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Die Erfassung der Fallzahlen rechter Gewalt

Monika Lazar
Einleitung

Eine Geschichte von Ignoranz, Zahlensalat und Strukturmängeln

Rassismus hat Hochkonjunktur in Deutschland. Immer häufiger äußert sich Hass in flüchtlingsfeindlichen Straftaten. Das Bun­deskriminalamt (BKA) tut sich schwer damit, die Sachlage realistisch darzustellen. So soll die Erfassung der sog. Politisch motivierten Kriminalität (PMK) die Polizei befähigen, ein genaues Lagebild zu erstellen, um zielgenau und nachvollziehbar zu handeln.

Foto: Presseservice Rathenow

Tatsächlich aber, so stellte der Parlamentarische Untersuchungsausschuss NSU des Bundestages (PUA NSU) in seinem Abschlussbericht 2013 fest, war die polizeiliche Analyse rechtsextremer Gewalt jahrzehntelang „fehlerhaft, das Lagebild dadurch unzutreffend“. (BT-Drs. 17/14600, S. 861) — mit den bekannten Folgen. Danach wurde allseits Besserung gelobt. Vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ist es Zeit für einen Realitäts-Check: Werden rassistische Straftaten heute rechtzeitig erkannt, klar benannt und konsequent bestraft? Leider nicht. Nach wie vor liefert die PMK-Statistik unschlüssige Zahlen und sorgt für Verwirrung.

Die Grüne Bundestagsfraktion hat die Fallzahlen unter die Lupe genommen. Danach zeigt auch die aktuelle BKA-Statistik Widersprüche und Unzulänglichkeiten. So wusste das BKA etwa nur von 61 rassistischen Gewalttaten in Ostdeutschland im Jahr 2014, während die ostdeutschen Opferberatungsstellen 457 Taten auswiesen, mehr als das siebenfache also. Im Westen fehlt ein solides Netz zivilgesellschaftlicher Opferberatungen, daher gibt es keine Vergleichszahlen. Doch offenkundig übersehen die Behörden zahlreiche Straftaten oder ordnen sie nicht richtig ein. Zwar kommen auch zivilgesellschaftliche Stellen zu etwas voneinander abweichenden Ergebnissen, jedoch sind ihre Zahlen stets signifikant höher als die des BKA — eine beunruhigende Kontinuität.

Seit Jahren wird auch über die korrekte Zahl derjenigen Menschen gestritten, die seit 1990 durch rechte Gewalt starben. Stets liegen die Zahlen von JournalistInnen und Beratungsstellen weit höher als die der Polizei bzw. der Bundesregierung — welche zudem über die Jahre immer wieder korrigiert werden mussten. Nach der NSU-Selbstenttarnung begann unter Leitung des BKA eine Überprüfung aller möglicherweise rechten Mordfälle seit 1990. In einer ersten Stufe filterte man zunächst 745 Verdachtsfälle rechter Tötungsdelikte heraus (mit 849 Opfern). In einer zweiten Stufe konnte das BKA dann aber bei keinem (!) dieser 745 Verdachtsfälle einen „weiteren Ermittlungsansatz“ für einen rechten Tathintergrund erkennen.

Wie kann das angehen? Wir fragten nach. Das hängt — so die Bundesregierung — mit der Fragestellung in dieser zweiten Stufe zusammen. Da wurde nämlich nicht mehr nach einem rechten Tathintergrund gefragt, sondern nach einem „rechtsextremistisch/-terroristischen“. Das Prüfungsraster wurde damit so eng angelegt, dass von vornherein klar war: Man wird nichts finden.

Das Land Brandenburg führte eine eigene Prüfung verdächtiger Todesfälle durch, ging aber konstruktiver vor: Erstens beauftragte das dortige Innenministerium nicht die Polizei, sondern das zivilgesellschaftliche „Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien“. Zweitens wurde zur Begleitung ein Expertenkreis berufen, der sich gleichberechtigt aus VertreterInnen der zuständigen Behörden und zivilgesellschaftlicher Institutionen, wie der Amadeu Antonio Stiftung oder dem Verein Opferperspektive, zusammensetzte. Das führte denn auch zu anderen Ergebnissen. So wurden in Brandenburg neun bislang unberücksichtigte Todesfälle identifiziert und in die offizielle Statistik aufgenommen. Damit verdoppelte sich die Zahl in Brandenburg auf 18 Fälle. Gesellschaftspolitisch bedeutsam ist, dass alle Beteiligten aus Staat und Zivilgesellschaft bei fast allen untersuchten Todesfällen zu einer gemeinsamen inhaltlichen Bewertung kamen. Wo jahrzehntelang Sprachlosigkeit herrschte, gibt es nun gegenseitiges Verstehen und ein belastbares Ergebnis.

Die neun Mordfälle aus Brandenburg wurden dem BKA nachgemeldet. Das BKA hatte diese Fälle zwar auch geprüft, aber selbst keine Anhaltspunkte zur Neubewertung gefunden. Später präsentierte das BKA eine — wieder einmal nachträglich korrigierte — Übersicht: Die Bundesregierung bestätigt nun 75 Tote durch rechte Gewalt seit 1990. 48 lautete die Zahl vor der NSU-Zäsur. Danach kamen die zehn von der Terrorgruppe Ermordeten hinzu. Erstmals erscheinen alle 17 Nachmeldungen in der BKA-Statistik (neben neun Fällen aus Brandenburg jeweils drei aus Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie je einer aus Hessen und Mecklenburg-Vorpommern). Außerdem gibt die Bundesregierung 170 versuchte rechte Morde (29 davon seit 2009) an. Auch dies gehört zu den erschreckenden, und bislang unbekannten Fakten über rechte Gewalt in Deutschland.

Bis heute ebbt die Welle rechter Gewalt nicht ab, sondern wird stärker. 2015 zählte das BKA bis Ende Oktober 637 Straftaten gegen Asylunterkünfte, mehr als dreimal so viele wie im gesamten Vorjahr (199). Und während 2014 „nur“ 28 flüchtlingsfeindliche Gewalttaten registriert wurden, stieg die Zahl im laufenden Jahr bereits auf 104 Delikte. Dass die Fallzahlen dramatisch sind und die Dynamik ungebrochen scheint, konstatiert auch das BKA. Leider erlebt man bei der Erfassung dennoch ein bedenkliches Déjà-vu. Einige Anzeichen legen nahe, dass die Polizei bei Gewalt gegen Flüchtlinge — wie in den 1990er Jahren — nicht genau genug hinschaut.

Erneut weichen die Zahlen von BKA und Zivilgesellschaft deutlich voneinander ab. Während das BKA 2015 „nur“ 53 Brandstiftungen gegen Unterkünfte erfasste, zählten Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL für denselben Zeitraum 92 Anschläge (Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle 2015, 30.10. 2015).

Auch werden rassistische Tathintergründe oft durch die Polizei verkannt. So verneinte das BKA bei dem Brandanschlag auf die geplante Flüchtlingsunterkunft in Tröglitz im April 2015 einen rechten Tatverdacht. Stattdessen unterstellten die Ermittlungsbehörden in Sachsen-Anhalt, dass ja ggf. auch linke Aktivisten versucht haben könnten, ihren politischen Gegner zu „diskreditieren“. 
Beim Brandanschlag auf eine Unterkunft in Escheburg (Schleswig-Holstein, Februar 2015) erwies das BKA sich ebenfalls als unfähig. Monate nachdem das zuständige Gericht den Anschlag als „fremdenfeindlich“ eingestuft hatte, hob das BKA in seinem Juli-Lagebild die Tat noch als einen „nicht politisch einzuordnenden“ Anschlag hervor.

Gefährlich ist, dass die Polizei die Interaktionen zwischen rechten Straftätern und PEGIDA, AfD oder NPD ausblendet. So erläutert das BKA in seinem aktuellen Lagebild einerseits: Von 228 bekannt gewordenen Tatverdächtigen seien ein Drittel der rechtsextremen Szene und ein Fünftel einer rechtsextremen Organisation zuzuordnen. 205 von ihnen stammten aus einem Umkreis 20 km von den (bundesweit verteilten) Tatorten. Andererseits aber bleibt das BKA stoisch dabei, dass es sich primär um Einzeltäter handle und es keine Belege für eine bundesweite Steuerung durch rechtsradikale Parteien gäbe.

Da ist der Bundesrat fachlich kompetenter, wenn er in einem NPD-Verbotsantrag feststellt, dass die „Anschläge auf Asylunterkünfte eine konsequente Umsetzung der Ideologie der NPD“ darstellen.

Wie sehr PEGIDA, AfD und der rechte Mob zusammenarbeiten, lässt sich mittlerweile gut erkennen. Dass rechte Schläger nämlich nicht mehr nur mit Brandsätzen und Knüppeln losstürmen, ist auch dem BKA aufgefallen. Inzwischen testen sie laut BKA gezielt neue Aktionsformen, insbesondere Blockaden — an Bahnhöfen, Autobahnen oder direkt vor Flüchtlingsunterkünften. Genau hier aber findet der Brückenschlag nicht nur zur NPD statt (die gezielt lokale „Nein zum Heim“ Kampagnen steuert), sondern auch zu PEGIDA & Co., die ungeniert zu solchen Blockaden aufrufen.

Die Polizei muss noch viel tun, um ihren Auftrag aus dem PUA-NSU einzulösen. Die PMK-Erfassung liefert auch heute keine plausiblen, widerspruchsfreien Daten. Nach wie vor gibt es eklatante Strukturmängel, auch hinsichtlich der Kooperation bzw. des Datenabgleichs mit zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen. Wer aber keine validen Daten über das Ausmaß rechter Gewalt hat, der kann kein verlässliches Lagebild zeichnen, aus dem sich wirksame Gegenstrategien entwickeln ließen. Während sich die Gewalt gegen Geflüchtete quantitativ und qualitativ erkennbar zuspitzt, wurde Mitte November im Bundestag ein neuer NSU-PUA eingesetzt. Struktur, Zusammenarbeit und Anti-Rassismus-Qualifizierung der Behörden gehören zu den Themen, die die Grüne Bundestagsfraktion dort auf die Agenda setzen wird. Das sind wir den vielen Opfern rechter Gewalt schuldig. 

Zur Autorin:

Monika Lazar ist Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist stellvertretendes Mitglied des neuen Parlamentarischen Untersuchungsausschusses NSU im Bundestag.