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Fall Showan: Neonazis in Malmö vor Gericht

Andreas Rasmussen
Einleitung

Im Frühjahr 2014 ereignete sich im schwedischen Malmö ein Angriff von Neonazis, der für die betroffenen Antifaschist_innen schwere Folgen haben sollte1 . Aufgrund der massiven Brutalität und dem Einsatz von Messern sorgte der Überfall für Aufsehen im In- und Ausland. Jetzt standen zwei der beteiligten Neonazis vor Gericht. Der Prozess endete mit einem Freispruch und einer Verurteilung zu drei Jahren Haft wegen schwerer Körperverletzung. Vom versuchten Mord wurden die Angeklagten freigesprochen.

Bild: Screenshot der Homepage realisten.se

Der schwedische Neonazi Andreas Carlsson posierte in Kiew.

Am 8. März 2014 findet im schwedischen Malmö die feministische „Holt euch die Nacht zurück“ Demonstration statt. Auf ihrem Weg durchs abendliche Malmö passiert die Demonstration die Kneipe "Sir Tobys", in der zu diesem Zeitpunkt fünf bekannte Neonazis sitzen und einen MMA- Kampf auf Großbildleinwand verfolgen. Obwohl vom Lautsprecherwagen laute Musik gespielt wird, behaupten diese später, nichts von dem Umzug mitbekommen zu haben. Gegen Mitternacht schließt „Sir Tobys“ und die Neonazis machen sich auf den Weg nach Möllewangen, einem Viertel in Malmö, das für seine linke Infrastruktur und den hohen Anteil an Bewohner_innen mit Migrationshintergrund bekannt ist. Es ist kein Viertel, in dem sich Neonazis in der Regel aufhalten. Später stellt sich heraus, dass mindestens einer der Neonazis mit einem Messer bewaffnet ist.

Lebensgefährliche Verletzungen

Um 00:31 Uhr gibt es die erste Meldung der Polizei über eine Massenschlägerei. Zwei Polizisten auf Pferden kommen zufällig am Tatort vorbei. Eine Gruppe Neonazis hat Antifaschist_innen, die gerade von der 8. März-Demonstration kamen, angegriffen. Der Überfall ist brutal und vier linke Aktivist_innen werden mit Messern zum Teil lebensgefährlich verletzt. Einem Antifaschisten wird in die Armhöhle gestochen. Er verliert vier Liter Blut, bricht noch am Tatort zusammen und schwebt in akuter Lebensgefahr. Erst am frühen Morgen können die Ärzte Entwarnung geben. Zwei Frauen werden ebenfalls durch Messerstiche verletzt, wobei eine der beiden Stichverletzungen in Rücken, Schulter und Magen erleidet. Durch großes Glück verhindert die winterliche Kleidung, dass lebenswichtige Organe getroffen werden.

Das vierte Opfer ist Showan. Er wird in den Rücken gestochen. Viel schlimmer als die Stichverletzung ist jedoch die Kopfverletzung, die ihm beigefügt wird. Zunächst ist sich Showan nicht über die Ernsthaftigkeit seiner Kopfverletzung bewusst und er schafft es noch, sich in seine ca. 500 Meter entfernt liegende Wohnung zu schleppen. Hier finden ihn Freund_innen stark blutend und kaum noch bei Bewusstsein im Badezimmer. Der Notruf alarmiert auch die Polizei, die kurz darauf die Wohnung stürmt. Showans Freundin wird der Zugang zu ihm seitens der Polizei verweigert. Die Anwesenden in der Wohnung beschuldigen diese später, die Ankunft der Rettungsärzte verzögert zu haben. Vom Angriff bis zur Ankunft Showans im Krankenhaus vergeht eine ganze Stunde. In der Nacht wird er zweimal notoperiert. Sein Gehirn ist stark angeschwollen: Eine lebensgefährliche Situa­tion.

Die ukrainische Verbindung

Zwei der Neonazis werden noch in der Nacht festgenommen, ein dritter am darauf folgenden Tag. Der vierte Angreifer und Hauptverdächtige, Andreas Carlsson, flüch­tet in die Ukraine. Carlsson war führendes Mitglied der 2015 aufgelösten, neonazistischen „Partei der Schweden“ ("Svenskarnas Parti") und ist seit 15 Jahren ein bekannter und aktiver Neonazi. Erst wenige Wochen vor dem Überfall war Carlsson aus der Ukraine zurückgekehrt, wo er gemeinsam mit anderen schwedischen Neonazis ukrainische Neonazis besuchte, die aktiv am Krieg im Land beteiligt sind. Gerade einmal zwölf Stunden vor dem Angriff am 8. März war dies Thema in einer Radiosendung, in der sich ein Mitarbeiter vom schwedischen Verfassungsschutz (SÄPO) dahingehend äußerte, dass er bei den Rückkehrern „keine gestiegene Motivation oder Fähigkeiten sieht, ein politisches Verbrechen zu begehen“. Carlssons Flucht in die Ukraine endete im November 2015, wo er in der Stadt Lviv in der Westukraine festgenommen wurde.

Der fünfte Mann

Mehrere Zeugen des Überfalls sagten aus, dass mindestens fünf Neonazis beteiligt waren. Während es der Polizei in zwei Jahren Ermittlungszeit nicht gelungen war, diese fünfte Person zu identifizieren, brauchten Journalisten einer linken Recherchegruppe dafür nur wenige Tage. Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war öffentlich zugänglich. Auf der Liste der Personen, die ihre Kreditkarte in der Kneipe kurz vor dem Angriff benutzt hatten, fand sich auch ein bekannter Neonazi mit Verbindungen zu den Angreifern. Aus unerklärlichen Gründen wurde dieser nicht einmal verhört.
Im Juni 2016 stellte sich heraus, dass nur gegen zwei der vier beschuldigten Neonazis Anklage erhoben wird. Auch für die Messerstiche auf die Antifaschistin und den Stich in den Rücken von Showan wird niemand zur Rechenschaft gezogen werden. Andreas Carlsson wird wegen Mordversuchs an einem Antifaschisten und der schweren Körperverletzung des zweiten Antifaschisten angeklagt. Martin Clausen wird der Mordversuch an Showan vorgeworfen.

Vor Gericht

Der Prozess wurde in nur fünf Tagen verhandelt. Antifaschist_innen und Angehörige zeigten vor und im Gerichtssaal ihre Solidarität mit den Angegriffenen. Die Unterstützung für die Neonazis fiel hingegen gering aus: Drei Neonazis wurden von der Polizei in den Saal geleitet. An einem Tag versuchten sieben Neonazis vor das Gerichtsgebäude zu kommen, wurden aber von der Polizei abgefangen. Wessen Geistes Kind sie sind zeigt die Tatsache, dass ein Neonazi versuchte, mit einem Messer in den Gerichtssaal zu gelangen und mindestens ein weiterer auch mit einem Messer bewaffnet war.

Vor Gericht sagten etliche unbeteiligte Zeugen aus. Einige sahen in den Neonazis die Angreifer, während andere meinten, die Aggression sei von den Antifaschist_innen ausgegangen. Ein Polizeitechniker erklärte, dass die Stichverletzungen dem Messer von Andreas Carlsson zugeordnet werden können. Während des Prozesses veröffentlichten die vier Antifaschist_innen eine Pressemitteilung, in der es heißt: „Wir können nicht anders als festzustellen, dass es strukturelle Fehler im Rechtssystem gibt und wir aus diesem Grund keine besondere Hoffnungen in den Prozess legen. Für uns handelt der Kampf nicht um eine bestimmte Anzahl an Jahren und Monaten, die einzelne Neonazis hinter Schloss und Riegel verbringen, sondern um das Recht, sich frei auf unseren Straßen zu bewegen. Und hier haben wir alle zusammen gewonnen. Wir sehen uns nicht als Opfer.“

Am 22. Juli 2016, dem 5. Jahrestag von Breiviks Terrorangriff in Norwegen, fällt das Urteil. Während Carlsson wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wird, wird er gleichzeitig vom Mordversuch freigesprochen. Der Richter sah die Tötungsabsicht von Carlsson als nicht erwiesen an. Clausen, der beschuldigt war, Showans Schädel an einen Kantstein geschmettert zu haben, wird freigesprochen, obwohl eine unabhängige Zeugin aus ihrem Fenster die Tat beobachtet hatte und an Clausens Jacke Showans Blutspuren gefunden wurden. Dieser skandalöse Freispruch wurde damit begründet, dass es nicht erwiesen sei, dass Showan sich seine Verletzungen bei genau diesem Angriff zugezogen hat. Im Endeffekt bringt das Urteil gute wie schlechte Dinge mit sich. Showan wird durch den Freispruch von Clausen keinen Anspruch auf die circa 70.000 Euro Schadensersatz für seine lebenslangen Verletzungen haben. Politisch gesehen muss hingegen schon als Erfolg gewertet werden, dass das Gericht die behauptete Selbstverteidigung der Neonazis als nicht glaubhaft zurückgewiesen hat.

Aktueller Nachtrag

Das Landgericht stellt jedoch nach dem Erscheinen des AIB Nr. 112 die vorigen Urteil auf den Kopf. Die Urteile des ersten Prozess gegen die Neonazis, die Showan und drei andere Genoss_innen vor zwei Jahren angriffen und z.T. lebensgefährlich verletzten, wurden vom Landgericht kassiert und völlig anders bewertet.

Das Landgericht hat hierbei in fast allen Punkten anders entschieden. Carlsson kommt mit einem Freispruch davon während Clausen jetzt drei Jahre Haft für schwere Körperverletzung bekam. Da er es war der Showan ins Koma geprügelt hat, wird Clausen vom Landgericht zur Zahlung von 400.000 Kronen (ca 4.000 Euro) an Showan verurteilt. Beim ersten Prozess gab es keine Verurteilung zu Schadensersatz. Das Landgericht glaubt der Version der Neonazis von einem Angriff und erkennt deren Selbstverteidigung an.

Der Autor Andreas Rasmussen ist Mitglied beim dänischen Recherchekollektiv Redox. Im Herbst kommt ein Buch von ihm heraus, das sich Showan, dem Überfall und insbesondere Showans Leben nach dem Angriff widmet.