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Rechtsstaat auf sächsisch

Rechtsanwalt Peer Stolle
Einleitung

Ein vorläufiges Fazit der Repression in Sachsen gegen die antifaschistischen Aktivitäten um den 13. und den 19. Februar 2011 in Dresden. 

Foto: flickr.com – DIE LINKE. Sachsen

Am 19. Februar 2011 protestierten mehr als 20.000 Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen den ehemals größten Neonazi-Aufmarsch in Deutschland und konnten diesen damit im zweiten Jahr in Folge vollständig verhindern. Aufgrund dieses Engagements fanden in den Folgejahren um den 13. Februar keine Neonazi-Aufmärsche in ähnlicher Größe in Dresden statt.

Der 19. Februar 2011 bleibt aber nicht nur wegen des zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Erfolges in Erinnerung, sondern auch als Kulminationspunkt einer zum damaligen Zeitpunkt nur in Ansätzen erkennbaren Repressionswelle. Noch am 19. Februar 2011 wurde — nachdem der Neonazi-Aufmarsch bereits abgesagt worden war — eine vollkommen friedliche Kundgebung auf dem Fritz-Löffler-Platz eingekesselt und gegen deren Teilnehmer_innen Strafverfahren wegen grober Störung einer Versammlung gemäß § 22 SächsVersammlG eingeleitet. Diese Verfahren beschäftigen die sächsische Justiz bis heute. Am Abend desselben Tages erfolgte dann die Stürmung des Hauses der Begegnung in der Großenhainer Straße durch eine SEK-Einheit mit der Begründung, dass von dort militante Angriffe auf Neonazis gesteuert worden sein sollen. Türen von Partei- und Anwaltsbüros wurden aufgebrochen; Jugendliche, die sich zu dem Zeitpunkt in dem Treffpunkt aufgehalten haben, wurden von vermummten und schwer bewaffneten Polizeibeamten zu Boden geworfen und gefesselt, ohne dass ihnen auch nur in Ansätzen der Grund für diesen Überfall mitgeteilt wurde.  

Im Rahmen der Stürmung wurde bekannt, dass die sächsische Justiz gegen eine Vielzahl von Personen ein Strafverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB namens „Antifa-Sportgruppe“ führt. Ausgangspunkt dieses Verfahrens war die Behauptung zweier bekannter Neonazis gegenüber Ermittlungsbeamten gewesen,  für Übergriffe auf Neonazis sei eine feste Gruppe von Antifa­schist_innen — die besagte „Antifa-Sportgruppe“ — verantwortlich, ohne diese auch nur näher zu konkretisieren. In der Folge wurde eine Vielzahl von vermeintlichen und tatsächlichen Antifaschist_innen, die sich untereinander zum Teil gar nicht kannten, zu Mitgliedern dieser imaginären Vereinigung erklärt und mit einer Vielzahl von heimlichen und grundrechtsintensiven Ermittlungsmaßnahmen überzogen.

Für den 13. und 19. Februar 2011 wurden weiterhin mehrere größere Funkzellenabfragen angeordnet. So wurden allein im Rahmen der Funkzellenabfrage am 19. Februar 2011 in der Dresdner Südvorstadt mehr als 1 Million Datensätze erhoben und von über 54.000 Mobilfunknutzer_innen die persönlichen Daten festgestellt.

Im August 2011 durchsuchte die sächsische Polizei die Amts- und Wohnräume des Pfarrers Lothar König in der Jungen Gemeinde Jena und beschlagnahmte unter anderem deren Lautsprecherwagen. Die Staats­anwaltschaft Jena warf dem Pfarrer, der sich schon in den 1990er Jahren gegen die späteren Mitglieder des NSU engagiert hatte, u. a. aufwieglerischen Landfriedensbruch am 19. Februar 2011 vor. Weitere Verfahren der sächsischen Justiz folgten, u. a. gegen Tim H. und den Geschäftsführer der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA), Markus Tervooren, denen jeweils Landfriedensbruch vorgeworfen wurde. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Andererseits führte die umfassende Repressionswelle auch zu einer Vielzahl von Solidaritätsbekundungen und rechtspolitischen Aktivitäten verschiedener Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen. So veröffentlichte u. a. der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV e.V.) Anfang 2012 unter dem Titel „Rechtsstaat auf sächsisch“ eine Einschätzung zu den staatlichen Reaktionen auf die antifaschistischen Aktivitäten zum 13. und 19. Februar 2011. In dem Fazit wurde u.a. konstatiert, dass die sächsischen Strafverfolgungsbehör­den systematisch zu offensichtlich rechtswidrigen Maßnahmen greifen und rechtliche Grundsätze staatlicher Macht und Willkür unterordnen. Der RAV hat deswegen zu einem offensiven politischen und juristischen Umgang mit diesem speziellen sächsischen Rechtsstaatsverständnis aufgefordert.

Drei Jahre später haben sich die damals geäußerten Befürchtungen mehr als bestätigt: Die sächsischen Ermittlungsbehörden haben bei der Verfolgung antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten jedes Maß verloren. Zugleich hat sich aber auch gezeigt, dass sich politische und juristische Gegenwehr lohnen kann. Nahezu alle Manöver der sächsischen Justiz gegen antifaschistische Aktivitäten wurden für rechtswidrig erklärt oder verliefen im Sande.

So wurde die Funkzellenabfrage am 19. Februar 2011 nachträglich für rechtswidrig erklärt, weil deren Anordnung noch nicht mal den grundsätzlichen Anforderungen an einen richterlichen Beschluss genügte. Auch die am selben Tag durchgeführte polizeiliche Stürmung des „Hauses der Begegnung“ wurde für rechtswidrig erklärt. Der Schaden musste ersetzt werden; sämtliche Verfahren gegen die Betroffenen, die sich in dem Haus aufgehalten haben, wurden sang- und klanglos eingestellt. Das gleiche Schicksal ereilte die mit großem Aufwand geführten Verfahren gegen friedliche Blockierer_innen wegen angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz — von der Polizei noch als Straftat von erheblicher Bedeutung bewertet. Auch diese wurden in der Mehrzahl der Fälle wegen Geringfügigkeit eingestellt, zuletzt gegen die Linksparteiabgeordnete Caren Lay. Das Mitglied der sächsischen Grünen, Johannes Lichdi, und der Linksparteiabgeordnete Falk Neubert haben gegen ihre Verurteilungen — die weitgehend die Ausnahme blieben — Verfassungsbeschwerde erhoben.

Auch sämtliche Ermittlungsverfahren we­gen Bildung einer angeblichen kriminellen Vereinigung namens „Antifa-Sportgruppe“ wurden folgenlos eingestellt (vgl. AIB 104). Ermittlungsaufwand und Grundrechtsintensität: Hoch; Ermittlungserfolg: Null. Mittlerweile sind beim Dresdner Amtsgericht eine Reihe von Anträge der Betroffenen auf Entschädigung wegen der Ermittlungsmaßnahmen anhängig.

Im Oktober 2014 wurde das Verfahren gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt, obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht zunächst von einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgegangen waren. Vorausgegangen war eine mehrtägige Hauptverhandlung, in deren Rahmen durch die engagierte und akribische Arbeit der Verteidigung die tendenziöse Anklage der Staatsanwaltschaft, die offensichtliche Manipulation von Beweismitteln durch die Polizei und offenkundige Falschaussagen von Polizeibeamten aufgedeckt wurden. Am Ende konnte sogar das „Tatmittel“, der blaue Lautsprecherwagen der Jungen Gemeinde, aus seiner Gefangenschaft bei der Asservatenstelle der Polizei befreit und zurück nach Jena gebracht werden.

Ein ähnliches Bild bot sich in dem Verfahren gegen Tim H., der erstinstanzlich wegen schweren Landfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten ohne Bewährung verurteilt worden war. Erst als die Verteidigung in dem Berufungsverfahren entlastendes polizeiliches Videomaterial präsentieren konnte, das die Polizei bewusst zurückgehalten hatte, wurde Tim H. vom Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs freigesprochen. Auf dem ungeschnittenen Videomaterial war zu sehen, dass sich noch weitere Personen mit Megafon in der Gruppe aufgehalten haben, die Megafondurchsage „Kommt nach vorn“ daher nicht zweifelsfrei Tim H. zugeschrieben werden konnte. Diese Sequenzen wurden von den Beamten aus dem Videomaterial, das sie zur Akte gereicht haben, herausgeschnitten; ein manipulierendes Vorgehen, das schon aus dem Verfahren gegen Lothar König bekannt war. Eine schwere Schlappe für die Staatsanwaltschaft, die jedoch noch immer keine Ruhe geben will und nun Revision gegen das Urteil eingelegt hat. Das Verfahren gegen Markus Tervooren wurde gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.

Die zahlreichen Beispiele belegen, dass die Dresdner Ermittlungsbehörden bei der Verfolgung von Antifaschist_innen bewusst rechtliche Grenzen überschreiten. Sie zeigen aber auch, dass man sich gegen rechtsstaatswidriges Verhalten von Behörden erfolgreich zur Wehr setzen kann. Dies gelang einerseits durch den Einsatz engagierter Verteidiger_innen für die Rechte der Beschuldigten. Andererseits spielten aber auch eine breite Unterstützung für die Betroffenen durch die Zivilgesellschaft und eine engagierte Presseberichterstattung eine entscheidende Rolle, die hier nicht den haltlosen Vorwürfen der Strafverfolgungsbehörden Glauben geschenkt hat. Ohne dieses Engagement allerdings — und dies kann nicht genug betont werden — wären die meisten dieser Rechtsbrüche nicht öffentlich, politisch und juristisch thematisiert worden — mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen. Wenn diese Verfahren dazu geführt haben sollen, in der Öffentlichkeit und der Justiz eine Sensibilität für das Vorgehen von Strafverfolgungsbehörden zu erzeugen und polizeiliches Beweismaterial und polizeiliche Zeugenaussagen in Zukunft kritischer hinterfragt werden, wäre schon viel erreicht.