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Späte Rehabilitation der vergessenen Opfer

Einleitung

Interview mit der Historikerin Katharina Stengel

Welche Rolle spielten die NS-Opfergruppen in der öffentlichen Auseinandersetzung Westdeutschlands mit dem Nationalsozialismus?

Man müsste die Frage vermutlich fast umdrehen: Welche öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NS hätte es in der frühen Nachkriegszeit ohne Interventionen von NS-Verfolgten gegeben? Nach dem Ende der Besatzungszeit ging in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre fast jede kritische Thematisierung des Nationalsozialismus und seiner Folgen von Personen aus, die in irgendeiner Weise zu den Verfolgten gehört hatten, sei es auf dem Gebiet der juristischen Verfolgung der Täter, des Aufbaus von Gedenkstätten, der Dokumentation von Verfolgung und Vernichtung oder auch der sozialwissenschaftlichen Forschung zu den Grundlagen nationalsozialistischer Herrschaft. Es waren fast durchgehend ehemalige Verfolgte, die den mühsamen Versuch unternahmen, die Verbrechen des Nationalsozialismus in Erinnerung zu halten, Aufklärung zu betreiben und Konsequenzen zu fordern – in einer Gesellschaft, in der Mitte der 1950er Jahre der Konsens herrschte, dass man nun wirklich ein Anrecht darauf habe, von diesen Dingen nicht mehr belästigt zu werden.

Inzwischen ist man ja in Deutschland sehr stolz auf die große gesellschaftliche Leistung der Aufarbeitung der eigenen, verbrecherischen Vergangenheit. Dabei gerät völlig aus dem Blick, dass diese Aufarbeitung über lange Phasen hinweg das Ergebnis heftiger Konflikte war und gegen große Teile der Gesellschaft durchgesetzt werden musste. Dass es zunächst vor allem ehemalige NS-Verfolgte waren, die diese Konflikte austrugen, ist weitgehend in Vergessenheit geraten.

Welche Opfer meldeten sich zu Wort und welche nicht? Wovon hing dies ab?

International waren es zunächst vor allem die politischen Verfolgten, die ehemaligen Widerstandskämpfer, die sich zu Wort meldeten und auf der Grundlage ihrer Verfolgungserfahrungen politische Forderungen stellten. Die reinen Verfolgungsopfer dagegen, allen voran die jüdischen Verfolgten, erfuhren zunächst sehr viel weniger Aufmerksamkeit. In Westdeutschland war die Situation etwas anders, weil hier die westlichen Alliierten darauf bestanden, dass die Juden als gleichberechtigte Opfergruppe zu behandeln seien und sie daher einen etwas anderen Status hatten. Allgemein gab es eine Hierarchie der Opfer, die starken Einfluss hatte auf ihre Chancen, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. An der Spitze standen die politisch Verfolgten und Helden des Widerstands, gefolgt von den »Nur-Opfern« und schließlich von jenen Verfolgten-Gruppen, denen nicht einmal ein Opfer-Status zuerkannt wurde und die sich meist weder organisierten noch öffentlich äußerten, wie etwa die als »Asoziale« verfolgten, die Zwangsarbeiter, die Homosexuellen, die Deserteure, die Opfer von rassenhygienischen Maßnahmen etc. An dieser Hierarchisierung waren die antifaschistischen Verfolgten-Verbände durchaus beteiligt.

War die öffentliche Repräsentanz von NS Opfern zeitgeschichtlichen Konjunkturen unterworfen? Und wenn ja welchen?

Dass die politisch Verfolgten und Widerstandskämpfer im Zentrum der öffentlichen Repräsentation der NS-Verfolgung standen, begann sich in den 1960er Jahren recht einschneidend zu verändern. Auslöser dafür waren einige große NS-Prozesse, allen voran der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, bei dem erstmals die jüdischen Opfer und ihre Erzählungen im Zentrum der Aufmerksamkeit standen und die Öffentlichkeit aus ihrem Mund in immer neuen Details mit der Geschichte der Judenvernichtung konfrontiert wurde. Das hatte nicht nur Folgen für die Wahrnehmung der NS-Verbrechen, sondern auch für den Status und das Selbstverständnis der Verfolgten. Die jüdischen Verfolgten wurden nun nicht mehr allein als passive Opfer wahrgenommen, sondern vor allem als Zeugen und Überlebende, die mit ihren Erinnerungen für eine schreckliche Vergangenheit einstanden.

Auf diese Weise und in Zusammenhang mit der Anerkennung der Judenvernichtung als dem Zentralereignis des NS, rückten sie allmählich ins Zentrum der öffentlichen Gedenkkultur. Erst in den 1980er Jahren gab es auch einige Bemühungen, um späte Rehabilitation und öffentliche Repräsentanz der »vergessenen Opfer«, die jedoch dort an enge Grenzen stießen, wo die entsprechenden Gruppen bis heute gesellschaftlich marginalisiert sind.

Welche Erfolge aber auch Niederlagen zeitigten die Interventionen von NS Opfern in die Debatten um Verjährung, Entschädigung und Erinnerung?

Der um 1954/55 abgeschlossene Prozess der Re-Integration der allermeisten NS-Funktionsträger, ihre Amnestierung und massenhafte Wiedereingliederung in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ließ sich – von Einzelfällen abgesehen – nie mehr rückgängig machen. Ehemaligen Verfolgten gelang es zwar, in Zusammenarbeit mit engagierten Staatsanwälten, zahlreiche Strafverfahren gegen einzelne SS-Leute durchzusetzen, aber eine systematische Strafverfolgung, z.B. der Organisatoren der Juden-Deportationen oder anderer Schreibtischtäter, ließ sich nie erreichen. Ähnliche unüberwindbare Grenzen gab es im Bereich der Entschädigung. Hier konnten v.a. jüdische Organisationen wie die Claims Conference in einigen Punkten erfolgreich die Interessen der Verfolgten zu Gehör bringen; in anderen Bereichen blieben alle Interventionsversuche erfolglos, etwa beim prinzipiellen Ausschluss aller Verfolgten aus Osteuropa.

Viele Erfolge bei der Entschädigung, den NS-Prozessen, der Verlängerung von Verjährungsfristen etc. waren Interventionen von Verfolgten zu verdanken; sie beruhten aber meist mindestens im selben Maß auf dem Bemühen der westdeutschen Politik, das Ausland zu beruhigen und das internationale Ansehen der BRD zu verbessern. Auf diesem zentralen Motiv bundesdeutscher Politik beruhten letztlich viele der Erfolge im Bereich der »Aufarbeitung der Vergangenheit«. Umgekehrt bedeutete das, dass für Initiativen, die keine Bedeutung für das Ansehen der BRD im Ausland hatten, deutlich geringere Chancen bestanden, gehört zu werden.

Katharina Stengel, ist als Historikerin u.a. am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt/M. tätig; derzeit Abschluss einer Dissertation über »Hermann Langbein und die Auschwitz-Überlebenden in den politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit«.

Veröffentlichungen (Auswahl):

Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus
Frankfurt/Main, New York 2007

Auschwitz zwischen Ost und West. Das Internationale Auschwitz-Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes »Auschwitz«. Zeugnisse und Berichte
in: Katharina Stengel, Werner Konitzer (Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit
Jahrbuch des Fritz-Bauer-Instituts 2008
Frankfurt/Main, New York 2008, S. 174–196

Hermann Langbein und die politischen Häftlinge im Kampf um die Erinnerung an Auschwitz
in: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 96–118

Die ehemaligen NS-Verfolgten – Zeugen, Kläger, Berichterstatter
in: Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR
Göttingen 2011, S. 307–322.