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Der Begriff des Faschismus - Teil 1

Alex Busch
Einleitung

Mit Begriffen wird Politik gemacht. Mit der Deutungshoheit über die Geschichte wird zugleich die Vorherrschaft über aktuelle politische Sichtweisen erkämpft. Diese durch Antonio Gramscis Hegemonietheorie populär gewordene Strategie des Kampfes um Begriffe hat sich nicht nur die so genannte Neue Rechte zueigen gemacht: Gerade in Bezug auf den Faschismus ist diese Strategie Teil der vorherrschenden öffentlichen Bewusstseinsbildung. Der Begriff gilt dort als Propagandabegriff linker Klassenkampfrhetorik. Auch in der Linken hat nach Jahrzehnten inflationärer Inanspruchnahme teilweise eine Abkehr vom Begriff des Faschismus stattgefunden: Wurde in der Neuen Linken von den Sechzigern bis zu den Autonomen in Vulgärmanier die bürgerlich-kapitalistische Ordnung als faschistisch denunziert, wird in Teilen der Linken heutzutage meist mit Verweis auf die einzigartige Dimension des eliminatorischen NS-Antisemitismus gänzlich auf ein komparatives Verständnis von Faschismus verzichtet. Daher stellt sich die Frage: Was taugt der Begriff des Faschismus für die Linke?

Bild: Bundesarchiv, Bild 102-13773 /CC BY-SA 3.0

Der italienische Regierungschef und Chef des Faschistischen Großrates Benito Mussolini bei einer Rede 1932.

Dies ist der erste Teil einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Faschismus. Im zweiten, abschließenden Teil in der nächsten Ausgabe des AIB wird rückblickend das Verhältnis der Linken zum Aufkommen des Faschismus – erörtert am Nationalismus und Antisemitismus – hinterfragt und ein kritischer Blick auf die hegemoniale Totalitarismus-Doktrin als herrschaftskonforme Verklärung faschistischer Bewegung geworfen.
Galt der Begriff des Faschismus in der frühen Nachkriegszeit noch allgemein als Standardbezeichnung für die Terrorregime in Deutschland, Italien und anderen europäischen Ländern in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, so gilt dieser heute im vorherrschenden Sprachgebrauch als überholt und als politischer »Kampfbegriff der Linken«. Hintergrund dieser Anfeindungen ist der Versuch der Verschleierung der Tatsache, dass sich faschistische Herrschaftsstrukturen aus Krisensituationen bürgerlich-kapitalistisch verfasster Systeme heraus entwickelt haben; also eine besondere Form kapitalistischer Herrschaftsstruktur mit völkisch-nationalistischen Bewegungsmomenten darstellen. Heutzutage ist die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und Alltagsausschnitten aus der NS-Geschichte zu einem bedeutenden Marktsegment der Unterhaltungsindustrie geworden. Statt über Ursachen und Strukturen zu reden wird illustriert, psychologisiert und vor allem unterhalten – Faschismus, inszeniert als kulturindustrielles Spektakel. Hier unterscheiden sich politisch die Deutungen unter staatstragenden oder kapitalismuskritischen Prämissen: Während auf der einen Seite der »nationalsozialistische Unrechtsstaat« als »nationaler Sozialismus«, als »Sonderweg« oder Abkehr von einer als natürlich deklarierten Symbiose von Kapitalismus und Demokratie hergeleitet wird, betont die andere Seite die Bedeutung des Faschismus als Krisenlösungsmanagement kapitalistischer Herrschaft. Der Begriff des Faschismus ermöglicht die Benennung jenes Transformationsprozesses bürgerlicher Herrschaft in eine Diktatur mit Massenideologie und Massenanhang unter kapitalistischen Prämissen. Faschismus ist hiernach keine Abkehr von kapitalistischen Verhältnissen, sondern vielmehr eine spezifische Bewegungs- und Herrschaftsform unter eben solchen.

Faschismus als Krisenlösungsmodell

Der Faschismusforscher Stanley Payne verweist auf zunächst fünf Länder in Europa zu Beginn der faschistischen Epoche, in denen über zwanzig Prozent der Wählerschaft faschistischen Parteien zugeneigt gewesen sind: »Italien, Deutschland Österreich, Ungarn und Rumänien. Die einzigen anderen beiden Länder, in denen sich nennenswerte faschistische Parteien entwickelten, waren Spanien und Kroatien.« Als Erscheinungsform allerdings war der Faschismus ein gesamteuropäisches Phänomen. Der Begriff des Faschismus wird heute im vorherrschenden Sprachgebrauch lediglich für das Mussolini-Regime benutzt und vom deutschen Nationalsozialismus abgegrenzt. Der Begriff des Nationalsozialismus ist ebenso wie der des Faschismus ursprünglich eine Eigenbezeichnung einer spezifischen Ausrichtung der extremen Rechten. Die Linke griff den Begriff des Faschismus auf und benutzte ihn zur Kennzeichnung extrem rechter Bewegungen. Das Wort leitet sich aus dem lateinischen »fascis« ab. Dies waren im alten Rom Bündel von Ruten, die durch eine Verschnürung zusammengehalten wurden und sich um ein hineingestecktes Beil gruppierten und den höheren Magistraten vorangetragen wurden. Sie symbolisierten den bündischen Zusammenhalt und zugleich zeigten sie die Berechtigung, Körper- und Todesstrafen zu verhängen. Benito Mussolini, ehemals ein führendes Mitglied in der italienischen sozialistischen Partei, griff das Symbol auf und gründete 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, Kampfbünde aus Nationalisten und Kriegsveteranen, die sich »Fasci di combattimento« nannten. Mussolini nahm propagandistisch direkten Bezug auf das römische Reich und die Rutenbündelsymbolik. Der italienische Kommunist und marxistische Querdenker Antonio Gramsci stellte das erfolgreiche Aufkommen der Faschisten in den Kontext sozialer und politischer Kämpfe in einer Krisensituation in Italien: »Die Kampfbünde entstanden in der Nachkriegszeit mit dem kleinbürgerlichen Charakter der verschiedenen Assoziationen von Heimkehrern, die in dieser Zeit aufkamen. Aufgrund ihrer entschiedenen Opposition gegen die sozialistische Bewegung, die teilweise ein Erbe der Kämpfe zwischen der sozialistischen Partei und den interventionistischen Organisationen in der Kriegsperiode darstellte, erhielten die Fasci die Unterstützung der Kapitalisten und der Autoritäten. Ihre Stärkung, die mit der Notwendigkeit für die Agrarier zusammenfiel, eine weiße Garde gegen den wachsenden Vormarsch der Arbeiterorganisationen zu schaffen, erlaubte dem von den Gutsbesitzern bewaffneten Bandensystem das Etikett der Fasci anzunehmen.« Mussolinis »Schwarzhemden« terrorisierten, ähnlich wie später die deutsche SA, die Linke. Ihr Ideal eines soldatisch-gewalttätigen »Herrenmenschen« speiste sich unter anderem aus den Texten des italienischen Dichters und Politikers Gabriele D`Annunzio. Jener hatte schon 1919 mit eigenen Truppen für mehrere Monate die jugoslawische Stadt Rijeka besetzt und dort ein Terror-Regiment mit sich als selbsternanntem Führer errichtet, das schon viele stilistische Elemente des späteren Faschismus an der Macht vorwegnahm. Mussolini orientierte sich mit seiner faschistischen Frontkämpfer-Organisation an diesem heroisch-soldatischen Kult und gründete 1921 die Faschistische Partei »Partito Nazionale Fascista«. Sich selbst bezeichnete er als »Duce« (Führer), eine Bezeichnung, die bekanntlich Adolf Hitler übernahm. Einer der zentralen Gründe für den Aufstieg der italienischen Faschisten liegt in der erfolgreichen Ausschöpfung nationalistischer Propaganda. Italien gehörte zwar nach Ende des Ersten Weltkrieges im Gegensatz zu Deutschland zu den Siegermächten und gewann Südtirol und Istrien mit Triest, musste aber zugunsten Jugoslawiens auf die ebenfalls geforderten dalmatinischen Küstengebiete verzichten und Rijeka wurde zur »freien Stadt« erklärt. Mit dem Schlagwort des »verstümmelten Sieges« attackierten die Nationalisten die eigene Regierung. Jener Mythos wies große Ähnlichkeit mit der so genannten Dolchstoß-Legende der Rechten in Deutschland auf. Dem Nationalismus fiel in der faschistischen Propaganda die Ersatzfunktion für Klassenauseinandersetzungen zu. Laut Gramsci führte die faschistische Praxis, rechte Politik mit linker Phraseologie zu treiben, dazu, dass »die Theoretiker der italienischen Bourgeoisie die Wendigkeit hatten, das Konzept der ‘proletarischen Nation’ zu schaffen, d.h. zu behaupten, dass ganz Italien ‘proletarisch’ sei und dass Marx’ Konzept auf den Kampf Italiens gegen die anderen kapitalistischen Staaten angewandt werden müsse, nicht auf den Kampf des italienischen Proletariats gegen den italienischen Kapitalismus.« 1922 gab Mussolini den Befehl zum »Marsch auf Rom«. Nachdem der König sich weigerte, den Belagerungszustand zu verkünden, wurde Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt. Die Faschisten terrorisierten offen die Linke und vollzogen vier Jahre später die Gleichschaltung des Staatsapparates und die Abschaffung des parlamentarischen Systems. Damit war der Faschismus als Herrschaftssystem zum ersten Male an der staatlichen Macht. Mussolini betonte eindeutig den prokapitalistischen Charakter der Faschismus. Die Krise des kapitalistischen Staates versprach der Faschismus mittels des Modells des Korporatismus unter kapitalistischen Prämissen zu beheben:
Mussolinis propagandistisches Motto »Alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat« war zugleich Kampfparole zum »nationalen Zusammenhalt« wie Garantieerklärung für den Erhalt der kapitalistischen Ordnung. Der kürzlich verstorbene Politikwissenschaftler Johannes Agnoli verwies auf die Bedeutung des faschistischen Korporatismus für den Erhalt der kapitalistischen Ordnung: »Die ganze Thematik des modernen Kapitalismus, der sich programmiert und rationalisiert, um effektiver zu werden, ist in dieser Theorie der korporativen Wirtschaft schon erhalten. Zugleich wird die Zuordnung vom Korporatismus zum Kapitalismus deutlich – um so deutlicher übrigens, wenn man sich vergegenwärtigt, welches nach faschistischer Auffassung die ‘Faktoren’ sind, die der Staat aufrechterhalten soll: Privateigentum, Privatinitiative, Hierarchie von Verantwortung und Entgelt, Sicherung der Profite und der Befehlsstruktur des Betriebs.« Die Selbstbezeichnung des italienischen Regimes als Faschismus wurde seitdem von der Linken aufgegriffen und synonym für ähnliche Bewegungen in Europa benutzt. »Faschist« wurde nun zum Charakterisierungsbegriff wie zum Schimpfwort für extrem rechte Bewegungen
und Parteien, die in nahezu allen Ländern Europas entstanden. Keine faschistische Gruppierung auf der ganzen Welt hatte jedoch auch nur annähernd die gleiche terroristische Qualität wie der deutsche Faschismus an der Macht. Der deutsche NS-Faschismus entfesselte ein kriegerisches Gewalt- und Mordpotenzial, das geschichtlich betrachtet jeden anderen Staatsterrorismus in den Schatten stellt. Nazi-Deutschland sticht gegenüber anderen faschistischen Bewegungen dadurch hervor, dass der nationalsozialistische Staat im engen Bündnis mit dem Kapital systematisch den Weltkrieg vorbereitete und entfachte. Das propagierte »Tausendjährige Reich« beinhaltete programmatisch die kriegerische Eroberung und Versklavung der Welt. Und vor allem hebt sich der deutsche Faschismus von anderen faschistischen Strömungen ab durch seinen eliminatorischen Antisemitismus, der einen industriell organisierten Massenmord hervorbrachte. Diese fabrikartig durchgeführte Vernichtung von schätzungsweise sechs Millionen Juden ist einmalig in der Menschheitsgeschichte. Der sich in Europa zum Ende des 19. Jahrhunderts entfaltende Rassenantisemitismus wurde zum ideologischen Kernstück der NS-Propaganda. Deutschland, das im Gegensatz zu anderen europäischen bürgerlich-kapitalistischen Staaten sein Nationalitätsverständnis nicht aus einer erfolgreichen bürgerlich-republikanischen Revolution ziehen konnte, war in seinen Grundzügen geprägt von einem völkisch-imperialistischen Nationalismus, der schon den Ersten Weltkrieg entfesselte. Die Kriegsniederlage des preußisch-kaiserlichen Regimes bot der völkischen Rechten die propagandistische Basis zur Bekämpfung revolutionär-emanzipativer Erhebungen. Die wahnhaften antisemitischen Projektionen – »der Jude« wurde zugleich verantwortlich gemacht für den Bolschewismus, wie für die sozialen Verwerfungen des Kapitalismus; er fungierte als personifizierte Projektionsfolie unergründeter abstrakter Herrschafts-und Unterdrückungsverhältnisse – gaben der NSDAP die Möglichkeit zur völkischen Zersetzung sozialistischer Bestrebungen. Machtpolitisch konnten die Nazis allerdings nur deshalb den Durchbruch erringen, weil das »Bündnis der Eliten« (Fritz Fischer), die deutschen Kapitalfraktionen und ihre Verbände sowie der Militärapparat spätestens seit Anfang der dreißiger Jahre mehrheitlich auf die nationalsozialistische Karte setzten – um die sozialistische Gefahr abzuwenden und um die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen imperialistischen Expansionshoffnungen wieder umsetzen zu können. Im zeitgenössischen und unterhaltungsorientierten historischen Rückblick erscheinen die in der Zwischenkriegszeit aufkommenden faschistischen Bewegungen oftmals quasi als Bewegungen »der dritten Art«. Real hingegen waren sie sowohl neuartig als auch zugleich verknüpft mit wie protegiert von der klassischen autoritären Rechten und den Eliten. Denn es war die politische und ökonomische Krise in Europa, welche die Machteliten zur Suche nach neuen Möglichkeiten der Herrschaftsstabilisierung und Abwendung der »sozialistischen Gefahr« trieb. Der Historiker Fritz Fischer verweist auf die Zusammenarbeit der Wirtschaft und der alt-rechten Parteien mit den Nazis: »Wenn es sich bei der Wirtschaft und ihrem Zusammenspiel mit den Reichsressorts bis 1933 noch primär um ökonomische Zielsetzungen handelte, in denen die politischen mehr latent waren, (...) so ist das machtpolitisch-kriegerische Element ganz offen sichtbar bei den beiden konservativen Gruppen, die 1929 mit Hitler das ‘Volksbegehren gegen den Young-Plan’ in Szene setzten, die mit ihm im Oktober 1931 in der Harzburgerfront auftraten und die mit ihm im Januar 1933 eine Koalitionsregierung bildeten: die DNVP und der ‘Stahlhelm’, die ihrerseits eng mit der evangelischen Kirche verbunden waren.« Die Etablierung des NS-Regimes nach 1933 erweist sich folgend als Symbiose aus staatlicher Diktatur, struktureller Durchmilitarisierung des gesamten öffentlichen Lebens, systematischer Selektion und Eliminierung jeglicher politischer Abweichung und der Entfaltung eines weit gefassten faschistischen Massenkonsensus

Merkmale des Faschismus

Wir können vergleichende Merkmale festhalten, die auf jede faschistische Gruppierung zutreffen und die es ermöglichen, den Begriff des Faschismus zur Charakterisierung einer spezifisch rechten Erscheinungsform zu benutzen:

a) den sog. »Volksgemeinschafts«-Gedanken als Ersatz für soziale und ökonomische Klassenauseinandersetzungen (»Volksgemeinschaft statt Klassenkampf«)

b) eine prokapitalistische Wirtschaftseinstellung, die aus einem organisch-hierarchischem Weltbild abgeleitet wird und die kriegerisch-imperialistisch orientiert ist

c) einen ausgeprägten Nationalismus, Rassismus und in speziellen Fällen (wie im besonderen bei dem deutschen Radikalfaschismus) zudem einen dezidierten Antisemitismus als aggressiv ausgeprägte Feindbild-Ideologie.

Bedeutsam ist hierbei die Tatsache, dass der Faschismus seine Kraft aus sozio-ökonomischen Krisensituationen zieht, in denen sich die Klassenwidersprüche zuspitzen. Die faschistische Propaganda erhält dabei ihre Anziehungskraft durch Verkündung pseudosozialistischer Parolen, die sich revolutionär gerieren. Die faschistische »Revolution« ist jedoch völkisch-nationalistisch orientiert; sie verspricht eine »nationale Erhebung« (»Du bist nichts – dein Volk ist alles«). Damit ist der Faschismus als Massenbewegung ausgerichtet und zieht seine Kraft aus dem Versprechen einer völkisch-rassistisch ausgerichteten »Umwälzung«. Der sozialistische Gemeinschaftsgedanke wird dabei aktiv aufgegriffen und völkisch umgedeutet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Faschismus als Bewegung und einem rein diktatorischen Regime liegt demnach in der faschistischen Massenausrichtung gepaart mit einem Erhebungs- oder Revolutionsversprechen.

Weitere Merkmale faschistischer Bewegungen sind:

d) autoritär-diktatorische Staatsvorstellungen, die sich gegen demokratisch-liberale sowie sozialistische Gesellschaftsbilder richten (»Marxismus und Liberalismus als Hauptfeinde«)

e) ein organisatorisches »Führer«- und Unterordnungs-Prinzip mit soldatischer Verbands- und Kampfstruktur

f) ein messianischer Erhöhungs- und Allmachtsglaube, der die Ausschaltung von allem »Volksfremden« und »Gemeinschaftsschädlichem« beinhaltet

g) ein biologistisches und mystisches Menschenbild, das sich gegen Aufklärung, Liberalismus und Universalismus richtet.

Dies sind die faschistischen Kernelemente, die in unterschiedlicher Ausprägung jede faschistische Gruppierung charakterisieren und die es ermöglichen, spezifische Strömungen vergleichend als »faschistisch« zu kennzeichnen. Der historische Faschismus war eine extrem rechte Bewegung, die sich »modern« und »revolutionär« gerierte. Der Historiker Eric Hobsbawm deutet diesen Tatbestand so: »Die traditionellen Kräfte des Konservatismus und der Konterrevolution waren zwar stark, aber oft träge. Der Faschismus bot ihnen nicht nur Dynamik, sondern, was vielleicht noch wichtiger war, auch die Möglichkeit eines Sieges über die Mächte der Zersetzung.« Hierbei spielte die Symbiose von Herrschaftsstabilisierung und propagandistischer Revolutionsattitüde einen zentralen Stellenwert, so Hobsbawm: »Die Faschisten waren die Revolutionäre der Konterrevolution: in ihrer Rhetorik; mit ihrer Anziehungskraft auf jene, die sich als Opfer der Gesellschaft empfanden; bei ihrem Ruf nach totaler Transformation der Gesellschaft.« Für den Faschismusforscher Brunello Mantelli sind drei Aspekte faschistischer Politik bedeutend für ihre Anziehungskraft auf die intellektuellen und politischen Eliten: »Erstens vertritt das faschistische Regime zwar reaktionäre Werte, es ist jedoch ein ‘reaktionäres Massenregime’. Zweitens ist es kein rein konservatives Regime, sondern es bezeichnet sich auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet als ‘revolutionär’. Aber es handelt sich um eine ‘Revolution von oben’, die die soziale Ordnung nicht verändert. Drittens will es modern, sogar ‘moderner’ als die westlichen Demokratien und der sowjetische Kommunismus sein.« Zentral für die erfolgreiche »Modernisierung« der Rechten ist, wie schon erwähnt, das Erhebungsversprechen in Form einer Revolte für die Nation als organischer Einheit. Der Faschismusforscher Zeev Sternhell beschreibt dies wie folgt: »Die Vorstellung, die Gesellschaft sei ein Körper, die Idee von der Nation als lebendiger Organismus, von einer großen, durch eine neue Moral gelenkten Familie führte zu einer ausgrenzenden, ethnischen und rassischen Konstruktion des Nationalismus.« Ideengeschichtlich betrachtet formierte sich die faschistische Ideologie im Übergang zum 20. Jahrhundert als »antimaterialistische Revolte« (Sternhell) gegen die Aufklärung, den Liberalismus und Marxismus. Der Materialismus wurde zum weit verbreiteten Schimpfwort zur Kennzeichnung einer als dekadent empfundenen Moderne. Dagegen verstand sich die präfaschistische Rechte als sittliches wie zugleich antibürgerliches und revoltierendes Korrektiv gegen Dekadenz, Individualismus und Universalismus, so Sternhell: »Der Faschismus konnte entstehen, als die Vorstellung um sich zu greifen begann, dass der Mensch nicht der homo oeconomicus des Liberalismus und des Marxismus sei. Eine faschistische Sicht der Welt konnte sich verankern, nachdem man zu der Schlussfolgerung gelangt war, dass das Leben der Menschen umgestaltet werden könne, ohne die sozialen und ökonomischen Strukturen anzutasten. Auf eine solche Idee waren die Revolutionäre des 18. und des 19. Jahrhunderts nie gekommen. Sie beruhte auf der Annahme, wie Hendrik de Man
darlegte, dass ‘das Konzept der Ausbeutung ein ethisches und kein ökonomisches sei.« Nach rechts gewanderte Anhänger eines nationalen Syndikalismus und nationalen Sozialismus, die italienischen Futuristen und andere waren es, die den Faschismus als »Revolte« gegen die verhasste Dekadenz der kapitalistischen Moderne, des Liberalismus und der Aufklärung populär machten. Laut Mussolini war der Faschismus eine Revolte »gegen den materialistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts«. Joseph Goebbels erklärte zum Machtantritt der Nazis, dass »das Jahr 1789 hiermit aus der Geschichte ausgelöscht wird.«

Der Autor ist Referent des Antirassistischen Bildungsforums Rheinland.
Kontakt über bildungsforum(a)gmx.de

Die Fülle von Literatur zum Faschismus ist nahezu unüberschaubar. Daher sind folgend lediglich Werke der Autoren aufgeführt, auf welche im Text konkret Bezug genommen wurde.

- Johannes Agnoli: Faschismus ohne Revision, Freiburg 1997
- Stefan Breuer: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005
- Geoff Eley: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1996
- Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871 – 1945, Düsseldorf 1985
- Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Berlin/Hamburg 1991 ff.
- Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1 – 3, Frankfurt a. M. 1990
- Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1997
- Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988
- Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1994
- Brunello Mantelli: Kurze Geschichte des italienischen Faschismus, Berlin 2004
- George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1991
- Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt a. M. 1988
- Stanley Payne: Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, Berlin 2001
- Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur, München 1973
- Karl Heinz Roth: Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft, in: Sozial.Geschichte, Heft 2/2004
- Zeev Sternhell/Mario Sznajder/Maia Asheri: Die Entstehung der Faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999
- Enzo Traverso: Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003
- Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997