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Critical Whiteness auf gut deutsch

Christian Jakob (Gastbeitrag)
Einleitung

Es war eine ungewöhnliche Nachricht, die Ende August auf der Webseite der Berliner Gruppe Reclaim Society! zu lesen war: »Aktivist_innen haben die Arbeit von reclaim society! unter verschiedenen Aspekten kritisch markiert und Transparenz bezüglich unserer Arbeit gefordert. Mit folgendem Positionspapier möchten wir diesem Wunsch nachkommen und hoffen in Zukunft selbstkritischer und transparenter zu arbeiten.« 

Die Erklärung erstaunt vor allem des­halb, weil RS bislang vor allem durch eine bemerkenswerte Freiheit von jeglichen Selbstzweifeln aufgefallen war. In ihrer unverbrüchlichen Gewiss­heit des richtigen Bewusstseins hatte die Gruppe die antirassistische Szene stärker polarisiert, als jeder andere Konflikt der vergangenen Jahre – bis zur Eskalation auf dem Kölner NoBorder-Camp im Juli; dem ersten Grenzcamp in Deutschland seit 2003. Als eine »vor selbstgerechter Moral triefende, selbsternannte Szenepolizei« habe RS in Köln »Beiträge von Aktivist_innen überwacht, um zu prüfen, ob hier auch genug Selbstgeißelung vollzogen wurde«, schrieb die Antifa Friedrichshain aus Berlin in einer mit »Spalten wie die Profis« überschriebenen Auswertung des Kölner Camps. Nach dem Camp brach auf dem Internetportal Indymedia eine hitzige Debatte über szeneinternen Rassismus und die oft als »autoritär« eingestuften Interventionen von RS aus. Mehrere Gruppen meldeten sich mit langen Erklärungen zu Wort.

Was war geschehen? Die 2010 in Berlin entstandene RS hat sich nach eigenem Bekunden dem Kampf gegen »weiße Vorherrschaft« verschrieben. Dabei beruft sie sich auf die aus den USA stammenden Whiteness Studies. Die in Deutschland als Critical White­ness (CW) bekannte Theorie versucht, die an die Kategorie des »Weißseins« geknüpften Mechanismen rassistischer Unterdrückung zu analysieren und zu überwinden (näheres zu CW siehe unter anderem in der Zeitschrift ZAG, Nr. 61). Und während die antirassistische Szene sich hierzulande traditionell vor allem am institutionellen, staatlichen Rassismus abarbeitet, nimmt CW das Individuum in den Blick: Der Rassismus, der Weißen in dieser Perspektive notwendig eingeschrieben ist, ist Gegenstand ihrer Auseinandersetzung. In einem Interview mit der Jungle World erklärte eine Sprecherin von RS, was von der antirassistischen Szene in Deutschland zu halten sei: Diese »bestehe aus Leuten, die nicht hö­ren wollen, dass sie als Weiße von Rassismus profitieren«, sagte sie, »weiße Typen« würden den Ton angeben. Auf rassistische Übergriffe reagiere die Szene genauso wie die deutsche Justiz, es gebe »durch­weg Täterschutz«. Bevor Weiße als Bündnispartner von »People of Color« (PoC) in Frage kämen, müssten die­se sich mit ihrem eigenen Weißsein kritisch auseinandersetzen.

Dieser Anspruch wird bereits seit einigen Jahren in der Szene diskutiert – rief jedoch eine ganze Reihe von Widersprüchen hervor: Wird eine solche Dichotomie hybriden Identitäten, etwa jenen von Gastarbeiterkindern, Spät­aussiedlern oder Kindern binationaler Paare gerecht? Ist es haltbar, weiße Individuen in erster Linie als Nutznießer von Rassismus zu betrachten, ohne ihre politische Position und ihr Verhalten zu berücksichtigen? Vor allem aber: Sollte sich ein Antirassismus, der angetreten ist, Essentialismen und Identitätszuweisungen aufzubrechen, sich diese gleichsam als ideologische Grundkonstante einschreiben lassen?

Einwänden dieser Art halten Gruppen wie RS entgegen, dass Weiße so versuchen, ihre Privilegien zu verteidi­gen und sich ihren Rassismus nicht ein­gestehen wollen. Das überzeugt nicht alle: »Mit den Etiketten, die in der Critical-Whiteness-Debatte munter verteilt werden, werden die Geschichten der rassistischen Teilungen (...) affirmiert und zum zentralen Bezugspunkt politischer Subjektivität gemacht«, heißt es dazu in einem mit »Decolorise it« überschriebenen Aufruf in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift analyse & kritik. »Spätestens wenn ein Nachweis über die Herkunft der Eltern verlangt wird, zeigt sich, wo das White­ness-Konzept aufhört, kritisch zu sein,« schreiben die Auto­r_in­­nen des Netzwerks Kritische Grenzregimeforschung. Rassismus als »gesellschaftliches Verhältnis, das Konjunkturen und Kämpfen unterliegt,« werde so unsicht­bar.
Während auf der Agenda migrantischer Organisationen sonst der Kampf um politische und soziale Rechte steht, führt RS in erster Linie einen Abwehrkampf. Denn während die Whiteness Studies einst dazu angetreten sind, PoCs zu »Empowerment«, also Selbstermächtigung, zu ermutigen, versucht RS in erster Linie, »geschützte Räume« zu errichten, in denen die PoCs nicht länger Verletzungen durch weiße Anti­rassist_innen ausgesetzt sind. Dies erscheint plausibel, mündet in der Praxis jedoch in ein lähmendes Bestreben, alles aus politischen Debatten zu eliminieren, was als »gewaltvoll« eingestuft wird. »Wir wollen keine demokratische Jus­tiz, sondern die Räume so sicher wie möglich machen und die Gewalt stoppen, indem wir Leute weiter am Gewalt ausüben hindern«, sagt dazu eine RS-Sprecherin.

Was man sich darunter vorzustellen hat, hat RS in Ansätzen bereits auf den Grenzcamps in Bulgarien (August 2011) und Stockholm (Juni 2012) demonstriert. »Angelehnt an das Konzept der Definitionsmacht« haben die CW-Aktivist_innen ein »Stoppzeichen« eingeführt, mit dem PoC Weiße jederzeit am Weiterreden hindern können. »Um die Gewalttätigkeit von Sprache zu markieren«, sagt RS dazu. Die unterbrochene Person darf nicht weiterreden, die PoC muss nicht erklären, was ihn oder sie gestört hat. »Wenn ich jedes Mal erklären soll, warum mich jemand rassistisch beleidigt hat, müsste ich alle fünf Minuten ein zweistündiges Gespräch führen«, sagt eine RS-Vertreterin. Gründe für Rede­ver­bote gibt es dabei viele: Die Verwendung von Begriffen wie »Flücht­ling«, »Sozialrassismus« oder »antirassis­tisch« durch Weiße etwa. »Flücht­ling« zu sagen, »verniedliche Menschen in ihrem Status«, heißt es bei RS. »Sozialrassismus« relativiert in dieser Lesart Rassismus, das Etikett »antirassis­tisch« sei eine unzulässige Anmaßung durch Weiße – schließlich hätten die­se ein strukturelles und nicht zu überkommendes Interesse, die Verhältnis­se aufrecht zu erhalten, von denen sie profitieren. Als rassistisch gilt auch, PoC zu unterbrechen oder sie zu ermahnen, sich an Redezeitbegrenzungen zu halten.

Weiße Träger von Dreadlocks fordert RS auf, diese abzuschneiden – es handele sich um »kulturellen Kannibalismus«, ebenso wie etwa beim Tragen der palästinensischen Kufiya. Auf dem Camp in Köln verteilte RS dazu kleine Zettelchen mit der Forderung »Cut it off«. »Es tut weh, wenn Weiße, die uns täglich wehtun, sich die Symbole unserer radikalen Kämpfe aneignen«, sagt eine RS-Sprecherin. Hier werde ein »absolut starrer, ja ethnisch aufgeladener Kulturbegriff gegen jede Variante hybrider Widerstandskultur propagiert«, schrieb dazu die Bremer Gruppe NoLager.

Im Juni versuchte RS die Ausstellung »Tatort Stadion« des »Bündnisses aktiver Fußballfans« (BaFF) im Künstlerhaus Bethanien in Berlin zu schließen. Die in fast 200 Städten gezeigte Wanderausstellung dokumentiert Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball. Für RS waren die Schautafeln jedoch eine »Re_Produktion ›weißer‹ Vorherrschaft und Gewalt«. Das irritierte BaFF wies die Forderung jedoch zurück.

Das fiel dem BaFF wohl auch deshalb nicht weiter schwer, weil RS darauf verzichtet hatte zu begründen, worin die »Re_Produktion ›weißer‹ Vorherrschaft und Gewalt« in der Ausstellung konkret bestanden haben soll. Diese Eigentümlichkeit ist bei sämtlichen Interventionen dieser Art zu beobachten: Stets werden »gewaltförmige« Sprech- oder Verhaltensweisen abstrakt gegeißelt – konkret benannt werden sie fast nie. Erklären lässt sich dies nur mit der Instrumentalisierung einer behaupteten Triggerwirkung: Menschen mit Rassismuserfahrungen könnten eine Art Retraumatisierung erleiden, wenn sie mit konkreten Schilderungen rassistischen Verhaltens konfrontiert werden. In scheinbarer Rücksichtnahme wird deshalb auf jede konkrete Schilderung solcher Vorfälle verzichtet – was dann gleichzeitig als Beleg für einen derart hohen Grad an »Gewalttätigkeit« des Vorfalls dienen soll, dass sich jede Rekapitulation von vornherein verbietet. Dies impliziert die überaus paternalistische Annahme, PoCs – die in ihrem Leben oft wesentlich Härteres durchzustehen hatten, als wo­möglich missratene Ausstellungen anzuschauen – seien zu empfindlich, als dass ihnen solche Debatten zuzumuten seien. Vor allem aber nährt es Zweifel an der Lauterkeit der erhobenen Vorwürfe: Denn es macht jede Auseinandersetzung mit den Anschuldigungen unmöglich – und damit auch jede Chance, es künftig besser zu machen.

So nahmen sich Campteilnehmer aus dem RS-Umfeld das Recht, einen Workshop der Gruppe Agisra, einer autonomen, feministischen Beratungsstelle von und für Migrantinnen aus Köln abzusetzen. Eine Diskussion über die Gründe lehnte die RS-Fraktion ab. Ebenso wurden mehrere Teilnehmer des Camps verwiesen, eine betroffene Frau aus dem Rhein-Main-Gebiet berichtet, ihr sei tagelang keine Begründung genannt worden. »Das geht dich nichts an«, sei ihr gesagt worden.

Der Kanak Attak-Gründer Vassilis Tsiannos nennt diese Art von Disziplinierung einen »extrem deutschen Bruch mit proletarischer, antikolonialer Erfahrung und Politik«. »Das markiert den absoluten Ausstieg aus den kommunikativen Gepflogenheiten der migrantischen Communities«, sagt Tsiannos. »Erfahrung gemeinsamer Kämpfe« würden so abgeschnitten.

Die Antifa Friedrichshain betont derweil, dass es nicht darum gehen könne, »ein Klima zu schaffen in dem sich Mehrheitsdeutsche ›angstfrei‹ gehen lassen können« oder sich »mal ganz entspannt beklagen dürfen, wie schrecklich einengend das Gerede über Rassismus sei«. Doch im Umkehr­schluss eine Generalschuld für nicht von Rassismus Betroffene zu verhängen, sei ein »Missbrauch« des CW-Ansatzes und des Definitionsmacht-Konzepts, so die Gruppe in einer im August veröffentlichten Erklärung. Die Erweiterung des Gewaltbegriffs auf »verletzende Sprechweisen« sei ein »inflationärer, manipulierender Gebrauch zur Durchsetzung der eigenen ideologischen Anschauung«. Dies schaffe eine »Atmosphäre totaler Paranoia« und stelle eine »schwerwiegende Bagatellisierung rassistischer Gewalt« dar. Menschen die »jedes Mal den Raum von Leuten reinigen wollen, die ihre politische Meinung oder Ausdrucksweise nicht teilen«, empfiehlt die Antifa, »sich aus bewegungslinken Kämpfen herauszuziehen«.

Das wird RS sicherlich nicht tun. Denn auch wenn in dem eingangs erwähnten Statement außer dem zitierten ersten Satz statt Selbstkritik nur Selbstdarstellung zu finden war, hat die Gruppe Großes vor: Im nächsten Sommer will sie in Berlin das nächste NoBorder-Camp ausrichten – und ist dazu auf der Suche nach Bündnispartnern. Leicht wird dies nicht.