heinze-­Straße befand.

Eine weitere Person, die an dem Abend verletzt wurde, befand sich während des Angriffs in einer Kneipe. Vermummte zerstörten die Scheiben und versuchten erfolglos hinein zu gelangen. Anschließend sprühten sie Reizgas durch die kaputte Glas­front. „Wir mussten zu dritt die Tür zu­halten. Wenn das kein Sicherheitsglas gewesen wäre, hätten die uns vermutlich totgeschlagen“, erzählte sie dem kreuzer. In einem Prozess am Landgericht Dresden gegen die „Freie Kameradschaft Dresden“ (FKD) wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung berichtete sie ebenfalls über den Angriff, doch am Leipziger Amtsgericht wollte man ihre Geschichte bisher nicht hören.

Auch der Mitarbeiter eines Dönerimbiss konnte nicht mehr als Zeuge aussagen, da er zwischenzeitlich abgeschoben wurde. In dem Imbiss war ein Sprengsatz detoniert, nachdem Angreifer die Kasse geraubt hatten. Der Mitarbeiter musste sich mit seinen Gästen durch einen Hinterausgang flüchten.

Glimpfliches Ende für die Angreifer?

Für eine Anklage wegen Landfriedensbruch ist es in der Tat unerheblich, ob Personen oder Dinge angegriffen wurden. „Es kann jedoch selbstverständlich ein strafzumessungsrelevantes Kriterium sein, ob lediglich auf Sachen eingewirkt wurde, oder ob Menschen zu Schaden kamen“, so Strafrechtler Martin Schaar. Für besonders schweren Landfriedensbruch sind Haftstrafen bis zu zehn Jahren möglich.

Doch für die Perspektive der Opfer scheint am Leipziger Amtsgericht nur wenig Raum zu sein. Angesichts der hohen Zahl an Verfahren setzt das Gericht auf Effizienz. Zog sich die erste Verhandlung zum „Sturm auf Connewitz“ noch über zwei Verhandlungstage, wurde das Tempo im Anschluss merklich angezogen. Im zweiten Prozess der Reihe scheint ein rechter Szeneanwalt die Weichen für den weiteren Verlauf der Connewitzprozesse gestellt zu haben.2 In sog. Verständigungsgesprächen vor den Verhandlungen einigen sich Verteidigung, Richter und Staatsanwaltschaft fortan darauf, dass die Angeklagten mit Bewährungsstrafen davonkommen, sofern sie aussagen.

In den folgenden Prozessen wird sichtbar, dass dafür bereits minimale Einlassungen ausreichen.3 Kein Angeklagter gibt wesentlich mehr preis, als dass er an dem Abend vor Ort war. Auf die Ladung von Zeugen wird verzichtet, die Beweisauf­nahme dauert nur noch eine gute Stunde.4 In dieser Weise werden unter anderem ein ehemaliger NPD-Kandidat, der mutmaßliche Schriftführer einer rechten Rocker-Gruppierung und der Sänger einer Rechtsrockband vom Gericht als Mitläufer, die „nur eine untergeordnete Rolle“ gespielt hätten, zu Bewährungsstrafen und Geldauflagen verurteilt.

Kein Raum für Opferperspektive

Nun rückt die Perspektive der Opfer des Angriffs in der juristischen Aufarbeitung noch weiter in den Hintergrund. Beim ersten Connewitz-Prozess nach Jugendstrafrecht am Amtsgericht Leipzig zeigte sich die Richterin ebenfalls dem effizienten Vorgehen verpflichtet: „Anhören müssen wir uns das jetzt nicht, oder?“, richtete sie sich in Bezug auf die Aussagen von Polizeibeamten an die Staatsanwaltschaft. Anschließend stellte sie die Frage in den Raum, ob es nicht ausreiche, sich im Selbst­leseverfahren auf die Aussagen der Polizei und die Protokolle der kriminaltechnischen Untersuchungen zu beschränken. Auf zögerlichen Hinweis der Staatsanwaltschaft wurden die Augenzeugenberichte von zwei Anwohnern ebenfalls berücksichtigt.

Nicht ausgewählt wurden die Schilderungen der Personen, die von dem betroffen waren, was die Staatsanwaltschaft gegenüber dem kreuzer als „versuchte und vollendete Körperverletzungshandlungen“ bezeichnete. Wurde nach der Aussage von Tobias zumindest einmal am Rande erwähnt, dass sich die Gewalt an dem Abend „auch gegen Menschen richtete“, findet sich diese Tatsache mittlerweile weder in der öffentlichen Darstellung des Angriffs noch in den Unterlagen der Verhandlung wieder.