Griechenland: Nach der Morgendämmerung kommt die dunkle Realität
Katja Lihtenvalner„Für die Orthodoxie und Griechenland ist jedes Opfer wert“, rief das verurteilte ehemalige Mitglied der Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avgi, Χρυσή Αυγή) Ioannis Lagos, als er Mitte Mai 2021 von Brüssel nach Athen ausgeliefert wurde. Nach einem Marathonprozess hatte ein Athener Gericht im Oktober 2020 entschieden, dass die extrem rechte Partei eine kriminelle Organisation ist (vgl. AIB Nr. 129). Fast sechs Jahre lang standen deren Führung, Mitglieder und einige Unterstützer wegen Mordes, versuchten Mordes, gewalttätiger Angriffe, Brandstiftung, Waffenbesitzes und Führung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor Gericht. Die meisten der 69 Angeklagten wurden für schuldig befunden, aber die gegen sie verhängten Strafen waren so gering wie möglich. Griechische Medien bezeichneten das Ende des Prozesses als „das Ende der Goldenen Morgenröte“. Aber ist es das wirklich?
Mitglied des EU-Parlaments verhaftet
Seit seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe von 13 Jahren und 8 Monaten im Oktober 2020 hielt sich Lagos in der belgischen Hauptstadt versteckt. 2018 war er mit der „Goldenen Morgenröte“ in das Europaparlament gewählt worden. Im April diesen Jahres wurde schließlich seine Immunität aufgehoben und er konnte in Brüssel festgenommen werden. „Ich muss 23 Stunden in einer Zelle von 2,20m x 3,20m mit der Toilette sitzen“, klagte Lagos über die Haftbedingungen im belgischen Gefängnis und fügte hinzu: „95% der Insassen sind Araber. Ich höre sie jeden Tag „Allāhu ʾakbar!“ schreien.“
Das hochrangige Parteimitglied, das eines der tödlichsten Killerkommandos innerhalb der Organisation leitete1 , wurde in Begleitung der Polizei aus Brüssel überstellt und gemeinsam mit der restlichen Führung der „Goldenen Morgenröte“ im Gefängnis Domokou in Zentralgriechenland untergebracht. Dennoch nimmt Lagos weiterhin an den Sitzungen des Europaparlaments teil und genießt die Vorteile, vom Gefängnis aus Abgeordneter des Europaparlaments zu sein - einschließlich eines hohen Gehalts von über 6.000 Euro im Monat.
Positive Berufungsentscheidungen
Zwei Mitglieder der „Goldenen Morgenröte“ befinden sich inzwischen wieder auf freiem Fuß. Nikos Papavasiliou wurde im Februar freigelassen, nachdem er weniger als vier Monate im Gefängnis verbracht hatte. Er war wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Bereits 2013 war Papavasiliou wegen Brandstiftung an einem Geschäft afrikanischer Einwanderer im Zentrum Athens verurteilt worden. Die jüngste Entscheidung wurde von einem fünfköpfigen Berufungsgericht in Athen getroffen, der Staatsanwalt hatte sich dagegen ausgesprochen. Der gewalttätige Straßengangster muss sich fortan einmal im Monat auf der Polizeiwache melden und darf das Land nicht verlassen.
Nur drei Monate später entschied dasselbe Berufungsgericht den Fall des Hooligans Giorgos Tsakanikas positiv. Auch Tsakanikas war wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Er war ein äußerst aktives Mitglied der tödlichen Gruppe im Athener Vorort Nikaia, die von Lagos geleitet wurde. Innerhalb der „Goldenen Morgenröte“ hatte Tsakanikas eine „ideologische und erzieherische“ Rolle. Während des Prozesses tauchte sein Name häufig auf, da Fotos ihn beim Kampfsportunterricht für andere Mitglieder zeigen. Während des Prozesses wurde ein Telefongespräch zwischen ihm und Lagos veröffentlicht, in dem dieser ihn ermutigte, gefälschte Profile auf Facebook zu erstellen, um politische Gegner_innen zu bedrohen: „Schreib ihnen: ‚Von nun an wird jeder, der uns stört, im Austausch vier Tote haben. Sie werden Tote haben, die ihnen schreiben!‘“, befahl Lagos. Tsakanikas lacht darauf und stimmt dem Vorgehen zu. Auch er wurde beschuldigt, an einigen gewalttätigen Angriffen gegen Migrant_innen beteiligt gewesen zu sein.
Hasserfüllte Online-Kampagne
Ilias Kasidiaris (Ηλίας Κασιδιάρης), ehemaliger Sprecher der Partei und beliebtes Aushängeschild der Mainstream-Medien, ist in sozialen Medien weiterhin sehr präsent. Nach einem Streit mit Michaloliakos hatte Kasidiaris im vergangenen Jahr die neue Partei „Griechen für das Vaterland“ (Ellines gia tin Patrida, Έλληνες για την Πατρίδα) gegründet. Bei einer Versammlungen im Mai 2021 sieht man Kasidiaris‘ Anhänger mit griechischen Fahnen in der Hand. „Freiheit für Ilias Kasidiaris! Auch wenn er physisch nicht bei uns ist, sein Geist und seine Seele sind es“, versicherte der Redner dem Publikum. Weniger als einhundert Unterstützer, hauptsächlich Männer, hatten sich in Athen versammelt, um den ersten Jahrestag der Gründung der Partei von Kasidiaris zu feiern. Aufmerksam lauschten sie seiner Stimme, als dieser aus dem Gefängnis heraus Worte an sie richtete. Die Bewunderung für den 40-jährigen Neonazi, der auf seiner linken Hand ein Hakenkreuz-Tattoo trägt, ist ungebrochen. Eine besonders starke Anziehungskraft übt er auf junge Wähler aus. „Wir bauen eine starke und stabile politische Partei auf, und wir werden ins Parlament zurückkehren“, verspricht Kasidiaris und bezeichnet seine Inhaftierung als „illegal“.
Die Frage stellt sich, warum Kasidiaris seine politischen Aktivitäten auch aus dem Hochsicherheitsgefängnis heraus weiter betreiben kann. Unterstützung erhält er von Influencern wie Terry Hatziieremias, der Kasidirias kürzlich in einer Sendung als fortschrittlichen Politiker und „den einzigen Wahrheitsverkünder“ präsentierte. Mit einem Gemisch aus Verschwörungserzählungen, scharfen Angriffen auf die politischen Eliten und einer aggressiven Anti-Einwanderungs-Rhetorik wendet sich Kasidiaris dem Populismus zu und verschwendet keine Zeit, dabei aus dem Gefängnis heraus Unterstützung zu mobilisieren.
„Goldene Morgenröte“ weiterhin aktiv
Auch andere ehemalige Mitglieder und Unterstützer der „Goldenen Morgenröte“ sind weiterhin aktiv. Am 21. Mai 2021 versammelten sich deren Anhänger auf den Straßen von Athen und Thessaloniki. Die politisch extrem rechten Ambitionen von Michaloliakos werden nun von seiner Tochter Ourania Michaloliakos weitergeführt. Sie ist weiterhin Mitglied des Stadtrats von Athen.
Der Opferverteidiger Kostas Papadakis beschreibt die Aktivitäten der „Goldenen Morgenröte“ wie folgt: „Die Büros der kriminellen Organisation ‚Goldene Morgenröte‘ sind immer noch geöffnet und ihr Schild hängt provokativ. Ihre Webseite ist immer noch aktiv und die Tochter ihres inhaftierten Anführers hält ungehindert Kundgebungen ab, bei denen sie die Reden ihres Vaters abspielt“. Die griechische Justiz hat keine rechtlichen Möglichkeiten, um die Versammlungen, die Unterhaltung der Büros und die Online-Präsenz zu verbieten. So können die Mitglieder der Partei ihre hasserfüllte politische Propaganda ungestört fortsetzen.
Acht Monate nach dem Prozess zeigt die regierende rechtskonservative „Nea Dimokratia“ nun Ambitionen, die politischen Aktivitäten der Mitglieder der „Goldenen Morgenröte“ einzuschränken. Ende Mai legte Innenminister Makis Voridis dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der denjenigen, die wegen krimineller Handlungen verurteilt wurden, die Bürgerrechte entziehen soll. Ein Verbot der Teilnahme am politischen Leben bei den nächsten Wahlen, wie auch des Wahlrechts für Verurteilte, ist vorgesehen.
Die 60-jährige Nummer zwei der Partei, Christos Pappas (Χρήστος Παππάς), wegen der Führung einer kriminellen Vereinigung zu 13 Jahren Haft verurteilt, befand sich seit Oktober 2020 auf der Flucht. „Ich werde mich niemals stellen“, sagte Pappas in einem Interview für die extrem rechte Tageszeitung „Makeleio“, das Ende Mai 2021 veröffentlicht wurde. Er wurde schließlich am 1. Juli 2021 in Athen festgenommen. Es gibt keine Berichte, die darauf hindeuten, dass die Polizei untersuchen würde, wie der Journalist ein Interview mit dem Verurteilten auf der Flucht führen konnte. Es gab lediglich einige Hinweise darauf, dass sich Pappas möglicherweise in abgelegenen griechischen Klöstern oder gar in Serbien versteckt hielt, wo er angeblich freundschaftliche Beziehungen zu Vojislav Šešelj, einem verurteilten bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher, unterhalten solle.
Berichten zufolge hat die Führung der „Goldenen Morgenröte“ früh damit begonnen, im Gefängnis zu arbeiten: Anführer Michaloliakos arbeitet in der Gefängnisbibliothek, Kasidiaris assistiert dem Pflegepersonal, während andere in der Küche und beim Putzen helfen. Sie nutzen offensichtlich alle Möglichkeiten, um so schnell wie möglich aus der Haft zu kommen. Wegen der extrem niedrigen Haftstrafen und ihres politischen Engagements aus dem Gefängnis heraus ist zu erwarten, dass sich die Führungsriege bald wieder auf freiem Fuß befindet und sich auf die nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2023 vorbereiten könnte.
- 1Dieser war unter anderem an der Ermordung des linken Rappers Pavlos Fyssas („KillahP“) beteiligt.