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Tödliche Aussengrenzen

Elias Bierdel
Einleitung

Ein Kontinent schottet sich ab: mit einem nie dagewesenen System aus Zäunen, Radarüberwachung, Satellitenaufklärung, militärischen Sperrzonen, Kriegsschiffen, Polizei- und Grenzschutztruppen will Europa die Zuwanderung aus den verarmten Nachbarregionen verhindern. Die hochgerüstete »Flüchtlingsabwehr« nimmt immer mehr die Formen eines Krieges an – schon ist im Zusammenhang mit den Toten an den Außengrenzen von »Gefallenen« (FAZ) die Rede. Und das schaurige Wort vom »größten Massengrab Europas« in den Gewässern, die uns von Afrika trennen, wurde längst zum beiläufig gebrauchten Gemeinplatz.

Wie viele Menschen genau den Versuch der heimlichen Einreise mit dem Leben bezahlen, kann niemand sagen, denn die kleinen überfüllten Boote werden bei ihrer Abfahrt von keiner Hafenbehörde registriert – keine Passagierliste gibt Auskunft über die Identität der Reisenden auf ihrer gefährlichen Überfahrt. Einzig die holländische Menschenrechtsorganisation »United« zählt seit rund zehn Jahren all die Leichen der Erstickten, Ertrunkenen, Verdursteten vor unserer Haustüre. Auf dieser Liste sind derzeit rund 9.600 öffentlich bekannte (überwiegend aus Pressmeldungen) und bestätigte Todesfälle dokumentiert. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass rund die Hälfte der afrikanischen Migranten ihr Ziel nicht lebend erreichen. Nach Auskunft der spanischen Polizeigewerkschaft rechnen die Behörden auf den Kanaren allein für das vergangene Jahr mit 3000 Toten.

An anderen »Frontabschnitten« der EU-Aussengrenze werden ganze Familien in die Luft gesprengt: In den Minengürteln zwischen Griechenland (Europa) und der Türkei (Asien) sind nach Angaben der Vereinten Nationen in den letzten 4 Jahren mindestens 263 Menschen gestorben. Auch auf dem Wasser setzt Griechenland Maßstäbe bei dem, was auch in öffentlichen Regierungsverlautbarungen immer öfter mit dem Wort »Flüchtlingsabwehr« bezeichnet wird. Dort erreicht der heimliche Krieg gegen die unerwünschten Migranten einen Grad an Unmenschlichkeit, der sich mit den Folterpraktiken von Guantanamo und Abu Ghraib messen kann: Überlebende berichten von schwersten körperlichen Mißhandlungen bis hin zu Scheinhinrichtungen mit Schußwaffen, Untertauchen des Kopfes oder durch übergestülpte Plastiktüten. Allgemein wandelt sich die Küstenwache in den »Frontstaaten« (vor allem Spanien, Italien, Malta und Griechenland) immer mehr vom Garanten für einen sicheren Verkehr auf See zum Schrecken der Bootsflüchtlinge. Ihre Einheiten haben den Auftrag, potentielle »illegale Einwanderer« in ihren meist völlig seeuntauglichen Booten zu »stoppen und zur Umkehr zu bewegen«. Selbstverständlich soll dabei keine Gewalt angewendet werden! Was das im Einzelnen bedeutet, kann sich jeder leicht selbst vorstellen: Wenn die Verzweifelten in ihren Nußschalen, seekrank und kurz vor dem Verdursten, nach einer vielleicht 4- oder 5 tägigen (z.B. auf der Route Lybien-Malta) oder sogar mehrwöchigen (Senegal – Kanarische Inseln) Überfahrt endlich Land sehen, dann kommt ihnen ein Patrouillenboot entgegen, mit der höflich vorgetragenen »Bitte«, doch lieber wieder heimzufahren?

Ganz abgesehen von den völlig offenen Fragen, in welcher Sprache mit den Passagieren kommuniziert wird, ob diese überhaupt in der Lage sind (physisch und technisch) umzukehren, ob sie über ausreichend Trinkwasser verfügen und wie sich in den nächsten Tagen wohl das Wetter entwickeln wird ... abgesehen von alledem dürfte klar sein, dass Menschen, die auf einer derart langen, gefährlichen Reise einmal soweit gekommen sind, unter keinen Umständen dorthin zurück wollen, wo sie abgefahren sind. Damit wird deutlich, dass es ohne Gewaltanwendung keine realistische Möglichkeit geben wird, sie von der Durchführung ihres Vorhabens abzubringen.

Paramilitärische Verbände

In allen Küstenstaaten, die Zielländer von Bootsflüchtlingen sind, wurden deshalb paramilitärische Verbände aufgestellt, die dieses grausige Geschäft besorgen. In Griechenland sind es zum Beispiel 18 Sondereinsatz-Teams der Küstenwache, die – außerhalb des europäischen Rechtssystems und meist im Dunkel der Nacht – die »Drecksarbeit« machen: Boote jagen, abdrängen, zerstören und ihre Passagiere z.B. auf unbewohnten Felseninseln absetzen. Immer häufiger wird dabei auch scharf geschossen. Und im Frühjahr 2006 machte ein Vorfall kurzfristig Schlagzeilen, bei dem Beamte der griechischen Küstenwache nach Zeugenaussagen Flüchtlinge in türkischen Gewässern offensichtlich einfach ins Meer geworfen hatten – wobei mindestens 10 Menschen starben.

In anderen Regionen versucht man das Problem mit der unerwünschten Migration dadurch zu »lösen«, indem man die in Not geratenen Flüchtlinge schlichterdings ihrem Schicksal überläßt. Ein Beispiel aus diesem Frühjahr machte das besonders deutlich: Am 25. Mai 2007 kenterte rund 60 Meilen vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot. Die 27 Passagiere retteten sich an die Seile eines Thunfischfangbeckens, das im Moment des Schiffsbruchs von dem maltesischen Schlepper »Budafel« an ihnen vorübergezogen wurde. Der Kapitän meldete den Vorfall.

Der Reeder der »Budafel« lässt jedoch nicht zu, dass die Besatzung die Flüchtlinge an Bord nimmt, da er angeblich besorgt um seine empfindliche Ware ist (Thunfisch im Wert von rund 1 Million Euro!) und die »Budafel« keinen Platz für 27 Menschen habe. Und auch die Behörden in Malta winken ab: Sie seien nicht zuständig, man möge sich an die libysche Regierung wenden. Doch dort interessiert sich niemand für die Männer, die nun bereits seit 24 Stunden in Todesangst festgeklammert auf dem schwankenden Netz sitzen. Malta stellt wiederholt klar, man werde die Schiffbrüchigen »keinesfalls aufnehmen« und bittet stattdessen »andere Länder« der Europäischen Union, sich der Verzweifelten anzunehmen. Es dauert schließlich drei Tage und drei Nächte, ehe die 27 Männer von einem italienischen Kriegsschiff an Bord genommen- und nach Lampedusa gebracht werden. Dass sie ihre Tortur überlebten, während sich Bürokraten um die Verantwortung für die Gestrandeten stritten, darf getrost als Wunder bezeichnet werden.

Europas Schande

Diesem ungeheuerlichen Vorgang widmeten nur wenige europäische Medien ihre Aufmerksamkeit. Einzig die Londoner Tageszeitung »The Independent« druckte am 28. Mai 2007 über die gesamte Titelseite ein Foto der Schiffbrüchigen auf dem Thunfischbehälter. Unter der Schlagzeile  »Europe’s Shame« (»Europas Schande«) schrieb der Italien-Korrespondent des Independant, Peter Popham: » ...das sind die letzten Schnappschüsse aus dem mörderischen Mittelmeer, jener Wasserstraße vor den südlichen Toren der Europäischen Union, von denen der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge sagt, sie seien geworden ›wie der Wilde Westen, wo menschliches Leben keinen Wert mehr hat und Menschen ihrem Schicksal überlassen werden‹. Bis zu 10.000 Afrikaner haben wohl bisher den Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen, nicht überlebt. (...) Sie starben, nicht weil Hilfe unmöglich war, sondern weil niemand etwas tun wollte.«

Wie sehr der Independant mit dieser Analyse richtig lag, sollte sich nur zwei Wochen später zeigen. Beim Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg scheiterte Malta mit seinem Vorstoß, aus Seenot gerettete Flüchtlinge künftig auf alle 27 EU-Mitgliedsländer zu verteilen. Spanien, Italien, Frankreich aber auch kleinere Länder wandten sich gegen eine Regelung wie Malta sie wünscht: Dies würde nur noch mehr illegale Einwanderer anlocken, argumentierten sie. Auch der als Ratsvorsitzende amtierende deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble erteilte dem winzigen Inselstaat (Malta hat rund 400.000 Einwohner) eine klare Abfuhr – und ließ seinen maltesischen Amtskollegen Tonio Borg fassungslos zurück: »Ich finde es unglaublich, dass wir vor den Toren Europas eine so tragische Situation erleben und nicht genug dagegen getan wird«, sagte Borg am Ende des Treffens. »Doch wenn es keine europäische Regelung gibt, dann wird Malta keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, die außerhalb seiner Hoheitsgewässer gerettet wurden.« Fischtrawler oder Handelsschiffe werden nun erst recht um jedes Boot mit Schiffbrüchigen einen großen Bogen machen.

All diese Beispiele – und die Liste liesse sich beliebig verlängern – zeigen: An den EU-Außengrenzen wurde in den letzten Jahren ein Grenzregime errichtet, wie wir es uns brutaler nicht einmal in den Zeiten des kalten Krieges in Europa hätten ausmalen können. Die Einzelheiten werden vor der Öffentlichkeit allerdings weitgehend verborgen: So haben Journalisten z.B. in den zahllosen Abschiebelagern in und um Europa grundsätzlich keinen Zutritt – und auch die Einsatzbefehle der neuen europäischen Grenzschutz-Agentur »FRONTEX«, die von Warschau aus den Abwehr-Kampf organisieren soll, unterliegen höchster Geheimhaltung. Warum eigentlich?

Offenbar handelt es sich bei dem tausendfachen, anonymen Sterben an unseren Grenzen um ein Tabuthema, dem sich die politisch Verantwortlichen nicht stellen wollen. Stattdessen wiederholen sie bei jeder Gelegenheit  jenes Mantra, hinter dem sich die Abschottungspolitik gegenüber den verarmten Nachbarn seit jeher verschanzt: Europa, so die treuherzige Versicherung, tue schließlich alles, »um Armut und Arbeitslosigkeit auch in den Herkunftsländern zu bekämpfen« (EU-Innenkommissar Franco Frattini). Doch davon kann nun wirklich keine Rede sein.

Zerstörte Lebensgrundlagen

Denn in Wahrheit tut Europa vor allem vieles, was den Menschen Afrikas in schlechtester, kolonialistischer Manier die Lebensgrundlagen systematisch raubt: EU-Agrarsubventionen zerstören dort die heimischen Märkte, im Gegenzug verhindern hohe Zölle die Einfuhr afrikanischer Produkte nach Europa. Europäische Fangflotten fischen den Einheimischen buchstäblich den letzten Happen Eiweiß aus ihren Meeren. Unsere unermeßliche Gier nach Rohstoffen stürzt weite Teile des Nachbarkontinents ins Elend (Stichwort: »Ressourcen-Fluch«), ganz abgesehen von den Folgen des Klimawandels, den schließlich wir zu verantworten haben (Afrika ist an der Emission von Treibhausgasen mit nicht einmal 6 Prozent beteiligt) – doch vor allem die Einwohner der ärmsten Länder aushalten sollen. In den kommenden Jahrzehnten werden Millionen Afrikaner laut UN-Klimareport wegen der steigenden Temperaturen ohne Trinkwasser sein, weite Küstenregionen dagegen im Meer versinken. Es ist nicht im Ansatz zu erkennen, daß die reichen, entwickelten Industrienationen (das »Imperium der Schande«, wie der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, diese nennt), sich ihrer Verantwortung wirklich stellen wollen. Auch der UN-Umweltgipfel in Nairobi konnte – allen Appellen zum Trotz – kaum mehr als gestammelte Lippenbekenntnisse hervorbringen.

Doch die da in kleinen Booten versuchen, ihren Teil vom Reichtum der Welt (und sei es auch nur als illegale Arbeitssklaven) in Europa zu erhaschen, sind nur die Vorboten eines unausweichlichen globalen Wandels. »Botschafter der Ungerechtigkeit« nennt sie der katholische Pfarrer Herbert Leuninger, Mitbegründer von PRO ASYL und einer der zornigen alten Männer der deutschen Menschenrechtsbewegung. »Botschafter der Ungerechtigkeit.« – Das Wort sollten wir uns merken. Denn es macht deutlich, daß es bei dem verzweifelt-unbarmherzigen Versuch der Abschottung gegen Flüchtlinge möglicherweise nicht in erster Linie um ein paar tausend Zuwanderer mehr oder weniger geht. Als »Gefährlich« wird vor allem jene an uns adressierte Botschaft empfunden, die in jedem der überfüllten Holzkähne unsichtbar mitreist. Sie lautet: Ihr vertreibt uns aus unserer Heimat! Weil Politiker diese unbequeme Wahrheit dem geneigten Wahlvolk nicht zumuten wollen (sie müßte ja unmittelbare Konsequenzen nach sich ziehen), lassen sie vorläufig lieber weiter Menschen mit aller Härte »abwehren«.

Dieses »Massaker der großen Heuchelei« (so die französische Menschenrechtsorganisation migreurope) fordert immer mehr Opfer – und die Liste der offiziell registrierten Toten wird immer länger: 135 wurden im Mai 2007 bestätigt, im Juni waren es 154. Von den 217 Toten des Monats Juli wurden 79 im Kanal von Sizilien gezählt, und mindestens 98 auf den Kanarischen Inseln. 34 Menschen verdursteten in der Sahara auf dem Weg von Niger nach Libyen, 3 junge Männer erstickten in Italien in einem Lastwagen auf dem Weg nach Deutschland. 2 Menschen wurden von der marokkanischen Grenzpolizei erschossen, als sie sich in El Ayoun einschiffen wollen. Eine junge Frau starb in Calais auf der Flucht vor der Polizei. Mindestens 243 Immigranten sind im August bei der Seefahrt über das Mittelmeer nach Europa gestorben.

Elias Bierdel hat die Ereignisse in einem Buch niedergeschrieben (»Ende einer Rettungsfahrt – das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur, Verlag Ralf Liebe 2006). Im Frühjahr 2007 gründete er gemeinsam mit Judith Gleitze, Harald Gloede und anderen die Organisation »borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.«, die sich speziell mit den tödlichen Folgen der Abschottung an den EU-Auflengrenzen auseinandersetzt.

www.borderline-europe.de

Exkurs:
Nach der Rettung von 37 schiffbrüchigen Afrikanern vor Lampedusa im Juni 2004 verweigerten die italienischen Behörden dem deutschen Rettungsschiff Cap Anamur im letzten Moment die zuvor genehmigte Einreise. Marineeinheiten, Zoll und Küstenwache blockierten elf Tage lang ohne Angabe von Gründen die Cap Anamur – bis die Geretteten schließlich, zermürbt von Einschüchterungsgesten und der langen Wartezeit auf See, damit drohten, sich ins Meer zu stürzen. Unter Berufung auf das internationale Seerecht verlangte der Kapitän am 11. Juli 2004 ultimativ die Genehmigung zur Einfahrt in den Hafen Porto Empedocle. Kaum angekommen, wurden die Schiffbrüchigen ohne Chance auf ein Asylverfahren nach Nigeria und Ghana deportiert – das Rettungsschiff beschlagnahmt, Teile der Besatzung verhaftet.

Seit dem 27. November 2006 stehen Elias Bierdel (ehem. Vorsitzender des Komitees Cap Anamur), Stefan Schmidt (Kapitän der Cap Anamur) und der erste Offizier Vladimir Daschkewitsch in Agrigento/Sizilien vor Gericht. Die Anklage wirft ihnen »Beihilfe zur illegalen Einreise in einem besonders schweren Fall, in Form organisierter Kriminalität« vor. Das Strafmaß beträgt zwölf Jahre Haft. Vor derselben Kammer müssen sich derzeit auch sieben tunesische Fischer verantwoten, die am 8. August – ebenfalls vor Lampedusa – 44 Menschen vor dem ertrinken gerettet hatten.