Skip to main content

Rassismus und Gewalt in Griechenland

Christian Jakob
Einleitung

Es war vor allem eine Propagandaschlacht, die der türkische Präsident Erdogan am 28. Februar begann: „Wir haben die Grenztore geöffnet“, ließ er wissen. Die Türkei stellte medienwirksam Busse bereit, rund 13.000 Flüchtlinge versammelten sich daraufhin an der Landgrenze zu Griechenland. „Die Zeit der einseitigen Opferbereitschaft ist nun vorbei“, sagte Erdogan und meinte den Umstand, dass sein Land knapp 3,6 Millionen Menschen und damit mehr internationale Flüchtlinge als jedes andere Land auf der Welt aufgenommen hatte. Diese würden nun nach Europa gehen. „Bald wird man von Millionen sprechen“, sagte er. Es war vor allem ein Erpressungsversuch gegenüber der EU.

Foto: Fotomovimiento, flickr.com; CC BY-NC-ND 2.0

Tatsächlich hatte Erdogan die Grenze keineswegs „geöffnet“, sondern Flüchtlinge nur demonstrativ ermutigt sie zu überqueren. Das haben sie in der Vergangenheit auch ohne das Getöse aus Ankara getan: 2019 sind laut dem UNHCR rund 75.000 Menschen aus der Türkei in Griechenland angekommen, zwischen 1. Januar und 15. März 2020 kamen nach offizieller Zählung 9.369 Menschen.

Gehindert am Grenzübertritt wurden sie schon in der Vergangenheit weniger durch die Türkei, als vielmehr durch Griechenland, dass in den vergangenen zwölf Monaten wohl mehrere Zehntausend Flüchtlinge illegal und gewaltsam in die Türkei zurückgescho­ben hat. Neu an der Situation war also vor allem die staatliche „Grenzöffnungs“-­Propa­ganda, die dadurch ausgelöste (schwache, wie sich bald zeigen würde) Sogwirkung – und die griechische Entschlossenheit offen Gewalt einzusetzen, statt nur im Verborgenen.

Griechenland setzte Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse ein. Bei Einsätzen gegen Boote in der Ägäis wurden auch Warnschüsse mit scharfer Munition abgegeben. Nach allem, was bekannt ist, starben in diesen Tagen durch Handlungen der griechischen Polizei ein junger Syrer namens Muhammad al-Arab aus Aleppo sowie der aus Pakistan kommende Muhammad Gulzar. Bei diesem handelt es sich um einen ehemaligen Bewohner des besetzten City Plaza Hotels aus Athen. Er war in die Türkei gereist um seine Frau nachzuholen. Beim Versuch mit ihr gemeinsam wieder nach Griechenland zu kommen, sei er getötet worden. “Wir wissen nicht, wer der Mörder ist, aber wir wissen, wer die Verantwortung trägt“, heißt es in einer Erklärung von City Plaza: Die EU. Außerdem ertrank mindestens ein Kind in der Ägäis.

Griechenland kündigte an, keine Asylanträge mehr anzunehmen. Alle Flüchtlinge die nach dem 1. März 2020 die Grenze überqueren, würden stattdessen in Haft genommen und ohne Asylverfahren wieder abgeschoben. Rund 440 MigrantInnen, die in diesen Tagen auf der Insel Lesbos ankamen, waren auf einem Marineschiff inhaftiert und nach über einer Woche auf das griechische Festland gebracht worden. Dort werden sie interniert.

Der UNHCR protestierte dagegen, die EU nicht: „Ich stehe heute hier als Europäer an Ihrer Seite,“ sagte EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) bei einem Besuch im griechisch-türkischen Grenzort Kastanies. Es gab uneingeschränkte Solidarität für Griechenlands brutalen Kurs: „Ich möchte den griechischen Grenz- und Küstenwachen danken, ich möchte den Zivilisten, der Polizei, den Soldaten und Soldatinnen danken, und ich möchte Frontex für ihren unermüdlichen Einsatz danken.“ Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland lehnte die Kommission ab. Die Situation auf den Inseln sei eben „schwierig“.

Erdogans Vorstoß löste derweil in rechten Kreisen Pogromstimmung aus. Unter dem Hashtag #StandwithGreece war von Bulgarien bis Irland von einer angeblichen neuen „Invasion“ die Rede, womöglich von der finalen Schlacht, die einige schon länger herbeigesehnt hatten. Die derart martialisch aufgeladene Lage zog (extreme) Rechte­ unterschiedlicher Couleur an. „Es sind wohl 40 internationale Nazis hier auf #Lesbos angekommen. Darunter vorbestrafte Gewalttäter“, schrieb der Grünen-­­­Politiker Erik Marquardt am 6. März 2020 auf Twitter. Bei Übergriffen habe der Polizei­­notruf aufgelegt und nicht geholfen, so der Abgeordnete des Europaparlaments. „Es drohen folgenlose Hetzjagden.“ Marquardt bekam daraufhin Morddrohungen.

Rechte hinderten Flüchtlingsboote mit Gewalt am Anlegen auf der Insel Lesbos und errichteten dort Straßensperren. Unter anderem wurden der deutsche Fotojournalist Michael Trammer und der Spiegel-Korrespondent Giorgios Christides attackiert. Auch das Berliner NGO-Schiff „Mare Liberum“, das in der Ägäis die Menschenrechtssituation für Geflüchtete beobachtet, wurde nach eigenen Angaben von „einem Mob von Faschisten“ angegriffen. „Sie schrien, bedrohten uns und schütteten Benzin auf unser Deck! Unsere Besatzung sah sich gezwungen, das Schiff zu verlassen.“ Im Gemeinschaftszentrum „One Happy Family“ auf Lesbos brach ein Feuer aus, viele Gebäude wurden zerstört. Kurz davor war auf Lesbos ein Gebäude ausgebrannt, das zuvor vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR genutzt worden war.

Viele Rechte berichteten im Netz von ihren Reisen nach Griechenland. Der „Identitäre“ Mario Müller aus Halle postete Bilder von sich und dem Mannheimer NPDler Jonathan Stumpf, dieser mit blutender Kopfwunde – Antifas hatten die beiden angegriffen. Müller war nach eigenen Angaben für das rechte „Compact“-­Magazin auf Lesbos. Mit ihm unterwegs war unter anderem auch der österreichische Ex-“Identitäre“ Stefan Juritz, Chefredakteur der extrem rechten „Tagesstimme“. Auch der „Sezession“-Autor Till-Lucas Wessels machte sich auf nach Griechenland, allerdings nicht für eine Neuauflage der gefloppten Anti-Flüchtlingspatrouille „Defend Europe“ der Identitären 2017, wie er klarstellte: „Schließlich war die Lage eine ganz andere, hatten wir es doch diesmal mit einem Staat zu tun, dessen konsequentes Handeln sich grundlegend von jenen unbeholfenen Reaktionen der Jahre 2015, 2016 und 2017 unterschied“, so Wessels. „Wir wollten uns solidarisch zeigen und die Griechen vor allem symbolisch unterstützen.“

Das hatte auch der österreichische „Identitäre“ Martin Sellner vor. Er reiste dazu an die türkisch-griechische Landgrenze. Nach Recherchen des Portals "Belltower News" der "Amadeu-Antonio-Stiftung" war er dort mit den Youtubern Brittany Sellner und Philip Thaler sowie dem "Identitären" Paul Klemm aus Halle unterwegs. Außerdem seien die österreichischen "Identitären"-Funktionären Harald Wiedner und Clemens Lorber mit ihrem Unterstützer Erik Ramin F. vor Ort gewesen. Die griechische Zeitung "Ekathimerini" berichtete, dass die insgesamt zehnköpfige Gruppe von den griechischen Behörden des Landes verwiesen wurde.

Ebenfalls nach Lesbos reisten die rechten YouTuber Stefan Bauer und Oliver Flesch. Die Inselzeitung "Sto Nisi" berichtete, sie hätten sich beim Brand des „One Happy Family“-Gemeinschaftszentrums für Flüchtlinge herumgetrieben. Dort haben sie dem Bericht zufolge Journalisten gegenüber von „Fake News“ gesprochen und erklärt, die Gebäude seien niedergebrannt, weil sie einer Hilfsorganisation gehörten, die illegale Einwanderer aus der Türkei ins Land brächte. Das hätten ihre „privaten journalistischen Untersuchungen“ ergeben. Am 20. März 2020 nahm die griechische Polizei drei Männer fest, die den Brand gelegt haben sollen. Sie sollen nach Agenturberichten im Auftrag bislang unbekannter Drahtzieher nach Lesbos gereist sein, um das Feuer zu legen.

Erdogans Propagandaschlacht ging indes für ihn aus. Am 19. März 2020 sagten Emmanuel Macron und Angela Merkel der Türkei weitere Hilfen zu. Noch in der Nacht schloss die Türkei offiziell ihre Landgrenzen zu Griechenland und Bulgarien – angeblich wegen der Coronavirus-Pandemie. Was für ein Zufall.

Die Lage der Flüchtlinge in Griechenland aber bleibt katastrophal. Im Camp Moria auf der Insel Lesbos brach Mitte März 2020 ein Feuer aus, ein Mädchen verbrannte lebendig in einem Wohncon- tainer. Die Feuerwehr ging von einem Unfall aus. Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarachi schränkte die Bewegungsfreiheit der Bewohner der Flüchtlingslager auf den Inseln „drastisch“ ein: Sie dürfen die Camps nur noch in „kleinen Gruppen“ zwischen 7 und 19 Uhr verlassen. Besuche werden verboten. Der Unterricht in den Schulen für Migrantenkinder wird eingestellt, ebenso Sportmöglichkeiten rund um die Lager.

Die Flüchtlinge halfen sich derweil selbst: Sie begannen, Atemschutzmasken zu nähen und organisierten „Moria Corona Awareness Teams“, die den 20.000 BewohnerInnen des Camps Verhaltens­tipps in Farsi, Arabisch, Französisch und Englisch brachten. Die Petition „#LeaveNoOneBehind“ um die Lager angesichts der Corona-Gefahr zu evakuieren, unterschrieben in den ersten drei Tagen über 160.000 Menschen.