Prozeß gegen Kay Diesner
In Lübeck steht der Neonaziterrorist Kay Diesner vor Gericht
Am 8. August hat der Prozeß gegen den Neonaziterroristen Kay Diesner aus Berlin begonnen. Diesner hatte am 19. Februar in Berlin-Marzahn den PDS-Buchhändler Klaus Baltruschat in seinem Büro niedergeschossen (siehe AIB Nr. 38). Der Anschlag galt nicht Baltruschat persönlich, sondern der PDS, die am 15. Februar zusammen mit zahlreichen anderen antifaschistischen Gruppen in einem Bündnis einen geplanten Aufmarsch der Jungen Nationaldemokraten (JN) in Berlin-Hellersdorf verhindert hatte.
Der Werwolf und sein Stichwortgeber
Dem Anschlag vorangegangen war eine vehemente Hetze gegen AntifaschistInnen und insbesondere die PDS durch Innensenator Jörg Schönbohm und andere Rechtsausleger der CDU. Schönbohm versuchte – nachdem er nichts gegen den Neonazi-Aufmarsch hatte unternehmen wollen - der PDS die Schuld für die Auseinandersetzungen zwischen Antifas und Anhängern der JN in die Schuhe zu schieben.
Vier Tage nach dem Attentat auf Baltruschat - Diesner hatte sich mittlerweile nach Schleswig-Holstein abgesetzt - erschoß er bei einer Kontrolle auf einem Autobahnrastplatz bei Lauenburg den Polizisten Stefan Grage und verletzte einen weiteren Beamten. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd kam es wiederholt zu Schußwechseln. Diesner gab schließlich auf. Nun steht der 25jährige, der sich als Kriegsgefangener bezeichnet, in Lübeck vor Gericht - angeklagt des Mordes und des vierfachen Mordversuches.
Spannend bleibt die Frage, ob das Gericht bereit sein wird, die Hintergründe der Tat und Diesners Einbindung in die rechte Szene aufzuklären und darüberhinaus Licht in das Dunkel der neonazistischen Terrorstrukturen zu bringen. Anzeichen und Hinweise für eine Einbindung Diesners in eine rechte Terrorstruktur, gibt es mehr als genug; daß er zum harten Kern der Berliner Neonaziszene gehörte und dort militärisch und ideologisch ausgebildet wurde, ist eine Tatsache. An die Einzelkämpferversion der Ermittlungsbehörden will nicht mal der Staatsanwalt so recht glauben, auch wenn die Tat selbst zweifelsohne die eines einzelnen ist.
Diesner spielt seine Rolle gut vor der Schwurgerichtskammer des Lübecker Landgerichts: eine Mischung aus Haltung wahren und Anwaltsstrategie. Er bestreitet keine der Taten und macht auch keinen Hehl aus seiner neonazistischen Gesinnung. Aber er macht von Anfang an umfangreiche Aussagen und versucht, mit dem Gericht zu kooperieren; er bestreitet, sich mit Waffen auszukennen und nach seiner Zeit in der Neonazi-Partei Nationale Alternative (NA) in die rechte Szene eingebunden gewesen zu sein. Entgegen seiner vorhergegangenen Aussagen gibt er nun gar an, auf Baltruschat nicht in Tötungsabsicht geschossen und die Polizisten lediglich in Notwehr angegriffen zu haben. Dazu hier und da ein Satz, aus dem sich ein wenig Reue und die schlechte mentale Verfassung Diesners zum Zeitpunkt der Taten ablesen lassen soll. Sein Pflichtverteidiger, Thomas Schüller, bringt es auf den Punkt: er habe Diesner als jemanden kennengelernt, mit dem professionelles Arbeiten möglich sei. Zu abgekartet wirkt die Show, die der Feinmechaniker und langjährige Neonazi vor dem Gericht abzieht, um die Mordvorwürfen aufzuweichen, um den politischen Hintergrund der Taten und die Terrorstrukturen der Neonazis aus dem Prozeß herauszuhalten, um eine Strafmilderung wegen seiner debilen Psyche zu erreichen. Die anstehende lebenslängliche Haftstrafe wird der untersetzte, kräftige Ostberliner mit dem trotzigen Blick eines Pubertierenden damit wohl dennoch nicht verhindern können. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, daß er einen Polizisten erschossen hat, sondern auch die erdrückende Beweislast. Ob das Gericht allerdings an der Aufhellung von Diesners Rolle in der rechten Szene und eines wahrscheinlich erscheinenden organisatorischen Hintergrundes seiner Taten interessiert ist, scheint mehr als fraglich. Die schlampigen Ermittlungen des Berliner Staatsschutzes machen dies noch unwahrscheinlicher.
Berlin: Unfähigkeit des Staatsschutzes oder gewollte Pannen?
Wer steckt hinter dem Attentat auf den Marzahner Buchhändler Klaus Baltruschat? Diese Frage vermochten die Ermittler der Berliner Polizei nicht zu klären, bis der Täter, Kay Diesner, vier Tage später einen Polizisten erschoß, einen weiteren schwer verletzte, festgenommen wurde und das Attentat auf Baltruschat gestand.
Dabei hätten sie es wissen müssen: Diesner wohnte nicht nur in unmittelbarer Nähe des Tatortes, er gehört auch seit Jahren zum harten Kern der Berliner Neonaziszene, in deren Reihen der Täter von Beginn an vermutet wurde, und war nicht nur der Polizei bekannt. Die Berliner PDS wirft dem Staatsschutz vor, gar nicht in diese Richtung ermittelt und einfachste kriminologische Grundsätze mißachtet zu haben. Bis heute ist nicht einmal genau geklärt, ob sich Diesner in dem Zeitraum zwischen dem Attentat auf Baltruschat und seiner Flucht nach Schleswig-Holstein mit seinen Gesinnungsgenossen getroffen hat, wie es zwischen dem verhinderten JN-Aufmarsch und dem Attentat der Fall war. Beide Taten, das Baltruschat-Attentat und die Schießerei auf dem Autobahnrastplatz in Schleswig-Holstein, sind durch Diesners Geständnis nun weitgehend aufgeklärt. Mehr aber auch nicht. Alle Ermittlungen enden bei den beiden Taten.
Ob Diesner auf Anweisung handelte, wie, wo und warum er schießen lernte, wie er dazu kam, sich derart militärisch auszurüsten und ob er in Terrorstrukturen eingebunden war, die die Neonazis bereits seit Anfang der 90er Jahre propagieren (siehe v.a. AIB Nr. 30 & 31), bleibt außen vor. Die Ermittler hielten es offensichtlich nicht für nötig, diese Fragen zu klären. Verwundern tut dies kaum. Trotz wiederholter Bombenfunde bei Berliner Neonazis und zahlreichen Anschlägen von rechts leugnen der Berliner Verfassungsschutz und Berlins Innensenator Schönbohm konsequent die Existenz und den Aufbau rechtsterroristischer Strukturen. Noch im Berliner Verfassungsschutzbericht über das Jahr 1996 heißt es: »Für rechtsextremistischen Terrorismus in Berlin gibt es gegenwärtig keinen Nachweis.«1 Auch Ermittlungen in Diesners Umfeld blieben dünn gesät und die Frage unbeantwortet, wie und wo Diesner in der rechten Szene organisiert war.
Kay Diesner: die Karriere eines Neonazis
Diesners extrem rechte Karriere begann bereits in der DDR, wo er sich als Skinhead und Hooligan verstand. Nach der Wende landete er dann relativ schnell beim harten Kern der Ostberliner Neonaziszene: im von Neonazis besetzten Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße und damit bei der dort ansässigen Neonazitruppe Nationale Alternative (NA) und später deren Nachfolgeorganisation Sozialrevolutionäre Nationalisten(SRN) bzw. anderen Zusammenhängen um den harten Kern der ehemaligen NA.
Dort lernt Diesner nicht nur weite Teile der Berliner Neonaziszene kennen, sondern auch zahlreiche Führungsfiguren der deutschen und österreichischen Szene wie Gottfried Küssel, Günter Reinthaler und den mehrfach verurteilten Neonaziterroristen Ekkehard Weil. Zudem zeigen sich Verbindungen zu den österreichischen Briefbomben: Peter Binder, Angeklagter im ersten Briefbombenprozeß, besuchte die Weitlingstraße häufiger und kannte auch einen von Diesners Lehrern gut: Arnulf Priem. Zum NA-Kreis in der Weitlingstraße gehörte auch Bendix Wendt, der engen Kontakt mit Österreichern wie Binder unterhielt, nach der Detonation der ersten Briefbomben untertauchte und zudem Wehrsportbeauftragter der NA war. Die Neonazikader um die beiden Führer Ingo Hasselbach und Frank Lutz erkannten schnell die »Qualitäten« Diesners: Er sei diszipliniert und zurückhaltend gewesen, der ideale Befehlsempfänger. Der damals 18-jährige Diesner bekam eine intensive ideologische und militärische Ausbildung verpaßt. Regelmäßig wurden Wehrsportübungen in verschiedenen Gegenden in Ostdeutschland durchgeführt, u.a. auf Rügen und in den Wäldern südlich Berlins.
Im Laufe der Zeit freundete Diesner sich in diesem Kreis vor allem mit Marcus B. und Oliver W. an, was deutlich macht, in welchem Umfeld sich Diesner damals bewegte. Marcus B. sitzt nach wie vor in Haft wegen der Verbreitung des illegalen Neonazi-Blattes NS-Denkzettel, in dem Anleitungen zum bewaffneten Kampf veröffentlicht wurden. Am Anfang fungierte der NS-Denkzettel als Zeitung der SRN, die ersten Ausgaben wurden noch von Ingo Hasselbach hergestellt. Nach dessen Ausstieg übernahm Oliver W. diese Aufgabe. In der Szene gilt die Zeitung später als Blatt des Weißen Arischen Widerstandes (WAW), einer angeblichen Keimzelle des "Werwolfes". Diesner bezeichnet sich selbst als Freiheitskämpfer des WAW, gibt aber an, bei dem WAW handele es sich um keine feste Gruppe, sondern eine Bewegung. Im Umfeld der ehemaligen NA bezeichnen sich auch noch andere Neonazis als Angehörige des WAW. Bei Oliver W. wurden in den vergangenen Jahren bei Hausdurchsuchungen wiederholt Bombenbauanleitungen, mehrere Rohrbomben, Sprengstoff und Anti-Antifa-Adress-Listen gefunden.
Die Berliner Anti-Antifa
Daß die Polizei »schwarze Listen« bei Oliver W. fand, war kein Zufall. Oliver W. und Kay Diesner waren seit Anfang der 90er Jahre mit der Anti-Antifa-Recherche beauftragt. Das gesammelte Material gaben sie an Oliver Schweigert, der sich mittlerweile zum Chef des alten NA-Kreises gemausert hatte, weiter. Schweigert machte dann die Computererfassung und glich die Daten mit dem Initiator der Anti-Antifa, Christian Worch aus Hamburg, ab.
In diesem Zusammenhang ist auch Diesners Festnahme auf der Demo der maoistischen Splittergruppe RIM am 1. Mai 1994 und seine anschließende Verurteilung zu sehen. In schwarzen Klamotten, mit Kapuzenpullover und Bomberjacke hatte er sich damals auf die linke Demonstration begeben, um Informationen und Eindrücke zu sammeln. Vor dem Lübecker Gericht antwortete er auf die Frage, ob er auf der Demonstration Leute gekannt habe, mit einem Ja. Einige Leute habe er bereits zuvor in einem Kreuzberger Buchladen kennengelernt.
In der Neonazi-Postille "Freie Stimme" 2 bestätigen Berliner Neonazis die Informationen über ihren »Kameraden und Mitkämpfer«: »Durch sein harmloses jugendliches Aussehen eignete er sich aber auch für konspirative Einsätze. Für die 'Anti-Antifa'-Berlin war er in der Aufklärung tätig, indem er z.B. in Zeckenläden einschlägige Literatur beschaffte oder sich um Feindadressen bemühte.« 3 In dem gleichen Artikel widerlegen sie Diesners Behauptungen vor Gericht, er sei nach der NA nicht mehr in der Szene aktiv gewesen, hätte sich in der Weitlingstraße nur als Besucher aufgehalten und sei überhaupt ein Einzelgänger. Vor Gericht hatte er gleich sämtliche Fraktionen der Neonaziszene durch den Dreck gezogen, um seine Abneigung gegen die Szene unter Beweis zu stellen. So bezeichnete er die NA als »Nationale Arschlöcher« und die JN als »Junge Nationaldemokröten«. Seine Berliner »Kameraden« in der "Freien Stimme" wissen hingegen zu berichten: »Tatkräftig half er mit, in der Weitlingstraße das bekannt gewordene 'besetzte' Haus für die damals Ostberliner Partei 'Nationale Alternative' herzurichten. In seinem Arbeits- und Einsatzeifer war er überall dabei, wo Männer und Kämpfer benötigt wurden. Ob in Ostberlin oder bei Müller/Mainz; Kay war dabei (..)« 4
Stelldichein bei Neonazi-Kader Priem
Dabei war Diesner auch, als am 13. August 1994 die „creme de la creme“ der Berliner Anti-Antifa- und Neonaziszene auf dem Haus des Führungskaders Arnulf Priem festgenommen und zum großen Teil später wegen Bildung eines bewaffneten Haufens verurteilt wurde. Als die Polizei das Haus stürmte, auf dem sich die Neonazis zwecks Angriff auf eine Antifa-Demonstration versammelt hatten, fand sie u.a. Zwillen, Steine, Messer, zahlreiche Knüppel und Molotowcocktails.
Mit dabei war neben Kay Diesner, Oliver W. und Oliver Schweigert auch ein »Kamerad«, der bei einer Mordtat am 18. April in Berlin-Treptow anwesend war. Detlef Cholewa (Detlef Nolde) war dabei, als der Berliner Neonazi Lutz Schillok zwei Wittenberger Neonazis im Streit erstach (siehe AIB Nr. 39).
Warum die 22 führende Neonazis, die auf Priems Dach festgenommen wurden, nach dem Attentat auf Baltruschat nicht sofort ins Blickfeld der Ermittler rückten, bleibt fraglich. Die Beamten wußten nicht erst nach der Tat Detlef Noldes, welchen Kreis sie dort versammelt vorgefunden hatten. Schon die zahlreichen Waffenfunde bei nahezu allen am 13. August festgenommenen hatten den Beamten gezeigt, daß dieser Kreis überwiegend auch im Bereich bewaffnete Gewalt aktiv ist. Diesner und Nolde werden vermutlich nicht die letzten aus dieser Runde bleiben, die im Zusammenhang mit Terrorakten Schlagzeilen machen werden.
Ebenfalls an diesem Tag auf Priems Dach festgenommen wurde ein Neonazi, der erst 1992 zu den Neonazis um die SRN stieß: Andreas T. Dieser griff zusammen mit Oliver W. bei dem Prozeß wegen des bewaffneten Haufens einen Journalisten an und wurde bald zum guten Freund von Diesner. Heute ist er derjenige aus der Szene, der Diesner im Gefängnis besucht, den Kontakt zu ihm hält und seine Betreuung durch die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V. (HNG) sicherstellt. Unter der Hand versteht sich, denn nicht nur die HNG hat wenig Interesse daran, mit Diesner in Verbindung gebracht zu werden.
Auch seine anderen »Kameraden« sind in der Öffentlichkeit und vor den Ermittlungsbehörden darauf bedacht, ihre Kontakte und Beziehungen zu Diesner herunterzuspielen und Diesners Einbindung und Funktion in die Strukturen zu verschleiern. Neben der Tatsache, daß Diesner zum harten Kern der Szene gehört, ist und bleibt aber unklar, inwieweit er Kontakt zu einer Terrorstruktur in der Neonaziszene hatte oder sogar in sie eingebunden war und ob es eine derartige Struktur überhaupt in einer bundesweit organisierten, professionellen Form gibt oder der Versuch nach zahlreichen Veröffentlichungen und Razzien eingestellt worden ist. Unstrittig ist, daß zahlreiche Neonazis – ob bei Wehrsportübungen oder in Kroatien - an Waffen ausgebildet wurden, und daß es zahlreiche regionale Zusammenhänge gibt, die sich nicht nur ausbilden, sondern auch mit dem Gedanken tragen, ihr Wissen in die Tat umzusetzen. Darüberhinaus kursieren in der deutschen NS-Szene bereits seit Anfang der 90er Jahre Schriften, die den Aufbau einer bewaffneten Struktur propagieren und strategische Konzepte dafür vorlegen.
Die Werwolf-Idee
Eine dieser Schriften sind die Hefte »Eine Bewegung in Waffen«, an denen auch bei den Wehrsportübungen der NA/SRN, sprich auch Diesner, geschult worden sein soll. Das 1991 erschienene »Eine Bewegung in Waffen« gilt in der Neonaziszene als grundlegende Handlungsanleitung in Fragen des Aurbaus und der Tätigkeit einer terroristischen Untergrundstruktur. Propagiert wird der Aufbau eines »Werwolf«-Netzwerkes mit einzelnen Zellen, Verbindungsleuten und Depots.
Ausgewählte Kandidaten werden »ausgesondert, sodann unseren Anforderungen gemäß geschult und ausgebildet, um schließlich als 'Schläfer' den Beginn der eigentlichen Kampfhandlungen abzuwarten« 5 , heißt es in der Schrift. Die Aktionsform »Attentat« wird in, »Eine Bewegung in Waffen« als »Rechtsprechung im weitesten Sinn« bezeichnet. Als mögliche Opfer werden unter anderem der »Scherge des Repressionsapparates« und »alle diese Volksschädlinge, dieses plutokratische und marxistische Ungeziefer« genannt. Und weiter heißt es, es müßten »alle Aktionen aus der Überraschung heraus erfolgen, welche wiederum nur im Angriff gewährleistet sein kann.« 6 .
Während Diesner nach den direkten Vorgaben für die Taten gehandelt zu haben scheint - sowohl die Art der Ausführung, als auch die Zielgruppe und das Motiv decken sich mit »Eine Bewegung in Waffen« - paßt er nicht in das in den Heften vorgeschriebene Modell eines »Werwolfes«. Nicht nur, daß er kein Schläfer war, sondern im harten Kern der Berliner Neonaziszene agiert hat. Er hat auch offensichtlich nicht auf Anweisung von oben, von der »Organisationsleitung«, gehandelt, wie es in »Eine Bewegung in Waffen« vorgeschrieben ist. Zuwenig stimmt die innenpolitische Situation und die Stärke der Neonazis mit den strategischen Vorgaben aus »Eine Bewegung in Waffen« überein.
Grundsätzliche Überschneidungen mit Diesners Verhalten vor, während und nach der Tat finden sich allerdings in dem 1992 in den USA erschienen Aufsatz des »Führerlosen Widerstands« (»Leaderless Resistance«). Dort heißt es: »Nach der Strategie des führerlosen Widerstandes operieren alle Individuen (!) und Gruppen unabhängig voneinander und fragen nie (...) nach Anweisungen. (...) Allgemein zugängliche Organe der Informations-verbreitung (...) halten jede Person auf dem Laufenden und ermöglichen damit eine geplante Reaktion in vielerlei Variationen.« 7
Das Modell Diesner?
Propagiert wird das Konzept des »führerlosen Widerstands« auch von der US-Neonazitruppe White Aryan Resistance (WAR), von der sich sowohl die schwedische Version Vitt Ariskt Motstand (VAM), eine neonazistische Terrortruppe, als auch die deutsche Variante Weißer Arischer Widerstand, dem sich Diesner zugehörig fühlt, herleiten. Diesners »Kameraden« schreiben dazu in der Freien Stimme, es handele sich um eine »jederzeit austauschbare Bezeichnung für die Strategie des 'führerlosen Widerstands'«.8 Ob Diesner nach den Ereignissen von Hellersdorf »einfach« beschloß, mit seiner erhaltenen Ausbildung eine eigene »Bestrafungsaktion« durchzuführen, ob er mit seinen »Kameraden« darüber gesprochen hat oder gar bewußt nach dem Modell des führerlosen Widerstandes vorging, muß offen bleiben. Darüber und über mögliche Strukturen im Hintergrund wird man von Diesner und seinem Umfeld wohl kaum etwas erfahren. Nicht umsonst heißt es bei »Eine Bewegung in Waffen«: »Verräter verfallen der Feme.«9 Und auch in der Freien Stimme wird unterschwellig gewarnt: »Durch den Schock der Festnahme beachtete er aber leider nicht das Grundprinzip, als Beschuldigter erst einmal keinerlei Aussagen zu machen.«8
Wessen Geistes Kind
Ebenfalls aus den USA stammen die 1978 erschienen »Turner Diaries«, ein Kultroman der terroristischen Neonaziszene nicht nur in den USA. Das Buch schildert im Science-Fiction-Stil einen in den USA von Neonazis initiierten Rassenkrieg und belegt, in welcher ideologischen Welt sich die rechten Terroristen bewegen: »Es gibt keinen Weg, in dem wir das System zerstören können, ohne viele tausend unschuldiger Leute zu schädigen. Es ist ein Krebs, der zu tief in unserem Fleisch sitzt. Wenn wir das System nicht zerstören, bevor es uns zerstört, wenn wir diesen Krebs nicht aus unserem Fleisch herausschneiden, dann wird unsere ganze Rasse sterben.«10 Aus den »Turner Diaries« kopiert ist offensichtlich der Anschlag auf ein Bundesgebäude in Oklahoma City am 19. April 1995 (Siehe AIB. Nr. 30 & 39), dem zweiten Jahrestag der Erstürmung des Hauptquartiers der Branch Davidians Sekte in Waco (Texas) durch die Polizei, bei der 86 Sektenmitglieder starben.
Das Vorgehen der Polizei gegen die schwerbewaffnete Sekte, die angeblich nur ihr Grundrecht auf Waffenbesitz verteidigen wollte, gilt in der US-Neonazi-Szene als Fanal und die Toten als Märtyrer, die vom FBI in einen »Holocaust« getrieben wurden. Nicht nur, daß Diesner vor Gericht angibt, im Femsehen einen Bericht über Waco gesehen zu haben. Er bewegt sich auch in der ideologischen Welt, die die »Turner Diaries« exemplarisch zeigen: er spricht vom »Holocaust an der weißen Rasse«, er hält sich für einen »Freiheitskämpfer für die weiße Rasse« und »politischen Soldaten« und die BRD habe ihm »den Krieg erklärt«.
Verschwörungstheorie pur, die Diesner jedoch als Legitimation für seine Taten nimmt. Alarmierend ist die Tatsache, daß Diesner bei weitem nicht der einzige ist, der sowohl bei Neonazi Priem und in der NA seine ideologischen Schulungen erhalten hat, als auch militärisch ausgebildet wurde. Wann die nächste dieser tickenden Zeitbomben hochgeht, scheint lediglich eine Frage der Zeit.
Stichwortgeber ?
Diesner gibt selbst an, durch allgemein zugängliche Organe der Informationsverbreitung, konkret das Fernsehen, über die Hellersdorfer Ereignisse am 15. Februar auf die Idee gebracht worden zu sein, einen Anschlag auf die PDS zu verüben.
Nicht nur Innensenator Schönbohm muß sich nun den Vorwurf gefallen lassen, zum Stichwortgeber für den Neonaziterroristen geworden zu sein, wie es in den Zeiten vor der Abschaffung des Asylrechts und auch danach der Fall war, wenn es eine inhaltliche Überschneidung zwischen Konservativen und der (extremen) Rechten gab. Der Senator hatte noch am Abend des 15. Februar im Fernsehen die PDS der Aufhetzung und des Aufrufens zur Gewalt bezichtigt, nachdem Antifaschistinnen das getan hatten, woran Schönbohm nicht interessiert war und ist: neofaschistische Aufmärsche und Aktivitäten zu verhindern.
Während er aktivem Antifaschismus und politischer Betätigung außerhalb des Abgeordnetenhauses u.a. mit den Worten »es gibt keinen Grund für den sogenannten antifaschistischen Kampf« die Berechtigung abspricht, machte er den Eindruck, die Aktivitäten der (extremen) Rechten zu verharmlosen und sie mehr oder weniger gewähren zu lassen.
- 1Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1996. Berlin, 1997. Seite 89.
- 2Bei der Freien Stimme handelt es sich um ein Neonazi-Szeneblatt für das Kameradschaftsspektrum aus Kreisen der Sauerländer Aktionsfront (SAF) um Thomas Kubiak.
- 3Freie Stimme. Nr. 13, 2/1997. S. 4ff.
- 4ebda. Mit »Müller/Mainz« ist das Grundstück des Naziehepaars Curt und Ursel Müller in Mainz-Gonsenheim gemeint. Dort finden regelmäßig neonazistische Veranstaltungen mit bundesweiter Bedeutung statt.
- 5Hans Westmar alias Christian Scholz und Henry Fiebig, Eine Bewegung in Waffen Bd II. 1991.
- 6ebda
- 7Siehe AIB Nr. 30, Juni/Juli 1995, S. S3ff.
- 8a8bFreie Stimme, a.a.O.
- 9Hans Westmar, a.a.O.
- 10Andrew Macdonald alias William Pierce, Turner Diaries. 1978.