Eine Antwort auf den (mörderischen) Neonaziterror?
Vorbereitungsgruppe (Gastbeitrag)»Als wir von der Nagelbombe erfuhren, war uns sofort klar, dass es sich bei dem Anschlag weder um Schutzgeld, noch um Drogengeschäfte [… ] handeln konnte. [...] Es war so einfach zu sehen, dass das Motiv politisch, ja rassistisch war. Bei der Polizei hieß es, es werde nicht im rechten Milieu ermittelt, denn die Neonazis würden nicht so drastisch vorgehen.« (Kutlu Yurtseven, Sänger von Microphone Mafia und 2004 Bewohner der Kölner Keupstraße)
Im Herbst 2011 flogen die Neonazis vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) auf. Dabei kam zu Tage, dass sie zwischen 2000 und 2006 mindestens neun Männer mit Migrationshintergrund erschossen, einen Sprengstoffanschlag auf ein deutsch-iranisches Lebensmittelgeschäft und einen Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln – in der Presse als »Klein Istanbul« bezeichnet – verübten und 2007 für die Ermordung einer Polizistin verantwortlich waren. Mehmet Kubasık wurde am 4. April in Dortmund und Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel ermordet. Im Mai und Juni 2006 organisierten türkische und kurdische Vereine mit den Angehörigen der beiden Familien einen Schweigemarsch in Dortmund und eine Demonstration in Kassel, bei denen der Opfer gedacht und die Behörden aufgefordert wurden, ein zehntes Opfer zu verhindern. Weder die ermittelnden Behörden, noch die bürgerliche Presse, auch nicht die Antifa-Szene oder radikale Linke hatten die Mordserie einer Neonazigruppierung zugeordnet. Ebenso wurde den Angehörigen der Mordopfer keine Unterstützung angeboten, keine kritische Presse- oder juristische Arbeit geleistet und kein Druck auf Ermittlungsbehörden aufgebaut. Im November 2011 waren die Meisten fassungslos und überrascht.
Seitdem organisierten Antifas und andere Linke Aktionen gegen den Verfassungsschutz und Gedenkveranstaltungen an den Tatorten. Wie von kritische Journalist_innen auch, wurde die Verstrickung des Inlandgeheimdienstes in die Neonaziszene und die von Rassismus geprägte Ermittlungslogik der Polizei beleuchtet. Antifas empörten sich über eine Presse, die von »Döner-Morden« schreibt und weibliche Neonazis als unpolitische Mitläuferinnen unterschätzt.
Antifas und radikale Linke haben in den letzten zehn Jahren viel dazu beigetragen, dass Neonazis immer wieder Einhalt geboten, Öffentlichkeit geschaffen und Solidarität mit Opfern rechter Angriffe gezeigt wurde. Dennoch kann es nach den NSU-Morden kein einfaches »Weiter so« geben. Wir müssen diskutieren, was die antifaschistische Nicht-Reaktion auf die Mordserie über uns aussagt. Unsere Analyse hat sich als nicht ausreichend sensibel und klug genug herausgestellt, um handlungsfähig zu sein: Solidarisch an der Seite der Betroffenen.
Was macht Antifa heute aus, was kann eine radikale Linke sein? Was ist Grundlage unserer Analysen und unserer Handlungsstrategien? Was steht jetzt auf der Tagesordnung? Recherche, eine Begleitung der Untersuchungsaussschüsse, Selbstkritik, mehr antirassistische Arbeit, mehr Strukturaufbau an der antifaschistischen Basis vor Ort? Was können wir dem (mörderischen) Neonazi-Terror mit seiner Verstrickung in die Sicherheitsbehörden entgegensetzen?
Wir rufen Euch auf, diese und weitere Fragen gemeinsam mit uns vom 24. August bis zum 2. September beim bundesweiten Antifa-Camp zu diskutieren und gegen die lokale Neonazi-Hegemonie in Dortmund-Dorstfeld vorzugehen. Zusammen wollen wir die »nationalen Aktionswochen« der Neonazis vor dem 1. September unterbinden und am Ende des Camps die Neonazi-Demonstration am 1. September selbst verhindern.
Auch andere Städte haben Neonazi-Probleme – Warum Dortmund?
Nachdem die alljährlichen Demonstrationen in Dresden für die Neonazis zunehmend frustrierend endeten, gewinnt ihr Versuch, den Weltfriedenstag als einen »nationalen Antikriegstag« mit einer Demonstration in Dortmund zu besetzen, an Bedeutung. Darüber hinaus machen die Dortmunder Neonazistrukturen durch offensive Aktionen, bewaffnete Übergriffe und Anschläge immer wieder von sich reden. Besonders im Stadtteil Dorstfeld hat sich eine aktive Szene aus dem Milieu der Freien Kameradschaften durch mehrere Wohngemeinschaften und ein »Nationales Zentrum« etabliert. Aktuell versuchen Neonazis im Dortmunder Vorort Lütgendortmund den Protest gegen das im letzten Jahr eröffnete Flüchtlingsheim Grevendicks Feld anzuheizen. Hierzu kaperten sie im Mai 2012 eine SPD-Informationsveranstaltung, um mit rassistischen Argumenten eine Gegenbewegung zu initiieren. Die Dortmunder Neonazis sind gut vernetzt mit »Autonomen Nationalisten« aus der Umgebung sowie dem restlichen Bundesgebiet. Im Zusammenhang mit dem Mord an Mehmet Kubasık untersuchten die Behörden, ob und wer lokale Partner des »NSU« in Dortmund waren. Denn nur zweihundert Meter von seinem Kiosk entfernt befand sich z.B. der »Deutsche Hof«, unter anderem ein Treffpunkt der neonazistischen »Borussenfront«.
Mit dem Antifa-Camp wollen wir ein inhaltliches wie praktisches antifaschistisches Aufbruchssignal gegen den Dortmunder Status quo setzen.
Vernetzung – Aktionen – Debatten
Das Programm des Camps ist vielfältig. Darin spiegelt sich die Absicht der Vorbereitungsgruppe wieder, Kämpfe zusammen zu denken und gemeinsam aktiv zu werden. Da rassistische Ausgrenzung bis hin zu Mord weit über den Angriff (staatlich besoldeter wie auch unbezahlter) Neonazi-Strukturen hinaus geht, muss antifaschistischer Widerstand auch den Alltagsrassismus und die Migrationspolitik thematisieren. Denn die Mordserie des »NSU« wie auch die vielfachen brutalen Angriffe Dortmunder Neonazis auf Personen, bei denen sie einen migrantischen Hintergrund annehmen, finden in einem gesellschaftlichen Milieu tiefgreifender Verankerung von Rassismus statt. Um Strategien zu diskutieren und zu entwickeln, sucht das Camp daher Anschluss an migrantische und antirassistische Initiativen. Es wird einen antirassistischen Aktionstag geben sowie eine öffentliche Veranstaltung in der Nordstadt in der Nähe des Tatortes des Mordes an Mehmet Kubasık. Wir werden diejenigen, die bereits 2006 den Trauermarsch organisierten, versuchen, für die Vorbereitung zu gewinnen und die Bewohner_innen des Stadtteiles einladen, Perspektiven auszutauschen und über Formen gemeinsamen Gedenkens nachzudenken.
Geplant sind auch Workshops und Veranstaltungen u.a. zu Neonazis in Dortmund, Antifa und Mackertum, »wie geht Antifa« für jüngere Antifas, Rechte Codes, Kommunale Bündnisse gegen Neonazis; ein Erfahrungsaustausch verschiedener Gruppen über Extremismusdebatte, Antiziganismus und 20 Jahre Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen.
Wir brauchen ein Debatten- und Aktions-Camp, um in Zukunft die richtigen Fragen zur richtigen Zeit an die richtigen Stellen zu richten und gemeinsam, regional wie bundesweit, handlungsfähiger zu sein.