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Extremismusexperten an der Front gegen „jihad-salafistische“ Jugendliche

Einleitung

In einem neuen Berliner Modellprojekt sollen salafistische Jugendliche „deradikalisiert“ werden. An der Umsetzung beteiligt sind ein Verfechter des Konzepts der akzeptierenden Jugendarbeit mit Neonazis, ein früherer Neonazi und das Landesamt für Verfassungsschutz.

Foto: Screenshot von facebook.com

Das ehemalige Mitglied der Berliner Neonazi-Band „Deutsch, Stolz, Treue“ (D.S.T.) Alexander Brammann tritt mittlerweile öffentlich als Deradikalisierungs-Experte auf.

Fast wöchentlich veröffentlichen die Ver­fassungsschutzbehörden aktuelle Zahlen über die Anzahl der Menschen, die nach Syrien oder Irak reisen, um den Islamischen Staat (IS) zu unterstützen. Die offizielle Statistik der „foreign fighters“ aus Deutschland gilt darüber hinaus als stichhaltiger Anhaltspunkt für eine zunehmende salafistische Radikalisierung und Fanatisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Sicherheitsbehörden sind alarmiert: Für sie stellen die Jugendlichen nicht nur in den Zielländern ihrer Reise, sondern auch in der Bundesrepublik eine zunehmende, womöglich terroristische Gefahr dar.

Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport, der das Landesamt für Verfassungsschutz untergeordnet ist, hat im April 2015 ein neues Deradikalisierungsprojekt gestartet, um der gewaltbereiten Salafisten-Szene Berlins mit sozialpädagogischen Ange­boten zu begegnen. Mit der Durchführung des Projekts ist der zivilgesellschaftliche Trägerverein „Violence Prevention Network“ (VPN) beauftragt, der dafür bis 2019 insgesamt etwa eine halbe Million Euro erhält. In Zusammenarbeit mit Berliner Polizei und Verfassungsschutz soll VPN auf „jihad-salafistische“ Jugendliche und junge Erwachsene einwirken, um bei „Rückkehrern“ und „bereits radikalisierten Personen Distanzierungs- und Deradikalisierungsprozesse von jihad-salafistischem Gedankengut einzuleiten und eine Demobilisierung“ ihrer Gewaltbereichtschaft zu erreichen. Laut Innensenator Frank Henkel (CDU) erhoffe man sich langfristig, „die jungen Menschen auf den richtigen Weg bringen“ zu können, um so die Gefahr terroristischer Anschläge im In- und Ausland zu mindern.1
 

Der Deradikalisierungsansatz — inhaltsleer und im Kern antidemokratisch

Mit dem Programm erfährt der Ansatz der Deradikalisierung in Berlin eine erhebliche Aufwertung. Deradikalisierung gilt seit spätestens 2012 als neue Wunderformel zwischen Prävention und Repression hinsichtlich der Frage, wie Jugendsozialarbeit und politische Bildung im Kontext von „Extremismus“ und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit umgesetzt werden können.2 Im Kern geht es dem Deradikalisierungsansatz darum, bei den anvisierten Zielgruppen einen prozesshaften Identitätswechsel zu bewirken — von einer „radikalen“ hin zu einer nicht-kriminellen, „moderaten“ und daher „demokratischen“ Identität. Es ist ein defizitorientierter Ansatz, der sich in Deutschland aus der Arbeit mit ideo­logisch gefestigten, organisierten und/oder gewaltstraffälligen Personen entwickelt hat. Als Vorreiterin gilt das Neonaziausstiegsprogramm EXIT. Problematisch ist der Deradikalisierungsbegriff hinsichtlich seiner inhaltlichen Leere. Als Feindbild gelten pauschal eine radikale Haltung und sich daraus ableitende Handlungen. Ein konkreter Sachbezug ist in den pädagogischen Konzepten meist nicht auszumachen. Während sich Wissenschaft und pädagogische Praxis momentan vor allem auf Neonazis und IslamistInnen fokussieren, ließe sich mit dem Begriff theoretisch auch jede soziale Gruppe bekämpfen, die eine „an die Wurzel gehende“ Vision einer gerechteren Gesellschaft vertritt- nicht zuletzt durch die begriffliche Gleichsetzung mit Ideen und Handlungsweisen von islamistisch oder neonazistisch motivierten TerroristInnen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass der Deradikalisierungsansatz in erster Linie von Institutionen der „Inneren Sicherheit“ vorangetrieben, durch staatsnahe Wissenschaftler_innen theoretisch untermauert und von herrschaftsunkritischen, staatlich geförderten, zivilgesellschaftlichen Initiativen aufgegriffen und umgesetzt wird.

Extremismusexperten quod erat   demonstrandum

Das „Violence Prevention Network“ (VPN) ist eine solche Initiative, die seit Jahren das Vertrauen der Berliner Sicherheitsbehörden genießt.  Vertrauen von höchster Ebene wird auch Peter Steger entgegengebracht,3 der das Dera­dikalisierungsprojekt als Berater begleitet. Steger hat langjährige Erfahrungen mit „radi­kalisierten“ Jugendlichen in Berlin gesammelt. Im Bezirk Lichtenberg eröffnete er 1991 den „SportJugendClub 276“, in dem er jahrelang den sozialpädagogischen Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit mit Neonazis und rechten Hooligans aus Ost-Berlin verfolgte. Neben politischen Diskussionsrunden zu Themen wie „Deutsche Geschichte und ihre Helden“, Exkursionen zum Raketengelände Peenemünde oder zum ehe­maligen Konzentrationslager Buchenwald — hier erschienen seine Neonazis in Uniform und Springerstiefeln4 — bot Steger seinen Schützlingen auch die eigenverantwortliche Nutzung von Freizeit-, Fitness- und Sporträumen. Den Vorwurf, Neonazis hätten Kampfsporttrainings und paramilitärische Übungen in einer vom SportJugendClub genutzten Turnhalle abgehalten, konnte Steger nie glaubhaft ausräumen. Berliner Antifagruppen wiesen mehrmals darauf hin, dass nicht nur „rechtsorientierte“ Jugendliche, sondern ideo­logisch gefestigte Neonazis beispielsweise aus den Strukturen der „Kameradschaft Tor“, der „Berliner Alternative Süd-Ost“ (BASO) sowie deren Nachfolgestruktur der „Freien Kräfte Berlin“ in einer Sporthalle des Jugendclubs ein- und ausgingen. Einige Dauergäste des SportJugendClubs waren wiederholt an Angriffen gegen MigrantInnen, Linke und zivilgesellschaftlich Engagierte beteiligt. Die Neonazis nutzten den Club auch als Kulisse für ein Foto, auf dem sie mit einem Transparent zu einem ihrer Aufmärsche mobilisierten. Stegers Versuche, in Diskussionen „auf die Unlogik vieler ihrer Argumente und politischen Ansichten hinzuweisen“5  scheinen wenig geholfen zu haben — noch heute spielen einige der von ihm begleiteten Jugendlichen eine aktive Rolle in der Berliner Neonaziszene. Das kann kaum überraschen, galt der Ansatz akzeptierender Jugendarbeit im Umgang mit Neonazis doch bereits Mitte der 1990er Jahre als gescheitert.

Pädagogische Unterstützung erhält Steger von Alexander Brammann (Spitzname: „Neffe“). Brammann wurde als Mitglied der neonazistischen Band „Deutsch, Stolz, Treue“ (D.S.T. bzw. X.x.X.) bekannt, für die er nach eigenen Angaben die meisten Texte schrieb. D.S.T. war 1994 gegründet worden und als Teil des Hammerskins-Netzwerks jahrelang nicht nur in der recht kleinen Rechtsrock-Szene Berlins etabliert, sondern regelmäßig auf Neonazikonzerten im In- und Ausland anzutreffen. Sämtliche Veröffentlichungen von D.S.T. sind geprägt von aggressiv rassistischen, den nationalsozialistischen Völkermord leugnenden und vor allem antisemitischen Inhalten. Die CD-Cover der Band waren stets mit Hakenkreuzen und Sig-Runen versehen. Ermittlungen gegen die Band führten zu mehreren Hausdurchsuchungen, bei denen bei Brammann CDs und T-Shirts von D.S.T., eine Hakenkreuzfahne, Aufkleber mit Hakenkreuzen und Bilder von NS-Größen gefunden wurden. 2009 verurteilte ihn das Landgericht Berlin wegen Volksverhetzung, Verbreitens von Propaganda und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu zehn Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Zwei Jahre später erfolgte eine Bewährungsstrafe im Zusammenhang mit D.S.T. in Höhe von einem Jahr und drei Monaten.6 Infolge der Verurteilung verlor Brammann nicht nur seine Beamtenstelle beim Berliner Bezirksamt Mitte, er zog sich auch aus den Aktivitäten der noch heute existierenden Band und schließlich vollständig aus der Neonaziszene zurück. 2012 bewarb er sich auf eine Verwaltungsstelle bei VPN und wurde dann, vermutlich auf Grund seiner Biographie, als Coach für die Arbeit mit inhaftierten Neonazis angestellt. Laut Selbstauskunft liegen seine jetzigen Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Gewalt- und Extremismusprävention sowie allgemein im Feld der Deradikalisierung.7 Brammanns Rückzug aus der Neonazi-Szene verlief langfristig und war offensichtlich zum Zeitpunkt seiner Anstellung beim VPN im Jahr 2013 noch nicht abgeschlossen.8

Über die unterstützende Rolle des Verfassungsschutzes und der Polizei im Projekt des VPN kann nur spekuliert werden. Angekündigt wird, dass beide in die Arbeit des VPN eingebunden werden und alle Beratungsfälle zwischen den Akteuren abgestimmt werden. Interessant zu erfahren wäre, wie genau der Informationsfluß zwischen dem zivilgesellschaftlichen Verein, der Geheimdienstbehörde und der Polizei verläuft. Liefert der VS eine direkte „Expertise“ zum Phänomen des „Jihad-Salafismus“ und greift so in die inhaltliche Ausgestaltung sozialer Arbeit ein? Oder hilft der VS dem Verein beim Erreichen der Zielgruppe durch Übermittlung von Kontaktdaten, übermittelt gar Personen direkt zum VPN? Oder ist es so, dass der Verein sicherheitsrelevante Erkenn­t­nisse oder gar persönliche Informationen, die er aus der Arbeit mit der Zielgruppe erlangt hat, an die Sicherheitsbehörde weiterleitet? Egal wie, Geheimdienstbehörden haben weder in der Jugend­sozialarbeit noch in der politischen Bildungsarbeit etwas zu suchen und sollten als undemokratische und intransparente Institutionen stets als Kooperationspartner abgelehnt werden. Aus fachlicher Sicht ist außerdem äußerst fraglich, wie eine zivilgesellschaftliche Organisation ein Vertrauensverhältnis mit ihren KlientInnen aufbauen will, wenn sie gleichzeitig als eine Art Vorfeldorganisation der Sicherheitsbehörden fungiert. So zumindest kann Innensenator Henkels Äußerung interpretiert werden wenn er verkündet, dass man sich „ganz bewusst für eine Kooperation mit einem zivilgesellschaftlichen Träger entschieden habe, um den Betroffenen und deren Umfeld den Zugang zum Angebot zu erleichtern und mögliche Hemmschwellen zu senken.“

Pädagogische Arbeit mit der Zielgruppe — Eine Frage der Expertise!

Zugegeben: Religiösem Fanatismus und reli­giös-politisch motivierter Menschenfeindlichkeit muss im Bereich der Jugendsozialarbeit begegnet werden. Dafür braucht es menschenrechtsorientierte päda­gogische und bildungspolitische Konzepte, an denen es noch immer akut mangelt. Es braucht eine kritische Auseinandersetzung mit Salafis­mus und seiner Anziehungskraft auf Jugendliche. Und sicherlich: Die Ansätze der Demobilisierung und der Entideologisierung im Bereich der Ausstiegsarbeit und der Arbeit mit Strafgefangenen haben ihre Berechtigung. Allerdings nur, wenn dafür adäquat ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung stehen, ein geeigneter Rahmen in entsprechend ausgestatteten Einrichtungen vorhanden ist und nicht zuletzt eine langfristig gestaltete Beziehungsarbeit möglich ist. Es ist jedoch ein Spiel mit dem Feuer, den gescheiterten Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit zur „Deradikalisierung“ und Entideologisierung von Neonazis nun auf die Jugendarbeit mit salafistischen Jugendlichen zu übertragen und dabei auf Personen wie Steger und Brammann zu setzen, deren Fachexpertise angezweifelt werden kann. Hinweise auf bisherige Erfahrungen mit der Zielgruppe gibt es offensichtlich keine - öffentlich einsehbare Konzeptionen des Projekts ebenfalls nicht. Vielmehr macht es den Anschein, als ob hier wieder einmal die Extremismusklausel in Reinform zur Geltung kommt. Ihrer Logik folgend, gleichen sich Neonazis und Salafisten hinsichtlich der Kriterien „radikal“ beziehungsweise „extremistisch“ und „gewaltbereit“. Beide Gruppen werden, wenn auch in unterschiedlichem Maße, vordergründig auf Grund ihrer Gewaltbereitschaft als Gefahr für die „Innere Sicherheit“ betrachtet. Die Ursachen und Gründe, die individuellen Motivationen und Rahmenbedingungen einer religiös-politischen „Radikalisierung“ bleiben bei einer solchen Herangehensweise fachlich völlig unberücksichtigt. Spezifisches Wissen über die vielfältigen Strömungen im Islam, über die spezifischen Kulturen und Diskurse in der muslimischen Einwanderungsgesellschaft, Verständnis für die spezifischen, rassistischen Exklusionserfahrungen junger Muslime in Deutschland, besondere Sprachkenntnisse, Kontakt zu den Communities oder eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den Motivationen junger Deutscher zu konvertieren, scheinen keine besonderen Einstellungskriterien für das VPN im Rahmen seines Deradikalisierungsprogramms zu sein. Vor allem dann nicht, wenn potentielle Angestellte auf Erfahrungen mit „gewaltbereiten Extremisten“ verweisen können, erst kürzlich selbst eine Deradikalisierung erfahren haben oder besonders viel Ignoranz mitbringen.

Die verheerenden Auswirkungen der akzeptierenden Jugendarbeit mit Neonazis, die vor allem alle (potentiell) von neonazistischer Gewalt betroffenen Menschen nachhaltig zu spüren bekommen haben, mahnen dazu, nicht allzu leichtfertig und naiv im Bereich der Jugendsozialarbeit zu experimentieren. Mit Projekten wie dem des VPN wird niemandem geholfen, außer den Projektangestellten durch regelmäßige Lohnüberweisungen und dem VS für eine „gute“ Außendarstellung. Wäre es da nicht viel sinnvoller, die vorhandenen Mittel den Beratungsstellen und Hilfsprojekten für Betroffene und Opfer gruppenbezogener Gewalt, Vertreibung und Folter zur Verfügung zu stellen? Die kämpfen nämlich nicht nur für das Überleben ihrer KlientInnen sondern viel zu oft auch um ihr eigenes, nicht nur in Deutschland.

  • 1Senatsverwaltung Inneres und Sport, Pressemitteilung vom 18.03.2015
  • 2Susanne Feustel: Von der „Glatzenpflege auf Staatskosten“ zur Deradikalisierung als Konzept? In: Kulturbüro Sachsen e.V. - Politische Jugendarbeit vom Kopf auf die Füße. Zum anwaltschaftlichen Arbeiten mit menschenrechtsorientierten Jugendlichen im ländlichen Raum. 2014
  • 3Antwort auf Kleine Anfrage vom 07.04.2009, Berliner Angeordnetenhaus Drucksache 16 / 13 289
  • 4„Der Tagesspiegel“ vom 02.03.2008: Mit Fußball gegen Gewalt und Rechtsradikalismus
  • 5Peter Herrmann: Glatzenpflege Nr. auf Staatskosten, http://www.sport-fuer-berlin.de/html/sjc_lichtenberg.html
  • 6Antifaschistisches Infoblatt 93/4.2001, 61/3.2003, 82/1.2009, 83/2.2009
  • 7www.coach-brammann.de
  • 8Interview mit Brammann: https://krautreporter.de/372--haha-schrei-nach-liebe