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Solidarität im Zwiespalt der Realität(en)

Einleitung

Mit der Gründung der Erstaufnahmeeinrichtung in der Heinrich-Mann-Allee sieht sich auch die Potsdamer Linke im Zwiespalt zwischen einer Kritik an der staatlichen Asylpolitik und dem System „Lager“ einerseits und der eigenen Beteiligung am Aufbau und Betrieb eines solchen.

Foto: Christian Ditsch

Erstaufnahmelager in Chemnitz

In den 1990er Jahren war das Land Brandenburg berüchtigt für seine sogenannten „Dschungelheime“: Asylsuchende wurden vorzugsweise in alten Kasernen, Ferienlagern und ähnlichen Orten untergebracht; fernab der und nicht selten ohne infrastrukturelle Anbindung an die dünn gesäten größeren Städte. Im Zuge der aufgrund der europäischen Abschottungspolitik sinkenden Asylberwerber_innenzahlen einerseits und antirassistischer Kämpfe andererseits, wurden seit Ende der 1990er Jahre viele dieser Heime geschlossen und in einem Teil der Kommunen angefangen, Flüchtlinge dezentral unterzubringen. Obwohl das Land Brandenburg seit mindestens 2012  über eine steigende Geflüchtetenzahl informiert worden war, trafen weder Land noch Kommunen dafür Vorsorge. Mit der Öffnung der deutschen Grenze für die Flüchtlinge der
Bal­kanroute setzte dementsprechend bei staatlichen Stellen hektische Aktivität ein, um kurzfristig die benötigten Quartiere aufzutreiben.

Die Erstaufnahmeeinrichtung in der Heinrich-Mann-Allee

Am Abend des 13. September 2015 wurde in Potsdam bekannt, dass in Kürze mehrere hundert Geflüchtete in Gebäuden auf einem Gelände des Innenministeriums in der Heinrich-Mann-Allee (HMA) untergebracht werden sollten. Träger dieser spontan eingerichteten Unterkunft wurde das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Eiligst wurde, v. a. über die Netzwerke der linken Szene zu einem Treffen mobilisiert, auf dem Möglichkeiten der Unterstützung für die Ankommenden besprochen werden sollten. Diesem Aufruf folgten 150 - 200 Menschen, die sich einig waren, dass es dabei nicht um eine bloße Willkommensgeste, sondern um tatsächliche praktische Hilfe gehen müsse. Dank der guten Vernetzung und der bis in die Zeit der Hausbesetzer_innenbewegung der 1990er Jahre zurückreichenden Verankerung der Szene in der Stadt war es möglich, schnell und effektiv koordinierende Strukturen (Arbeitsgruppen, Plena) einzurichten und tatsächlich binnen Kürze die Gebäude bezugsfertig zu machen. Denn dazu waren zu diesem Zeitpunkt weder das DRK noch die staatlichen Strukturen in der Lage. Da der formale Betreiber der Unterkunft dringend auf ehrenamtliche Hilfe angewiesen war, gelang es den Helfer_innen, eine Vielzahl von Aufgaben zu übernehmen und sogar ein eigenes Koordinationsbüro in der Unterkunft einzurichten. Natürlich kamen nicht alle Helfenden aus der linken Szene, es gab ebenso engagierte Bürger_innen, aber die linke Szene gab dem Ganzen Struktur und Koordination. Mehrere Tage lang agierte die linksalternative Szene der Stadt auf diese Art und Weise faktisch als Trägerin einer Flüchtlingsunterkunft.
Diese Erfahrung stützte durchaus das Selbstbewusstsein der Beteiligten: Als bekannt wurde, dass das Innenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge planten, die gerade in Potsdam angekommenen Flüchtlinge zur Registrierung und Unterbringung in die für ihre menschenunwürdigen Zustände berüchtigte Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt zu bringen, um sie anschließend von dort aus auf die Kommunen zu verteilen, erklärten die Helfer_innen:

Zur Zeit übernehmen und tragen wir klar sozialstaatliche Aufgaben. Die Unterkunft in der Heinrich-Mann-Allee funktioniert und bietet aufgrund unseres Engagements eine Herberge für mehr als 250 Personen. Wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen, dass die von staatlicher Seite als notwendig erachtete Registrierung der Flüchtlinge in Potsdam erfolgt. Unsere Strukturen sind zur Zeit bestens aufgestellt und schnell mobilisierbar. Wir warnen hiermit alle zuständigen Stellen uns herauszufordern!

Tatsächlich konnte durchgesetzt werden, dass die Flüchtlinge zwar in Bussen zur Registrierung nach Eisenhüttenstadt gebracht wurden, aber jene, die wollten anschließend nach Potsdam zurückgefahren wurden. Zudem wurde jeder Bus von einer Vertrauensperson aus der Helfer_innenstruktur begleitet. Allerdings konnte nicht verhindert werden, dass die Flüchtlinge von Potsdam aus auf die Kommunen des Landes verteilt werden, da die Unterkunft in der HMA ebenfalls den Status einer Erstaufnahmeeinrichtung hat. Dieser erste Konflikt beeinflusste das öffentliche Klima durchaus. Hatte die lokale Presse bis dahin die Helfenden durchweg gefeiert, begann jetzt die Lokalzeitung „Potsdamer Neueste Nachrichten" (PNN) eine Art Hetzkampagne gegen die linken Strukturen, die die Nothilfe für die Geflüchteten trugen. Diese setzte sich fort in einem Feldzug gegen das soziokulturelle Zentrum "freiLand, als sich dieses kritisch zur geplanten Unterbringung von Geflüchteten in sogenannten Leichtbauhallen auf dem eigenen Gelände aussprach. Obwohl viele der dort Engagierten auch aktiv in der Helfer_innenkoordination in der HMA mitarbeiteten, titelte die Zeitung zunächst mit „‚Freiland‘ will keine Flüchtlinge als Nachbarn" und ignorierte damit, dass die Kritik des freiLandes vor allem auf die geplante Unterbringung in Leichtbauhallen abzielte. Weiterhin wurde die in einem Nebensatz geäußerte Forderung auch weiterhin kulturelle Veranstaltungen auf dem Gelände durchführen zu können als völlig inhuman und unangemessen dargestellt.

Ein richtiges Lager im falschen?!

Im gleichen Zeitraum fing das DRK an, als Heimleitung die Kontrolle über das Geschehen vor Ort zu übernehmen. So wurde als eine der ersten Maßnahmen der Zugang zum Gelände für Helfende, aber auch für Besucher_innen der dort Untergebrachten erschwert bzw. verunmöglicht: Menschen, die ehrenamtliche Hilfe leisten wollten, mussten sich unter Vorlage eines Personalausweises registrieren lassen, allen anderen wurde der Zutritt verwehrt. An dieser Stelle wurde vielen Beteiligten klar, dass man bei allem Bemühen darum, menschenwürdige Bedingungen für die Flüchtlinge in der HMA herzustellen, letztlich an der Einrichtung und dem Betrieb eines Asylbewerber_innenheimes, eines „Lagers“ mitwirkte. In Reaktion darauf zog sich ein Teil der Aktiven aus der unmittelbaren Arbeit vor Ort zurück und begann mit dem Versuch, die entstandene Situation zu reflektieren, um gerade auch unter dem Eindruck der zeitgleich stattfindenden Asylrechtsverschärfungen politisch weiter handlungsfähig zu bleiben. Ein anderer Teil der Helfenden blieb in der Unterkunft aktiv. Für diese Entscheidung sprach, dass es tatsächlich gelungen war, in der HMA Standards zu etablieren wie beispielsweise eine unabhängige Asylrechtsberatung, um die in der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt seit Jahren vergeblich gekämpft wird. Zusätzlich entwickelten sich autonom agierende Arbeitsgruppen, die sich beispielsweise um Kinderbetreuungsangebote, Deutschunterricht oder die Sortierung und Bereitstellung von Spenden kümmern, auch ein SIM-Karten-Laden ist zurzeit im Aufbau.

An einigen Punkten wurde und wird zudem versucht auch die Bewohner_innen der HMA in diese Strukturen einzubinden. Zudem bleibt die Hoffnung, dass die Anwesenheit der Helfer_innenstruktur in der HMA eine Kontrollfunktion gegenüber dem Handeln des Heimbetreibers darstellt. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, wird die Zukunft zeigen. Der Zwiespalt zwischen realer kleinteiliger Verbesserung von Lebensbedingungen und radikaler Kritik am „Großen und Ganzen“ ist nicht neu für antirassistisch Engagierte, neu ist jedoch auf welchem Niveau diese in Potsdam damit konfrontiert sind: So nah wie hier dürften Linke den Mechanismen des Heimsystems selten gekommen sein. Dazu kommt, dass auch die Masse der dort aktiven Linken über wenig Erfahrungen und Wissen bezüglich der flüchtlingspolitischen Kämpfe der letzten 25 Jahre verfügt. Neben einer teilweise stark praktizistischen Orientierung der Helfenden erschwert dies die durchaus stattfindende politische Diskussion um das weitere Vorgehen.

Solidarische Perspektiven schaffen

Der Widerspruch zwischen einer umfassenden Lager-Kritik und der Mitarbeit in der HMA ist nicht auflösbar: ein kompletter Rückzug aus der HMA würde bedeuten, wenn nicht eine Kontroll-, dann zumindest eine Beobachtungsfunktion und bereits erkämpfte Handlungsspielräume aufzugeben. Trotzdem ist auch ein Lager mit menschenwürdigeren Bedingungen noch immer ein Lager. Im besten Falle könnte die Anwesenheit vor Ort als Vermittlung zwischen Neuankommenden in der HMA und bereits bestehenden oder noch zu entwickelnden Initiativen außerhalb dieser fungieren. Gleichzeitig sollte gerade in Erstaufnahmeeinrichtungen wie der HMA ein Fokus auf der Netzwerkbildung liegen, da die dort ankommenden Menschen nach ihrem (kurzen) Aufenthalt auf das ganze Bundesland verteilt werden. Wenn es gelingt in Potsdam geknüpfte Kontakte auch nach der Verteilung der Geflüchteten aufrechtzuerhalten, besteht die Möglichkeit einer brandenburgweiten Vernetzung zwischen Geflüchteten, aber auch Helfenden.
Um Möglichkeiten zu schaffen aus der Position der akuten Nothilfe herauszukommen und stattdessen politische Perspektiven zu erarbeiten, müssen Geflüchtete als Subjekte politischer Kämpfe anerkannt werden und es darf auf gar keinen Fall versucht werden auf ihrem Rücken politische Ziele durchzusetzen. Eine Möglichkeit bietet sich in der Verknüpfung des Kampfes für die Wohnungsunterbringung von Geflüchteten mit sozialen Protesten, zum Beispiel im Rahmen der „Recht auf Stadt“-Bewegungen. Auch (die Androhung von) Hausbesetzungen für die Unterbringung von Geflüchteten (wie z. B. in Göttingen, Lübeck und Berlin) können hier legitime Mittel sein. Aber auch die Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Erfahrungen von Refugee- und Antira-Aktivist_innen sind von zentraler Bedeutung.

Inwieweit politische Aktionen der Linken jedoch an Erschöpfung, Überforderung und begrenzten Ressourcen in Folge der geleisteten Ersthilfe scheitern, wird sich zeigen.