Skip to main content

Der Triumph der Mörder

Holger Wulf
Einleitung

In der Nacht zum 18. Januar 1996 starben sieben Kinder und drei Erwachsene bei einem Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße. Objektiv waren (und sind) vier junge Rechtsextremisten der Tat dringend verdächtig – vor Gericht gezerrt wurde hingegen der Libanese Safwan Eid, einer der 38 Menschen, die bei dem Brandanschlag verletzt wurden. In zwei Prozessen wurde Safwan freigesprochen. Die tatsächlichen Brandstifter wurden nie zur Verantwortung gezogen.

Ein Gedenkstein zum Brand in Lübeck. (flickr.com/luebeck; Jean Pierre Hintze/<a href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/">CC BY SA 2.0</a>)

Am Vormittag des 18. Januar vor zehn Jahren ging die internationale Öffentlichkeit von einem der folgenschwersten rassistischen Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte aus. 38 Flüchtlinge wurden verletzt, zum Teil sehr schwer. Sylvio Amoussou (27), Monica Maiamba Bunga (17) und ihre Tochter N’Suszna (7), Francoise Makodila Landu (32) und ihre Kinder Christelle (6), Legrand (5), Christine (17), Miya (14) und Jean-Daniel Kosi (3) und Rabia El Omari (16) kommen um.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Brandursache zwar noch ungeklärt, zwei Tatverdächtige sind aber bereits festgenommen, nach einem dritten wird gefahndet. Sie werden der Skinheadszene von Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) zugerechnet. Sie wurden in der Brandnacht gegenüber der Flüchtlingsunterkunft von der Polizei kontrolliert.

Bundespräsident Roman Herzog lässt verlauten »Sollte es sich wieder um einen rechten Anschlag handeln, dann reißt mir allmählich der Geduldsfaden, dann gibt es wieder Lichterketten«, der Präsident der Lübecker Industrie und Handelskammer (IHK) fürchtet, dass »Lübeck wird nicht mehr mit Holstentor und Marzipan in Verbindung gebracht wird, sondern mit Brandanschlägen«.

Denn Lübeck ist als Ort faschistischer Gewalt nicht zum ersten Mal in den (internationalen) Schlagzeilen. 1994 und 1995 waren Brandanschläge auf die örtliche Synagoge verübt worden. Während PolitikerInnen und Wirtschaftsbosse sich Sorgen um Deutschlands Ansehen in der Welt machten, verbunden mit der offen ausgesprochenen Hoffnung, es möge sich wenigstens diesmal nicht um einen rechtsextremen Anschlag handeln, bezog der Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD) konkret Position: Eine drastische Änderung der Flüchtlingspolitik forderte er ein, benannte die Ausgrenzung von Nicht-Deutschen und versprach seinen energischen Kampf dagegen. Unter anderem lud er alle daran Interessierten ins Rathaus ein, um die anstehenden Aufgaben gemeinsam zu beraten. Denn »alle sollten sich verantwortlich fühlen«. Verantwortlich zeigten sich nicht zuletzt Lübecker SchülerInnen: Sie stellten den Großteil der TeilnehmerInnen bei einer ganzen Reihe an Demonstrationen und Mahnwachen in den Wochen nach dem Anschlag.

Bis zum 20. Januar erhielt Bouteiller für diese Reaktion Respekt. Dann meldeten die Ermittlungsbehörden, dass einer der Hausbewohner aus der Flüchtlingsunterkunft unter dringendem Tatverdacht festgenommen sei. Schon einen Tag vorher hieß es, die ursprünglich verdächtigen jungen Männer aus Grevesmühlen hätten ein Alibi für die Tatzeit und seien deshalb wieder auf freien Fuß gesetzt.

Opfer werden zu Tätern gemacht

Mit dieser Maßnahme konstruierten Polizei und Staatsanwaltschaft aus einem rassistischen Verbrechen einen besonderen Fall von »Ausländerkriminalität«. Mit der scheinbaren Charakteränderung des Verbrechens ändert sich auch die Stimmung gegenüber unabhängigen antirassistischen Initiativen, den Flüchtlingen sowie Bürgermeister Bouteiller. Voreilig seien pauschal »Deutsche« vorverurteilt worden. Die Lübecker CDU konzentrierte ihre geschmacklosen Angriffe auf den Bürgermeister. Besonders thematisiert wurde, dass er vor laufenden Kameras um die Brandopfer geweint hatte.

Alle Diskussionen um Asylpolitik und den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Nicht-Deutschen, ebenso die Frage, wie den faschistischen Organisationen begegnet werden müsste, waren mit dem Tatverdacht gegen Safwan Eid mehr oder weniger vom Tisch gefegt.

Dabei war es für diejenigen, die sich nach wie vor an Fakten orientierten, schnell klar, dass einerseits der Tatverdacht gegen Safwan Eid auf ausgesprochen dünnen Indizien beruhte, andererseits von einer Entlastung der Grevesmühlener Männer nicht die Rede sein konnte (siehe auch »Zweierlei Maß«).

Einige wenige Medien (Tageszeitung »Junge Welt«, TV-Magazin »Monitor«) und unabhängige antirassistische/antifaschistische Initiativen prüfen kritisch die Ermittlungen – und stoßen schnell auf eine Fülle von Widersprüchen, Ungereimtheiten und gewagten Interpretationen. Die Ermittlungsbehörden verhängen daraufhin eine mehrtägige Nachrichtensperre.

Die antirassistische Politik vor Ort, hauptsächlich getragen vom Lübecker Bündnis gegen Rassismus, musste sich einer zusätzlichen Aufgabe stellen: Ging es vor der Verhaftung Safwan Eids darum, allein die politischen Konsequenzen des Anschlages zu ziehen (u.a. die Forderung nach einem Bleiberecht für alle Brandopfer – unabhängig von den teilweise noch laufenden Asylverfahren), rückten die polizeilichen Ermittlungen zum Brandanschlag selbst mit in den Mittelpunkt der antirassistischen Arbeit. Dies sollte bis zum zweiten Freispruch für Safwan Eid im November 1999 so bleiben.

Die Aktivitäten riefen mehr als Unmut bei den Behörden hervor. Wegen angeblicher »Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole« bekam das Lübecker Bündnis gegen Rassismus Besuch von der Polizei, samt anschließender, nach Monaten aber eingestellter Verfahren. Auf einem Plakat des LBgR war der für die Ermittlungen verantwortliche Staatsanwalt vor dem Brandhaus zu sehen. Eine Fotomontage, die den grafischen Hintergrund für die Forderung »Schluss mit den rassistischen Ermittlungen« darstellte. Gleichzeitig baten fast sämtliche großen Zeitungen und Fernsehanstalten, von der taz über die Zeit bis zur Los Angeles Times, vom SAT-1-Frühstücksfernsehen bis hin zu CNN, das antirassistische Bündnis um Interviews und Stellungnahmen.

Das hatte nicht allein mit der offensiven und intensiven Arbeit des LBgR zu tun, sondern auch mit den immer skandalöser werdenden Ermittlungen. Auch vielen bürgerlich gesinnten Menschen wurde klar, dass mit Safwan Eid der Falsche angeklagt wurde, während gleichzeitig der immer stärkere Tatverdacht gegen die vier jungen Rechtsextremisten aus Grevesmühlen von den Staatsanwälten Böckenhauer, Schultz und Bieler mit immer lächerlicheren Thesen abgetan wurde.

Zudem fand Safwan Eid in Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter zwei Strafverteidigerinnen, die kompetent und engagiert für die Rechte ihres Mandanten stritten – und das nicht nur im Gerichtssaal. Bereits der erste Prozess (mit immerhin über 60 Verhandlungstagen) wurde zu einer Farce: nachdem die Staatsanwaltschaft im Zuge der Verhandlung eine obskure Verschwörung der meisten HausbewohnerInnen ausmachte um schließlich selber einzusehen, dass eine Verurteilung Safwans nicht zu erreichen ist, beantragte sie einen Freispruch.

Aber nicht alle Stimmen, die nur zu gerne einen Flüchtling gesehen hätte, der selber Flüchtlingsunterkünfte anzündet, waren mit dem Freispruch verstummt. Solange es keine juristisch festgestellten Täter gab, blieb zumindest in Teilen der Öffentlichkeit die Täter-Opfer-Verdrehung intakt.

Trotz der Fakten, trotz des Berichtes einer zwischenzeitlich tätigen unabhängigen Kommission aus JuristInnen verschiedener Länder, trotz eines Klageerzwingungsverfahrens gegen die Tatverdächtigen aus Grevesmühlen blieb der »Kriminalfall Hafenstraße« bis heute unaufgeklärt. Denn die Justiz hat einen Prozess gegen die vier aus Grevesmühlen verhindert. Verhindert wurde auch, dass die verantwortlichen PolizeibeamtInnen und Staatsanwälte für die in ihrer Einseitigkeit rassistischen Ermittlungen zur Verantwortung gezogen wurden.

Neonazi-Offensive

Neonazis haben das Vorgehen der Behörden auf ihre Weise verstanden. In den Monaten nach dem Anschlag in der Hafenstraße ist es zu einer Vielzahl von Gewalttaten gekommen. Dutzende Farb- und auch Brandanschläge auf Kirchen, kirchliche Einrichtungen und einen Sendemast des NDR führten nur in einem Fall zu der Ermittlung der rechtsextremen Urheber. Aus der Aktions-Offensive konnten die Neonazis bald darauf eine Organisations-Offensive machen.

Für die folgende Stärkung der NPD und des »Bündnis Rechts« trägt auch die nicht stattgefundene polizeiliche Verfolgung neonazistischer Straftaten eine wesentliche Verantwortung. Die Mörder haben in fast allen Punkten triumphiert. Dass mit Safwan Eid ein Unschuldiger hinter Gitter musste und die Abschiebung der allermeisten überlebenden Brandopfer konnte jedoch verhindert werden. Für damals aktive AntirassistInnen ein nur schwacher Trost…

Der SPIEGEL-Journalist Andreas Juhnke hat über den Brandanschlag ein Buch geschrieben. In seinem Werk »Brandherd« heißt es am Schluss: »Es gab vorher und nachher in der Welt größere Massenmorde, gnadenlosere Vertuschungen, weniger Hilfe als nach dem Mord an Monica und Suzanna Bunga, Francoise, Christine, Miya, Christelle, Legrand und dem kleinen Jean-Daniel Makodila, Sylvio Amoussou und Rabia El Omari. Aber es ist an der Zeit aufzuwachen in Lübeck, wenn nicht wieder eine lange Liste ausländischer Namen in den Todesanzeigen erscheinen soll.

Aber Lübeck schläft, nicht nur nachts um drei Uhr. Die meisten haben die Sache sowieso längst vergessen. Gut, sagen die Mörder, so soll es bleiben.«

Holger Wulf war in den 1990er Jahren im »Lübecker Bündnis gegen Rassismus« aktiv; er hat die Ermittlungen im Fall Hafenstraße von Anfang bis zum Ende verfolgt und war Prozessbeobachter im ersten Strafverfahren gegen Safwan Eid.

Aus der Zeitschrift für antirassistische und antifaschistische Politik in Schleswig/Holstein und Hamburg »Enough is enough« Nr. 24
www.nadir.org/nadir/periodika/enough