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Faschistische Hobbit-Camps in Italien

John Last
Einleitung

Für tausende italienische Fantasyfans waren die Hobbits in den 1970ern das Symbol einer radikalen Bewegung für die Rückkehr des Faschismus und seinen Wiederaufstieg zu altem Glanz. In „Hobbit-Camps“ diskutierte die italienische extreme Rechte über Tolkien und den „Totalitarismus“. Bilbo Beutlin entspricht wirklich nicht dem Ideal des arischen Herrenmenschen. Es ist schwer, sich den pelzigen, gefräßigen kleinen Helden wider Willen dabei vorzustellen, wie er im Stechschritt durch Beutelsend marschiert oder Massenaufmärsche in Auenland organisiert. Tolkiens misanthropische Halblinge eignen sich kaum zu faschistischem Heldenkult. Die Geschichte ihres Aufstiegs zur Ikone der italienischen extremen Rechten ist so umständlich, dass man nicht umhin kommt, etwas weiter auszuholen.

Das „Campo Hobbit“ in den 1970er Jahren. Auf dem Transparent heißt es: „Die europäische Jugend kämpft gegen die kommunistische Subversion und die kapitalistische Sklaverei.“

In der Zeit vor der Erstveröffentlichung von J.R.R. Tolkiens „Der Hobbit“ im Jahr 1937 war Italien ein großes Labor neuer und experimenteller Gedanken. Futuristen komponierten Musik, die komplett aus Motorengeräuschen bestand, der Kommunist Antonio Gramsci entwickelte in seiner Gefängniszelle das Konzept der kulturellen Hegemonie und Theosophisten suchten nach Beweisen für eine ursprüngliche „Wurzelrasse“. Aus dieser Gemengelage trat Julius Evola hervor, einer der historisch einflussreichsten Philosophen der faschistischen Ideologie. Er bediente sich bei der fernöstlichen Philosophie und der westlichen Überlieferung und beschrieb in seinem Hauptwerk „Revolte gegen die moderne Welt“ die Geschichte der europäischen Zivilisation als eine Geschichte des unaufhaltsamen Abstiegs. Als Ursache dieses Abstiegs identifizierte er paradoxerweise den Fortschritt — einen Fortschritt weg von mythischen Traditionen und ewiger Weisheit und hin zu Industrialisierung und „kultureller Rassenmischung“. Als Lösung sah Evola ein radikales Programm zur Wiederauferstehung der Mythen „traditioneller“ Gesellschaften durch Kunst, Religion und — zunächst — Politik.

Anfangs sah Evola den Faschisten Benito Mussolini als große Hoffnung für die Wiedergeburt der „traditionellen“ Gesellschaft, er schrieb dem Diktator gar eine Doktrin des „spirituellen Rassismus“, die die „Rassen“ der Welt nach ihrer Nähe zur „ewigen“ Tradition einordnete. Im Zuge des 2. Weltkriegs jedoch fiel Mussolini schließlich durch Evolas ideologischen Reinheitstest. Italien verbündete sich mit dem „wissenschaftlichen“ Rassismus der Nationalsozialisten und ihrer Rhetorik des Fortschritts. Der moderne Faschismus erschien auf einmal selbst als eine Spielart des Evola’schen Antichrist. Aus dem zeitgenössischen Kanon herausgedrängt, geriet Evola in Vergessenheit. Einige Elemente seiner Philosophie hielten sich jedoch an den frevlerischen Rändern des Mainstreams. Wie Tolkiens Ring schlummerten sie und warteten auf ihre Wiederentdeckung.

Während Evola über einen radikalen Bruch mit der Moderne theoretisierte, lebte J.R.R. Tolkien diesen. 1937 veröffentlichte er den „Kleinen Hobbit“, fast 20 Jahre später folgte „Der Herr der Ringe“. Seitdem haben viele Kritiker versucht, die Romane als Gleichnisse realer zeitgenössischer Ereignisse zu entschlüsseln. Wegen ihres Essentialismus und ihrer absoluten Gut-Böse-­Moral wurde Tolkien oft des Kryptofaschis­mus beschuldigt. Kritiker lasen Bilbos grimmige Liebe zum bäuerlichen Leben in Auenland als Zeichen eines bourgeouisen, elitären Weltbilds. Einige gingen sogar so weit, Mordors Horden mit ihrer unzählbaren Masse und ihrem Cockney-Akzent als Symbol für die verarmte Arbeiterschaft und die Bedrohung durch einen proletarischen Aufstand zu deuten. Andere sahen in der beiläufigen Art des Massenmords der Helden an den Orks einen Hinweis auf ihre unterdrückte genozidale Neigung.

Tolkien bestätigte diese kritischen Stimmen nie, indem er Anleihen an reale Ereignisse zugegeben hätte. Jedoch hatte sein Projekt der Wiederbelebung und Neuinterpretation der altertümlichen Überlieferung Englands viel mit Julius Evola gemein. Tolkiens und Evolas Wege kreuzten sich tatsächlich nie. Sogar in der Nachkriegszeit, als beide eine ablehnende Haltung zum amerikanischen Kulturimperialismus teilten, wurde Tolkiens Werk in der englischsprachigen Welt nie mit dem Evola’schen Traditionalismus in Verbindung gebracht.

Als aber „Der Herr der Ringe“ 1971 erst­mals auf italienisch erschien, kam die schlummernde Ideologie seiner beherzten Helden an die Oberfläche. Die Veröffentlichung hatte einen enormen Einfluss auf die italienische Kulturszene. In den frühen 1970er Jahren befand sich Italien mitten in einem kulturellen Aufruhr, der ähnlich heftig anmutete wie die gesellschaftliche Unruhe, die Evola in der Folgezeit des 1. Weltkriegs wahrgenommen hatte. Quer durch Westeuropa begann die neue Bewegung der "Nouvelle Droite" („Neue Rechte“), die seit dem Ende des 2. Weltkriegs herrschende kulturelle Dominanz der Linken anzugreifen. Man orientierte sich am Faschismus der Großväter, wenn nicht sogar der Urgroßväter. Man betete heidnische Götter an und sehnte sich nach einfacheren Zeiten der kulturellen Homogenität und des Ethnozentrismus.
Diese Bewegung war in Italien sehr erfolgreich, wo Evolas Bücher bereits den ideologischen Boden bestellt hatten. Für Italiens desillusionierte Jugend schienen Tolkiens Bücher den edlen Kampf der traditionellen Gesellschaften gegen die eindringende Bedrohung der Industrialisierung, der fortschrittlichen Politik und des Gruppendenkens zu bekräftigen.

Tolkien wurde zur Pflichtlektüre der ernstzunehmenden jungen Neofaschisten. Doch selbst mit Sam und Frodo als Identifikationsfiguren fühlten viele Anhänger dieser Strömung sich isoliert und ohnmächtig gegenüber der kulturell hegemonialen Linken.

1977 wollten die neofaschistische Partei "Movimento Sociale Italiano" (MSI) und die neurechte Jugendbewegung das ändern. Ihnen schwebte ein faschistisches Woodstock vor, eine Art zweitägiges Pfadfinderlager zu Ehren von Tolkiens Werk. Sie nannten es „Camp Hobbit“. In drückender Julihitze fand es in den sanft geschwungenen Hügeln Süditaliens statt und war zu gleichen Teilen Musikfestival, Tolkien-Seminar und anarchische Kommune. „Eine Bühne voll mit Instrumenten und Verstärkern, eine kunterbunte Zeltstadt, Marktstände mit Plakaten, Schmuck, Büchern und T-Shirts“, berichtete ein Teilnehmer. Man muss es sich wohl als Mischung aus "Occupy Wall Street" und einem alternativen Musikfestival vorstellen, aber der Geist des Faschismus war nie fern. „Rund ein Dutzend muskulöser Jungs sorgten für Ordnung, klar erkennbar durch Armbänder mit dem Keltenkreuz“, schrieb der Chronist und fügte hinzu: „Die Menge ist sehr unterschiedlich, sie wird natürlich dominiert von Faschistenfrisuren, Militärklamotten und schwarzen Halstüchern, aber auch lange Haare und Bärte sind zu sehen.“ „[Es war] Freiheit, Befreiung von alten Mustern und Denkweisen“, sagt Mario Bartoluzzi, Sänger der traditionalistischen Band "Compagnia dell’Anello" (“Die Kameradschaft des Rings”), die auf dem Camp Hobbit gegründet wurde. „In uns allen war der Wunsch, das Ghetto der Ausgrenzung zu verlassen.

Viele TeilnehmerInnen sahen es als ihre Aufgabe, die Binarität der italienischen Politik zu überwinden, indem sie eher linke Sozialkritik mit der Militanz des Faschismus verbanden. Der britische Faschismustheoretiker Roger Griffin sieht im "Camp Hobbit" neben dem Festivalcharakter die Absicht, die Sprache der Hippie-Linken mittels der traditionalistischen Philosophie Evolas „umzucodieren“. Das Camp Hobbit hatte zwei erfolgreiche Fortsetzungen, die tausende TeilnehmerInnen anlockten. Die aus dem Camp entstandene Organisationsstruktur zerfiel jedoch wegen interner Machtkämpfe rasch wieder. Mitte der 1980er Jahre erschien die „Neue Rechte“ wieder marginal und wurde vor allem mit dem antikommunistischen Terrorismus in Verbindung gebracht. Obwohl sie Momente der Stärke und Wirkmächtigkeit erlebt hatte, schaffte sie es nicht, die kulturelle Dominanz über ihre Gegner der progressiven Linken zu erlangen.

In den letzten Jahren allerdings erlebte die Bewegung einen Wiederaufschwung. Im Juli 2017 organisierten italienische extreme Rechte ein „Campo Hobbit 40“ als Versuch, zum vierzigsten Jahrestag den alten Geist zu neuem Leben zu erwecken. Auch Evola erfreut sich erneuter Beliebtheit unter den AnhängerInnen der US-amerikanischen "Alt-Right"-Bewegung. Was Tolkien und die politische Bedeutung seiner Werke betrifft, fischen wir nach wie vor im Trüben. Trotz seines Reichtums an Helden und Schurken bleibt Mittelerde doch vor allem eine leere Bühne, die sich allen möglichen Ideologien als Projektionsfläche anbietet.

(Dieser Artikel erschien zuerst im Oktober 2017 auf atlasobscura.com. Für die deutsche Übersetzung wurde er leicht gekürzt. Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.)