Europa-Konzeptionen der SS
Mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 verfügten die alliierten Besatzungsbehörden die Auflösung der Schutzstaffel (SS) und untersagten ihre Neugründung. Ein Jahr später wurde die SS vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu einer »Verbrecherischen Organisation« erklärt. Die »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« (HIAG) der früheren Angehörigen der Waffen-SS, die seit den späten vierziger Jahren von ehemaligen Offizieren aufgebaut wurde, bestritt daher jederzeit, eine Nachfolgeorganisation der SS darzustellen, obwohl vieles dafür spricht, dass sie zentrale Vergemeinschaftungsformen der Schutzstaffel in die Bundesrepublik überführte.
Die »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« war sicherlich die bekannteste und am meisten in der Öffentlichkeit stehende Vereinigung, in der sich frühere SS-Angehörige engagierten. Die HIAG war aber nicht die einzige Akteurin, die Ideologiebausteine aus der Geschichte der Schutzstaffel aufgriff und demokratiekompatibel umformte. So konnten zum Beispiel die Europa-Konzeptionen der SS nach 1945 in die politische Erwachsenenbildung einfließen. Entscheidend hierfür waren sowohl personelle Kontinuitäten als auch Schlüsselbegriff wie zum Beispiel »Abendland« als vieldeutiger Ausdruck angeblicher kultureller Überlegenheit in den 1950er Jahren.
Die SS im nationalsozialistischen Deutschland
Die SS des Jahres 1945 unterschied sich erheblich von derjenigen der zwanziger Jahre. Als Heinrich Himmler im Jahre 1929 zum »Reichsführer« ernannt wurde, war die Formation mit nicht einmal 300 Mitgliedern weitgehend bedeutungslos. Himmler beanspruchte für »seine« Organisation jedoch umgehend die Rolle einer politischen und »rassischen« Elite. Mitglieder mussten neben einer entsprechenden radikalen Einstellung bestimmte körperliche Voraussetzungen mitbringen und ihre »arische« Abstammung sowie ihre »Erbgesundheit« nachweisen. Ab 1934 entwickelte sich die »Schutzstaffel« zu einer Massenorganisation und übernahm neue Aufgaben, so etwa die Bewachung und die Verwaltung der Konzentrationslager. Hinzu kam u.a. die Gründung des »Sicherheitsdienstes« (SD), der Aufbau einer Wissenschaftsorganisation im Verein »Ahnenerbe e. V.«, die Übernahme von Wirtschaftsbetrieben sowie die Aufstellung bewaffneter Einheiten (SS-Verfügungstruppe) als Vorläuferin der Waffen-SS.
Der ständige Wandel und die Vergrößerung der Organisation erschweren es, eine einheitliche »SS-Ideologie« auszumachen. So fällt unter anderem auf, dass nicht selten pragmatische Entwicklungen ideologisch »vernebelt« wurden. Die Waffen-SS etwa stellt in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel dar. Zuletzt handelte es sich um eine etwa 900.000 Mann starke, multinational zusammengesetzte Formation, in der sogar Russen und bosnische Muslime dienten – mithin also Gruppen, die im Sinne der NS-Rassenideologie zuvor als »minderwertig« eingestuft worden waren. Rechtfertigungsschriften, gerade aus dem Umfeld der HIAG, konnten nach 1945 daher leicht an Propaganda-Parolen anknüpfen, in denen die Waffen-SS als »Europa-Armee« überhöht oder zur Vorreiterin der europäischen Einigung stilisiert wurde. Die Waffen-SS – so die laufend wiederholten Verharmlosungen – habe es sich zur Aufgabe gemacht, in den »Abwehrschlachten« an der Ostfront das »Abendland« vor »dem Bolschewismus« zu schützen.
»Rasse«- und Siedlungspolitik
Die SS war während des Zweiten Weltkrieges federführend in die nationalsozialistische »Rasse«- und Siedlungspolitik eingebunden. Eine zentrale Institution in diesem Zusammenhang war das von Himmlers Vertrauten Reinhard Heydrich geleitete »Reichssicherheitshauptamt« (RSHA). In dieser Behörde, in der staatliche Polizeien und SS-Dienststellen zusammengeschlossen worden waren, wurden unter anderem Terrormaßnahmen gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle in den deutsch-besetzten Ländern vorbereitet und die Ermordung der europäischen Juden maßgeblich geplant. Neben seiner Funktion als Reichsführer-SS wurde Himmler im Oktober 1941 zudem das Amt des »Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums« (RKF) übertragen. Die Aufgabe des RKF bestand in der »Germanisierung« Osteuropas. Damit gemeint war ein gigantisches Um- und Aussiedlungsprogramm in den besetzten Gebieten.
Das bekannteste derartige Konzept war der so genannte »Generalplan Ost«. Die Planungen reichten bis nach Leningrad im Norden und zur Halbinsel Krim im Süden der Sowjetunion. In Polen und in den östlichen Teilen der Sowjetunion sollten deutsche Siedlungsstützpunkte entstehen, die einheimische »slawische« Bevölkerung sollte verdrängt werden. Der Schwerpunkt lag entsprechend der Doktrin »Blut und Boden« auf einem landwirtschaftlichen Siedlungswesen, polnische und sowjetische Städte sollten »ausgedünnt« werden. Im Planungsbereich lebten etwa 31 Millionen Menschen, die als »rassisch unerwünscht« galten. Sie sollten ermordet oder nach Sibirien deportiert werden. Dazu gehörten Juden, Polen, Russen und Roma. Die Konzepte zur Kolonisierung der »Ostgebiete« entstanden in der Euphorie rascher militärischer Erfolge ab Sommer 1941. Alle weiteren Planungen ignorierten den tatsächlichen Kriegsverlauf. Bis zuletzt gingen die Mitarbeiter der Planungsstäbe von einem aus Allmachtsphantasien gespeisten, überwältigenden »Siegfrieden« aus.
Die »Europäische Eidgenossenschaft«
Ein sehr außergewöhnliches und zum Teil differenziert angelegtes Konzept ist auf Januar 1945 datiert. Vorgestellt wurde es von Alexander Dolezalek, einem der profiliertesten Volkstumsspezialisten der SS, der unter anderem im RSHA und im »Ansiedlungsstab« in Litzmannstadt (Lódz) tätig war. Im engen Kontakt mit höchsten Besatzungsdienststellen beteiligte er sich in dieser Funktion als »Vordenker der Vernichtung« maßgeblich an den »Ostraumplanungen«.
Der knapp dreißigseitige Text enthält Überlegungen zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung im Rahmen einer »Europäischen Eidgenossenschaft«. Darin arbeitete der Verfasser zunächst – aus seiner Sicht – fehlerhafte Entwicklungen in Deutschland und in der nationalsozialistischen Kriegspolitik heraus. Hier benannte er beispielsweise ein »verflachtes Kulturleben«, eine unvollendete Entwicklung zum Sozialismus sowie eine »halbherzige Umsetzung« der so genannten »Bevölkerungs- und Rassepolitik«. Ein Kardinalfehler lag Dolezalek zufolge darin, dass die Expansion des Deutschen Reiches zwischen 1938 und 1943 zu schnell und ohne eine entsprechende Bewusstseinsbildung unter der Bevölkerung verlaufen war. Insbesondere der »europäische Gedanke« sei mehrheitlich mit Unverständnis aufgenommen worden. Dolezalek bezog sich hier zweifellos auf die verstärkte Europa- und »Abendland«-Rhetorik in der NS-Propaganda nach der Niederlage von Stalingrad im Winter 1942/43. Die Umorientierung weg von einer deutsch-nationalen Ausrichtung zielte vor allem darauf, unter nationalistischen Bewegungen in Europa eine deutsch-freundliche Haltung zu erzeugen. Aktivistinnen und Aktivisten sollten so zur Kollaboration bewogen werden, beispielsweise durch einen Arbeitseinsatz im Deutschen Reich oder einen Eintritt in die Waffen-SS. Im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung habe die SS die Zeichen der Zeit schon früh erkannt und über ihre Ausweitung die Entwicklung zu einer multinationalen europäischen Formation bereits durchlaufen, so Dolezalek.
Dolezaleks »Nachkriegsordnung« verband einen außen- und einen innenpolitischen Ansatz. Das außenpolitische Konzept bestand aus einem »germanischen Kerneuropa« um das sich – entsprechend der rassistischen Hierarchisierung – sogenannte »Nachbarschaftsvölker«, »Genossenschaftsvölker« und »Randvölker« in konzentrischen Kreisen gruppieren sollten, und Russland im Osten sowie England im Westen waren als Übergangsbereiche gedacht. Unter »Europa« verstand der Verfasser weniger eine geografische Kategorie, sondern vielmehr eine kulturelle und geschichtliche Einheit, verbunden über eine wirtschaftliche »Schicksalsgemeinschaft«. Innenpolitisch redete das Konzept einer »echten« sozialistischen Gesellschaftsordnung das Wort. In dem sozialistischen Gedankenspiel spiegelt sich nicht nur eine Ablehnung des als »amerikanisch« identifizierten Kapitalismus, sondern auch eine dezidiert »antibolschewistische« Ausrichtung. Ungezügelter Kapitalismus und ungerechte Güterverteilung – vor allem im Südosten Europas – seien schließlich der Nährboden des stalinistischen Systems. Die außen- und innenpolitischen Konzepte fasste Dolezalek als »Europäischen Friedensgedanken« zusammen. Dieser »Frieden Adolf Hitlers«, so der Verfasser, bedeute das Ende aller europäischen »Bruderkriege«. Er werde das »Abendland« für immer im »Weltenraum« bestätigen und den Überlebenden des Krieges sowie ihren Kindern und Kindeskindern das höchste Glück widerfahren lassen.
Im Vergleich zu Konzepten, die nur wenige Jahre zuvor innerhalb der SS-Dienststellen entworfen worden waren, handelt es sich hier um ein vergleichsweise moderates Programm, das allen europäischen Nationen gleichermaßen ein Existenzrecht einräumte. In gewisser Weise relativierte der Verfasser damit andere Nachkriegsszenarien wie zum Beispiel den »Generalplan Ost«. Bemerkenswert ist, dass Dolezalek keine Angaben zur Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung machte – offenbar setzte er ihr Verschwinden und damit den Vollzug des Völkermordes voraus. Im Angesicht der militärischen Niederlage und in Erwartung des Endes der NS-Herrschaft stellten jedoch der Verzicht auf offenen Rassismus, der ausdrückliche Wunsch nach Frieden und Einheit in Europa sowie das Plädoyer für innenpolitische Veränderungen zukunftsfähige politische Ansätze dar. Es verwundert daher nicht, dass Dolezalek sich auch nach 1945 mit dem Thema »Europa« befasste: und zwar als Bildungsreferent.
Das GESW
Nach Beendigung des Krieges ging Dolezalek zunächst in die DDR, siedelte aber während der fünfziger Jahre in die Bundesrepublik über und ließ sich im westfälischen Vlotho nieder. Vlotho war seit der Gründung des »Jugendhofs« im Jahre 1946 ein Zentrum der politischen Erwachsenenbildung. Im Rahmen des Demokratisierungsprogramms, das die britischen Besatzungsbehörden initiiert hatten, sollte diese Weiterbildungseinrichtung unter anderem Jugendliche und junge Erwachsene, die in der »Hitlerjugend« sozialisiert worden waren, für die Demokratie gewinnen. Der zentrale Ansatz war Austausch und Diskussion.
Im Jahre 1956 wurde in Vlotho mit dem »Gesamteuropäischen Studienwerk« (GESW) eine weitere Bildungsstätte gegründet. Auch das Studienwerk verschrieb sich einem demokratischen Bildungsgedanken, der sich an Offenheit und einem »Gespräch auf Augenhöhe« orientierte. Leiter war der Politologe Werner Rietz, einer seiner Mitarbeiter war Dolezalek, beides frühere SS-Angehörige. Der Arbeitsschwerpunkt des GESW war das Thema »europäische Einigung«. Mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge (Deutschlandvertrag, Beitritt der BRD zur Westeuropäischen Union, Beitritt der BRD zur Nato) im Oktober 1954 hatte die Bundesrepublik ihre Westbindung festgeschrieben. Damit waren sowohl die Teilung Deutschlands als auch die Teilung Europas auf unabsehbare Zeit besiegelt. Im Sinne der »Europäischen Friedensordnung«, die Dolezalek kurz vor Beendigung des Krieges entworfen hatte, handelte es sich nicht nur um einen untragbaren Zustand, sondern auch um eine Bestätigung der Theorie, nach der »Europa« durch das Expansionsstreben des (amerikanischen) Kapitalismus und des (sowjetischen) Kommunismus bedroht sei. Daher passt es ins Bild, dass das Gesamteuropäische Studienwerk schon während der Hochzeit des Kalten Krieges systematisch Kontakte zu Regierungs- und Nichtregierungsstellen in der DDR und anderen Staaten des »Ostblocks« knüpfte. Hier zeigt sich, dass das Thema »europäische Einigung« seit den 1950er Jahren eine Vielzahl von Schnittmengen zwischen dem offiziellen politischen Kurs sowie einer bestimmten Ausrichtung der SS-Ideologie bereitstellte. Ausschlaggebend hierfür waren ein verbreitetes »Abendland«-Denken in Politik und Kultur, das von einer Überlegenheit »europäischer« Haltungen und Werte gegenüber »außereuropäischen« Einflüssen ausging, sowie die Bestrebungen zur politischen, militärischen und wirtschaftlichen Integration in Westeuropa.
Ähnlich offen war in den 1950er und 1960er auch das Vlothoer Demokratiekonzept angelegt: das »Gespräch«. Das Studienwerk, aber auch der Jugendhof und die ebenfalls in der Weserstadt gegründete »Stätte der Begegnung« veranstalteten regelmäßig Hearings und Seminarveranstaltungen, in denen über die politische Situation und über die Entwicklung der Demokratie diskutiert wurde. Federführend dabei waren Dolezalek und Rietz.
Sie öffneten den Austausch systematisch für frühere Nationalsozialisten. Dazu gehörten unter anderem Funktionäre des HIAG-Verbandes, zum Beispiel dessen Geschäftsführer Karl Cerff, ein früherer hochrangiger SS-Führer. In derartigen Austauschprozessen war es leicht möglich, Bekenntnisse zum Deutschen Reich abzulegen – sie mussten lediglich als Wunsch nach einer Wiedervereinigung Deutschlands dargestellt werden. Hinter einem Plädoyer für »Rechtsstaatlichkeit« und »Meinungsfreiheit« ließ sich ein Engagement für verurteilte Kriegsverbrecher verbergen, und das Beschwören eines wehrhaften Staates gegen »Kommunisten« war jederzeit konsensfähig.
»Abendland« als Klammer
Das Thema »SS-Kontinuitäten« in der Bundesrepublik muss differenziert betrachtet werden. Das liegt bereits darin begründet, dass die SS bis zum Ende des Krieges zu einer Massenorganisation angewachsen war, die ihren ursprünglichen, elitären Charakter zum Teil eingebüßt hatte. Hinzu kommt, dass auch die Ideologie einem permanenten Wandel unterzogen war. Kurz vor Ende des Krieges begannen daher die Vordenker der Schutzstaffel damit, sich Gedanken über Nachkriegsordnungen zu machen, die auch für den Fall einer militärischen Niederlage denkbar waren. In diesen Planungen zentral war das »Abendland« als geeintes Europa – im konkreten Fall als »Europäische Eidgenossenschaft«. Der Beginn der (west-)europäischen Einigung ermöglichte es früheren SS-Vordenkern, wie zum Beispiel Alexander Dolezalek, seine ideologischen Vorstellungen auch im Kontext der Demokratie zu verfolgen. Außerdem hatte er die Möglichkeit, frühere »Kameraden« in seine Arbeit und in den demokratischen Austausch einzubeziehen. Das geschah öffentlich und mit staatlicher Unterstützung. Hier gilt es, künftig Fragen zu stellen.