Märtyrer, Mythen, Mobilisierung
Das Opfer, dass der Märtyrer auf dem Altar seines Glaubens darbringt, ist er selbst. Nahezu jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Märtyrer, deren Geschichte sie in mythischen Erzählungen versucht, weiterzugeben. Neonazis sind da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Mit historischen Anknüpfungspunkten erzielen sie ihre größten Mobilisierungserfolge.
Eigentlich nicht weiter verwunderlich, ist der Nationalsozialismus doch trotz scheinbarer neonazistischer Modernisierungsbemühungen für sie noch immer Ideenpool und historisches Vorbild. Politisches Gedenken ist jedoch noch mehr. Eine dieser Leichen im Keller neonazistischer Vergangenheitsträumereien ist der Hitlerstellvertreter Rudolf Heß. Zu Lebzeiten und bis ins hohe Alter als Relikt des Nationalsozialismus aufbewahrt im Militärgefängnis Berlin-Spandau, versuchen Neonazis seit seinem Tod vor ziemlich genau zwanzig Jahren seiner jedes Jahr aufs Neue öffentlich zu gedenken. Und seit zwanzig Jahren bewegt sich dieses Gedenken im beständigen Spannungsfeld von politischem Willen und juristischen Einschränkungen – nicht zuletzt aufgrund antifaschistischer Proteste. Aber warum eignet sich ausgerechnet dieser Bruchpilot, der Hitler 1941 den Rücken zukehrte, um – zumindest nach seiner Sicht – Nazideutschland zu retten, offensichtlich so gut als Symbolfigur, als dass er immer wieder in Liedern besungen, auf Mousepads oder T-Shirts gedruckt wird und ganze Busladungen mit jungen und alten Nazis füllt, um nach Wunsiedel zum Ort seines Grabes zu pilgern?
Um Heß ranken sich verschiedene Erzählungen, die sich in einen Mythos verschränken, der nicht nur überaus anschlussfähig, sondern zudem voller Mystik, Phantastiken und Verschwörungen ist – eine Heldengeschichte par exellence. Als einsamer Held flog er nach »England um den Frieden zu retten« und fiel dort den ›britischen Kriegstreibern‹ in die Hände. Um ihr blutrünstiges Treiben zu verschleiern, sperrten sie Heß für den Rest seines Lebens ein und die »Wahrheit« um die eigentliche Kriegsschuld gleich mit ihm. Um diese »Wahrheit« schließlich ganz zu begraben, brachten sie ihn am Ende auch noch hinterhältig um. Aus diesem mythologischen Kern speisen sich alle weiteren Erzählstränge. »Die Wahrheit liegt unter Verschluss«, heißt es immer wieder auf Transparenten oder in neonazistischen Publikationen. Diese vermeintliche »Wahrheit« meint dabei nichts anderes, als dass Hitler den Krieg nicht gewollt habe, sondern sich vielmehr habe wehren müssen und dass die Alliierten inklusive dem durch sie eingesetzten »BRD-Lügensystem« seitdem bemüht seien, ein Zerrbild des Nationalsozialismus zu verbreiten.
Für die Untermauerung dieser, angesichts des industriellen Massenmords mehr als haarsträubenden, Argumentation eignet sich Heß in besonderer Art und Weise. Der Mythos um seine Person verweist nicht nur direkt auf das Kriegsende und die deutsche Nachkriegsordnung. Durch seine Verhaftung 1941 steht er aus neonazistischer Sicht für die »gute« Seite des Nationalsozialismus. Trotz durchgehend antisemitischer Reden und Schriften und trotz seiner Teilhabe an der Planung des Holocaust, wird er identifiziert als anständiger Nationalsozialist in Hitlers »Volksstaat«. Sein vermeintliches Opfer in Form eines Martyriums war im Verständnis der Neonazis ein Opfer für Deutschland und zwar für das »wahre Deutschland« – und das ist für sie nichts anderes als der Nationalsozialismus. So wird Heß nicht nur zum »Märtyrer des Friedens«, sondern darüber hinaus zum Märtyrer für Deutschland. Da sein Opfer bislang nicht eingelöst wurde, diese Geschichte also noch nicht zu Ende erzählt ist – und vermutlich auch niemals zu Ende erzählt werden wird – sehen es Neonazis heute als ihre Mission an, für die »Wahrheit« auf die Strasse zu gehen. Ein Blick auf die unzähligen und zumeist äußerst grotesken Mythenbearbeitungen legt nahe, dass Neonazis tatsächlich willens sind, diesen Schrott zu glauben. Aber, das darf dabei nicht übersehen werden, es funktioniert nicht nur weil sie daran glauben, sondern es ist für sie auch allein deshalb richtig, weil es funktioniert. Bei allem pathetischen Beiwerk ist der Mythos in nicht unerheblichem Maße nützlich. Er ist variantenreich, trotzdem im Kern immer gleich und kommt dadurch bei erlebnisorientierten Neonazis genauso gut an wie beim in die Jahre gekommenen Geschichtsrevisionisten.
In den letzten beiden Jahren mussten die Neonazis allerdings erhebliche Schlappen einstecken: Der Heßmarsch blieb verboten, die Wunsiedler Neonazitreffpunkte wurden geschlossen und auch die »tolle« Idee eines »Rudolf-Heß-Gedächtniszentrums« fiel vorerst ins Wasser. Anders in den Jahren 2001 bis 2004: Hier konnte sich unter leider nahezu ungestörten Bedingungen eine Art ritualisiertes Gedenken entwickeln. Neben der volksfestähnlichen Auftaktkundgebung, einer bunten Kontaktbörse für Neonazis aus verschiedenen Ländern und Regionen mit Infoständen und »Rahmenprogramm«, ist es der sich daran anschließende »Trauermarsch«, durch den das Heßgedenken für die Neonazis zum Erlebnis wurde. Das Modell »Trauermarsch« ist vornehmlich auf eine gewünschte Innenwirkung ausgelegt. Die gemeinsam inszenierte Trauer, das Insichgekehrtsein im gemeinsamen Schweigen, zielt in hohem Maße auf emotionalisierende, integrative, identitätsstiftende und stabilisierende Effekte. Diese Trauermärsche sehen immer gleich aus: Schwarze Fahnen, zeitlose Transparente und klar abgetrennte Blöcke.
Die Massen an schwarzen Fahnen dienen dabei zweierlei: Zum einen soll die »Trauer« damit verdeutlicht werden, zum andern benutzen gerade so genannte Freie Nationalisten sie aber auch zu anderen Anlässen. Sie verstehen die schwarze Fahne als Platzhalter, der verdeutlichen soll, dass sich die Gesellschaft in ihren Augen im Übergang befindet und die mitgeführte Fahne aus diesem Grund ein Provisorium darstellt. Dass dem Wunsch nach zeremonieller Ordnung nicht gerade stringent nachgekommen wird, liegt weniger an der Intention der Veranstaltungsleitung, als vielmehr an der mangelnden Disziplin der Teilnehmenden. Der Neonazi von heute hinkt in dieser Hinsicht seinen historischen Vorbildern weit hinterher. Mit dem Verbot der Heß-Märsche in den Jahren 2005 und 2006 ist die mobilisierende Wirkung des Mythos wieder rückläufig. Politisches Gedenken braucht mit ihm verwobene Orte um erfolgreich sein zu können. Ohne eine jährliche Aktualisierung an diesem Ort wird der Mythos Heß in Zukunft zwar nicht verschwinden, jedoch auf kurz oder lang wieder ein ähnliches Schattendasein führen wie bereits Ende der 1990er Jahre. Doch ohne Event schwindet auch der Bedarf an passenden Souvenirs und die Heß-Tasse verstaubt im Schrank. Das wissen Neonazis allerdings auch. Mit dem 20. Jahrestag wird sich entscheiden, ob es den Neonazis gelingt, an das erfolgreiche Gedenken der Jahre 2001 bis 2004 anzuknüpfen oder ob hier vorerst ein weiteres Kapitel in Sachen Heßmarsch zu Ende geht. Doch auch wenn die Bedeutung des Mythos in einem solchen Fall abnehmen wird, wird der Veranstaltungstyp »Trauermarsch« unabhängig vom Mythos Heß bei anderen Anlässen weiter Verwendung finden – und sollte keineswegs unwidersprochen bleiben.